Kriegsdienstverweigerung ist Menschenrecht Osman Murat Ülke für Zivilcourage ausgezeichnet

von Sven Hessmann
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( c ) Netzwerk Friedenskooperative

Am 3. März 2007 werden die Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW) in der Französischen Friedrichstadtkirche am Berliner Gendarmenmarkt feierlich ihre Clara-Immerwahr-Auszeichnung verleihen. Leider wird der Festakt im schönen Gorges-Casalis-Saal einen Makel haben: Der Ausgezeichnete wird nicht da sein. Osman Murat Ülke, Menschenrechtler und Kriegsdienstverweigerer in der Türkei, kann seine Heimat nicht verlassen. Dabei existiert er dort offiziell gar nicht.

Der Schlüssel zu diesem Rätsel liegt im Jahr 1995, als der 25jährige Osman Murat Ülke öffentlich seine Kriegsdienstverweigerung erklärt und seinen Wehrpass verbrennt. Er ist damit einer der ersten Verweigerer in der Geschichte der Türkei. Dort gibt es kein Recht auf Kriegsdienstverweigerung. In einem Land, in dem das Militär im öffentlichen Leben wie in der Politik eine zentrale Rolle spielt und jeder Mann solange wehrpflichtig ist, bis er einen mehrmonatigen Kriegsdienst abgeleistet hat, schien das Konzept "Kriegsdienstverweigerung" nicht einmal gedanklich zu existieren. "Wir wollten den allgegenwärtigen Militarismus mit gewaltfreien Methoden des zivilen Ungehorsams in Frage stellen", sagt Ülke rückblickend. Über drei Jahre lang hatten er und zwei Freunde diese öffentliche Kriegsdienstverweigerung vorbereitet. Sie hatten extra den Verein der Izmirer KriegsgegnerInnen mitgegründet und sich international vernetzt. Seitdem sie sich für eine öffentliche Kriegsdienstverweigerung entschieden hatten, wissen sie, dass sie einen gefährlichen Weg betreten haben.

Es dauert allerdings ein Jahr, bis Ülke aufgrund von Befehlsverweigerung bzw. Fahnenflucht eingesperrt wird. Nach seiner Entlassung erhält Ülke die Aufforderung, sich zum Wehrdienst zu melden. Er lässt die Termine verstreichen und nutzt die Verhandlung vor dem Militärgericht ebenso wie seine Verurteilung, um die Öffentlichkeit auf den Umgang der türkischen Regierung mit Kriegsdienstverweigerern aufmerksam zu machen.

Nach erneuter Haft und Entlassung wird Ülke wieder aufgefordert, sich zum Wehrdienst zu melden. Ülke lässt den Termin verstreichen und das Spiel beginnt von neuem. Nur, dass es alles andere als ein Spiel ist: In den darauffolgenden Jahren wird Ülke mehrmals, insgesamt 701 Tage, inhaftiert. 2006 verurteilt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die türkische Regierung wegen unverhältnismäßiger Strafverfolgung im Fall Ülke. Die Türkei muss dem Geschädigten 11000 Euro Entschädigung zahlen. Trotzdem bleibt das Urteil ohne Folgen: Ülke gilt noch heute als Deserteur und könnte jederzeit verhaftet werden. Der 36jährige Familienvater kann keinen Pass beantragen, kein Konto eröffnen und keine Arbeit annehmen, solange er den Kriegsdienst verweigert. Ein Leben im Abseits, das vom Europäischen Gerichtshof mit einem "zivilen Tod" verglichen wurde. Im März 2007 will Ülke in einer Petition die türkische Regierung auffordern, das Urteil des Europäischen Gerichtshofes umzusetzen und sich endlich mit den Kriegsdienstverweigerern zu befassen. Die direkte Konfrontation mit Staat und Militär führen mittlerweile andere Kriegsdienstverweigerer weiter: Mehmet Tarhan, Mehmet Bal und Halil Savda.

Seit 1991 verleiht die IPPNW die Clara-Immerwahr-Auszeichnung an Menschen, die sich trotz persönlicher Nachteile gegen Krieg, Rüstung und für Menschenrechte einsetzen. Zuletzt wurde die Auszeichnung an Christa Lörcher verliehen, die 2001 als einzige SPD-Abgeordnete gegen den Einsatz deutscher Soldaten in Afghanistan stimmte und daraufhin aus der SPD-Fraktion austreten musste. Benannt ist die Auszeichnung nach der Chemikerin Clara Immerwahr, die sich mit großem persönlichen Einsatz gegen die Arbeit ihres Ehemannes Fritz Haber stellte, der die Entwicklung und Anwendung von Giftgas im Ersten Weltkrieg vorantrieb.

Mit der Preisverleihung an Osman Murat Ülke will die IPPNW nicht die Situation in einem anderen Land kritisieren. Es geht vielmehr darum, dass das Recht auf Kriegsdienstverweigerung universales Menschenrecht ist. Ülke folgt ungeachtet massiver persönlicher Nachteile seinem Gewissen. Sein Einsatz fordert die Menschen auf, sich niemals mit Kompromissen zufrieden zu geben, wenn es um Menschenrechte geht. Damit steht er in einer Reihe mit den bisherigen Trägerinnen und Trägern der Clara-Immerwahr-Auszeichnung. Bei der Feierstunde in Berlin wird seine Würdigung stellvertretend von Coskun Üsterci von der Menschenrechtsstiftung entgegengenommen. Eine Woche später wird eine Gruppe von IPPNW-Mitgliedern in die Türkei reisen und Osman Murat Ülke die Auszeichnung persönlich überreichen.

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Sven Hessmann ist Pressereferent der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW).