Zur aktuellen Flüchtlingspolitik in Europa

Moria - der Skandal soll zur Regel werden

von Mia Lindemann
Im Blickpunkt
Im Blickpunkt
( c ) Netzwerk Friedenskooperative

Der Brand des Lagers Moria wirkte wie ein Fanal: 12.600 schutzsuchende Menschen, die widerrechtlich auf der Insel Lesbos unter menschenunwürdigen Bedingungen festgehalten werden, suchen sich zu befreien. Doch der Wille Europas, den Kontinent abzuschotten und Menschen auf der Suche nach einem schützenden Ort abzuschrecken, ist stärker als seine humanitären Regungen.  

In der Nacht vom 8. auf den 9. September brannte das Flüchtlingslager Moria nieder. Rund 12.600 Menschen schliefen in dem eigentlichen Lager, das nur für 2.800 Menschen geplant ist, und im „wilden“ Lager daneben, darunter 4.000 Kinder. Etwa ein Dutzend kleiner Brände sollen im Umkreis des Lagers gelegt worden sein, starker Nordwind habe die Flammen angefacht, so dass sie schnell auf Zelte und Wohncontainer übergriffen. (1)

Die Menschen flohen aus dem Lager, manche konnten noch schnell etwas packen und mitnehmen, andere kamen mit dem nackten Leben davon. Sie suchten Schutz in den Olivenhainen, versuchten, zur Stadt Mytilene zu laufen und wurden von der Polizei unter Anwendung von Gewalt zurückgehalten. Hunderte kampierten auf der Straße.

Die griechische Regierung schickte Polizei und Militär auf die Insel, ein Teil der Einheimischen baute Barrikaden gegen die Geflüchteten. Die griechische Regierung versuchte – sogar unter Einsatz von Tränengas gegen Kinder – die Geflüchteten in ein neues Lager zu zwängen, gegen den ausdrücklichen Willen vieler.

Nach wie vor ist nicht geklärt, ob die Brände von Rechten gelegt wurden, die auch in der Vergangenheit schon Brände gelegt hatten, oder ob es Geflüchtete waren. Die europäische Politik war sich jedenfalls sofort einig: Die Brände seien von den Flüchtlingen gelegt worden, das dürfe nicht damit belohnt werden, dass man die Flüchtlinge nun auf das Festland kommen lasse. Nachahmung und Pull-Effekt waren die Argumente.

Dem ging voraus, was wir alle in den Zeitungen lesen konnten: Menschen auf der Flucht saßen monate-, jahrelang mit ihren Familien in Moria (und anderen Lagern auf den Ägäis-Inseln) fest. Die Versorgung und Infrastruktur war völlig unzureichend, die Menschen lebten am Rande Europas im Elend. Die Durchführung der Verfahren dauerte viel zu lange; nur besonders Schutzbedürftige durften die Insel verlassen. (2) Der EU-Türkei-Deal (2016) sorgte vor allem dafür, dass die Lager auf den griechischen Inseln immer größer wurden, weil man die Menschen nicht auf das Festland ließ. Selbst anerkannte Flüchtlinge saßen teilweise fest.

Seit ca. fünf Monaten hatte man wegen der Corona-Krise Ausgangsbeschränkungen über das Lager Moria verhängt, obwohl anfangs keine Corona-Erkrankungen dort bekannt waren. Als jetzt Corona tatsächlich ausbrach, wurde ein Lockdown verhängt, der zu Widerstand im Lager führte.

Die europäischen Regierungen zeigten sich hart mit dem Argument, eine europäische Lösung müsse her. 10 Länder wollten 400 Flüchtlinge aufnehmen, die deutsche Regierung zunächst