Europäische Verteidigungsunion

Mit von der Leyen zu neuen Militarisierungsufern

von Özlem Demirel (MdEP Die Linke)
Schwerpunkt
Schwerpunkt

Von seinen ersten Anfängen an war der Weg zur europäischen Einigung begleitet durch Bestrebungen zu ihrer Militarisierung. Bei Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl 1952 sah der so genannte Pleven-Plan eine „Europäische Verteidigungsgemeinschaft“ (EVG) und die Schaffung einer europäischen Armee vor. Das Vorhaben scheiterte damals noch an der ablehnenden Haltung der französischen Nationalversammlung, die einen übermächtigen Einfluss eines wiedererstarkenden Deutschlands fürchtete. Damit hatten sich derartige Bemühungen für längere Zeit zerschlagen, die NATO übernahm unter US-Führung für Jahrzehnte völlig unangefochten den militärischen Part. Schon seit dem Ende des Kalten Krieges, besonders aber seit 2016 ist aber eine europäische Militarisierungsspirale in Gang gesetzt worden, die sich aller Voraussicht nach unter der neuen Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen weiter beschleunigen dürfte.

Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion verändert sich auch die Rolle der EU. Der Ruf hochrangiger PolitikerInnen, die Europäische Union müsse zu einem auch militärischen „Globalen Akteur“ werden, ist schon seit den frühen 1990ern vielfach zu hören. Dem Beschluss im Jahr 1999, eine Schnelle Eingreiftruppe im Umfang von 60.000 SoldatInnen aufzubauen, folgten erste Einsätze im Jahr 2003. Danach geriet dieser Militarisierungsprozess aber aufgrund der immer skeptischeren Haltung Großbritanniens ins Stocken.

Seit dem Austrittsreferendum im Juni 2016 hat sich Großbritannien aber von seiner Blockaderolle verabschiedet. Unmittelbar darauf wurde eine neue „EU-Globalstrategie“ (EUGS) gebilligt. Als – notfalls militärisch durchzusetzende – Interessen wurden darin unter anderem ein „offenes und faires Wirtschaftssystem“ sowie der „Zugang zu den natürlichen Ressourcen“ genannt. Auch aufgeführt werden „geschützte Wege auf Ozeanen und Meeren, die für den Handel von entscheidender Bedeutung sind“. Als mögliche Einsatzgebiete führt die EUGS die Länder östlich bis „Zentralasien“, südlich bis „Zentralafrika“ und zur See ist die Rede vom „Indischen Ozean“, dem „Mittelmeer“, dem „Golf von Guinea“ und sogar dem „Südchinesischen Meer“ und der „Straße von Malakka“.

Generell geht es der EUGS als Hauptziel darum, „Strategische Autonomie“ zu erlangen. Darunter wird die Fähigkeit verstanden, politisch, operativ und industriell unabhängig von den USA (oder gar von Russland oder China) handlungsfähig zu sein. Um die Entscheidungsstrukturen zu „verbessern“, wird auf der politischen Ebene über die Einführung von Mehrheitsentscheidungen und die Einrichtung eines EU-Sicherheitsrates mitsamt Vetorecht und ständiger Mitgliedschaft für die großen EU-Staaten diskutiert. Bereits einen  Schritt weiter ist die operative Ebene, wo im Juni 2017 ein „Militärische Planungs- und Führungsfähigkeit“ (MPCC) genanntes ständiges EU-Hauptquartier zur Planung und Durchführung von Militäreinsätzen eingerichtet wurde.

Und schließlich gab die EUGS auf der industriellen Ebene die Devise aus, es gelte „militärische Spitzenfähigkeiten“ mitsamt entsprechender industrieller Kapazitäten aufzubauen: „Eine tragfähige, innovative und wettbewerbsfähige europäische Verteidigungsindustrie ist von wesentlicher Bedeutung für die strategische Autonomie Europas und eine glaubwürdige GSVP.“ Zu diesem Zweck wurden in jüngster Zeit insbesondere die „Ständige Strukturierte Zusammenarbeit“ (engl. „PESCO“) sowie der „Europäische Verteidigungsfonds“ (EVF) ins Leben gerufen.

PESCO und EVF
Rechtsgrundlage der im Dezember 2017 aktivierten PESCO sind die Artikel 42 und 46 (plus Protokoll 10) des seit 1. Dezember 2009 gültigen „Vertrags von Lissabon“. Das Kernstück: Künftig sollen die teilnehmenden Staaten möglichst eine gemeinsame öffentliche Ausschreibung veröffentlichen und einen gebündelten Auftrag vergeben, um so zu europaweiten Militär- und Rüstungsprojekten zu gelangen. Dies wiederum soll Konzentrationsprozesse und damit die Herausbildung eines rüstungsindustriellen Komplexes fördern.
Um dies auf den Weg zu bringen, wird auf eine geschickte Politik von Anreiz und Erpressung gesetzt, mit der es gelungen ist, 25 der bislang noch 28 EU-Staaten zur Teilnahme zu bewegen. Innerhalb der PESCO sollen künftig alle wesentlichen EU-Militärprojekte angebahnt werden, was ein wesentlicher Grund dafür war, dass sich viele Länder trotz weitverbreiteter Skepsis dem vor allem von Deutschland und Frankreich vorangetriebenen Projekt anschlossen.

Diese Teilnahme hat allerdings ihren Preis: Alle PESCO-Länder mussten sich im Gegenzug bereiterklären, künftig 20 Rüstungskriterien zu erfüllen, die von der regelmäßigen Erhöhung der Rüstungsausgaben über die Bereitstellung von Truppenverbänden bis hin zur Beteiligung an strategischen Rüstungsgroßprojekten reichen. Die Einhaltung dieser Kriterien wird regelmäßig überprüft, und weil innerhalb der PESCO auch das Konsensprinzip an zentralen Stellen aufgeweicht wurde, ist es bei „Fehlverhalten“ nun auch möglich, Länder mit einem Mehrheitsbeschluss aus der PESCO wieder hinauszuwerfen.

Im März und November 2018 sowie im November 2019 wurden in drei Runden inzwischen 47 PE-SCO-Projekte verabschiedet. Darunter finden sich eher harmlos klingende Vorhaben wie der Aufbau eines gemeinsamen Sanitätskommandos, aber auch ganz handfeste Rüstungsprojekte wie der Bau eines Infanteriefahrzeugs. Der bislang dickste Fisch ist die Überführung des Baus der waffenfähigen Eurodrohne in die PESCO. Perspektivisch sollen auch die geplanten deutsch-französischen Großprojekte Kampfflugzeug (geschätztes Gesamtvolumen 500 Mrd. Euro) und Kampfpanzer (100 Mrd. Euro) folgen.

Um die Realisierungschancen dieser Großvorhaben zu „verbessern“, wurde eine Art EU-Rüstungshaushalt geschaffen, aus dem bevorzugt PESCO-Projekte bezuschusst werden sollen. Für diesen EU-Verteidigungsfonds sind zwischen 2021 und 2027 13 Milliarden Euro für die Erforschung und Entwicklung europaweiter Rüstungsprojekte im EU-Haushalt vorgesehen (über nationale Ko-Finanzierungen kann sich dieser Betrag auf bis zu 48,6 Mrd. Euro erhöhen). Da die Verwendung des EU-Haushaltes für Maßnahmen mit militärischen Bezügen laut EU-Vertrag – eigentlich – verboten ist, ist es überaus fraglich, ob der Fonds überhaupt rechtskonform ist. Zu diesem Ergebnis gelangte auch ein von der LINKEN im Europaparlament beauftragtes Gutachten des Juraprofessors Andreas Fischer-Lescano. Dennoch wurden bereits Nägel mit Köpfen gemacht, indem über einen abgekürzt EDIDP genannten abgespeckten EVF-Vorläufer im März 2019 die ersten 525 Millionen Euro u.a. zur Finanzierung einer waffenfähigen Eurodrohne ausgeschüttet wurden.

Dies alles focht das alte EU-Parlament jedenfalls nicht an, den EVF-Verordnungsvorschlag der EU-Kommission am 18. April 2019 mit nur minimalen Änderungen mehrheitlich durchzuwinken (bei 328 Ja-Stimmen, 231 Nein-Stimmen und 19 Enthaltungen). Wird dann auch noch der gesamte Haushalt 2021 bis 2027 vom Parlament abgesegnet, hat es danach faktisch keine Einflussmöglichkeiten mehr auf die Vergabe der EVF-Gelder. Dem Parlament würde danach nur noch das „Recht“ bleiben, regelmäßig darüber informiert zu werden, wofür die Gelder verwendet wurden.

Missbrauch und Lobby würden damit Tür und Tor geöffnet – das war aber ohnehin von Anfang an der Fall: Schließlich stammen wichtige EVF-Vorarbeiten von einer 16-köpfigen „Hochrangigen Gruppe“, die im Juli 2015 auf Einladung der damaligen EU-Industriekommissarin Elżbieta Bieńkowska zusammenkam. Sie bestand fast ausschließlich aus IndustrievertreterInnen und MilitärpolitikerInnen, deren Vorschläge am Ende mit in den Verordnungsvorschlag für den Europäischen Verteidi-gungsfonds einflossen.

Doch damit nicht genug: Zusätzlich zum Verteidigungsfonds beinhaltet der Haushaltsvorschlag der Kommission noch 6,5 Mrd. für „Militärische Mobilität“ zur schnelleren Verlegefähigkeit von Truppen nach Osteuropa. Außerdem soll es künftig eine „Europäische Friedensfazilität“ geben, bei der es sich um ein besonders trickreiches Konstrukt handelt: Da nämlich Militäreinsätze tatsächlich so ziemlich das einzige zu sein scheinen, das künftig nicht aus dem EU-Haushalt bezahlt werden soll, handelt es sich hier um einen außerhalb des EU-Budgets angesiedelten Fonds, der sich aus einzelstaatlichen Beiträgen zusammensetzt. Er ist aber mit einer Laufzeit von ebenfalls 2021 bis 2027 mit dem EU-Haushalt synchronisiert und soll in diesem Zeitraum mit 10,5 Mrd. Euro befüllt sein. Finanziert werden sollen damit 35% bis 40% der Kosten für Militäreinsätze der EU und Militäreinsätze verbündeter Staaten sowie die Ausbildung und Aufrüstung verbündeter Armeen. Und einzahlen sollen in den Topf alle Staaten, unabhängig davon, ob sie sich an einem Militäreinsatz beteiligen wollen oder nicht.

Ausblick: Leyen-Kommission und DG Defense
Die Fundamente sind gelegt: Kommissionspräsidentin von der Leyen gab sich schon vor einiger Zeit optimistisch, dass es gelingen werde, 2020 unter deutscher Ratspräsidentschaft „Richtfest“ für eine Europäische Verteidigungsunion feiern zu können. Was sich in Wahrheit dahinter verbirgt und welch zentrale Rolle hier die neue EU-Kommissionspräsidentin spielt, wurde beim großen Zapfenstreich zu von der Leyens Abschied als Verteidigungsministerin deutlich. Dort hielt ihre Nachfolgerin Annegret Kramp-Karrenbauer die Abschiedsrede, in der sie voll des Lobes von der Leyens Verdienste um die europäische Militarisierungssache hervorhob: „Europa, die Europäische Einigung – da verrate ich hier kein Geheimnis mehr – das ist Dein Herzensthema. […] Du hast in einer für Europa sehr schwierigen Phase die europäische Einigung vorangebracht. Du hast die Initiative zu mehr Zusammenarbeit, mehr Miteinander im Bereich der Verteidigung ergriffen. Du hast die PESCO aus dem Dornröschenschlaf erweckt. […] Dafür steht die Rüstungskooperation allen voran mit Frankreich, um Kampfflugzeug und Kampfpanzer der Zukunft zu entwickeln. Dafür steht der Einstieg in die Europäische Verteidigungsunion.“

Und tatsächlich: Noch vor ihrem Amtsantritt stellte von der Leyen die Weichen auf Krieg, indem sie schon am 10. September 2019 die Einrichtung einer eigens militärischen Fragen gewidmeten „Generaldirektion Verteidigungsindustrie und Weltraum“ (DG Defense) ankündigte. Da diese Ge-neraldirektionen grob gesagt vergleichbar mit Ministerien auf nationaler Ebene sind, handelt es sich hier um den institutionalisierten Ausdruck der Militarisierung Europas.

Der DG Defense soll künftig die Aufgabe zufallen, einen Rüstungsmarkt und infolge dessen einen europäischen Rüstungskomplex zu schaffen, unter anderem, indem ihr die Kontrolle über den EVF an die Hand gegeben wird. Die Generaldirektion wird auch die Verantwortung für die Implementierung des „Aktionsplans Militärische Mobilität“ vom März 2018 innehaben. Ob sie oder die „Generaldirektion Transport und Verkehr“ (DG MOVE) die hierfür im nächsten EU-Haushalt vorgesehenen 6,5 Mrd. Euro verwalten wird, ist gegenwärtig allerdings noch offen. Und schließlich werden künftig auch die großen militärisch relevanten EU-Weltraumprogramme, für die im nächsten EU-Haushalt 16 Mrd. Euro vorgesehen sind, in den Zuständigkeitsbereich der DG Defense fallen. Dazu gehören vor allem das Satellitennavigationssystem Galileo (9,7 Mrd.) und das Geoinformationssystem Copernicus (5,8 Mrd.), die in Zeiten zunehmender Digitalisierung zentrale Bausteine für den Anspruch auf autonome Kriegsführung darstellen.

Am Geld wird es also wohl leider nicht scheitern, um die hochtrabenden Pläne einer Verteidigungs- bzw. Rüstungsunion in den nächsten Jahren weiter zu forcieren. Umso wichtiger wird es deshalb sein, politisch dagegen stärker Widerstand zu leisten!

Ausgabe

Rubrik

Schwerpunkt
Özlem Demirel ist Mitglied des Europäischen Parlaments für die Partei Die Linke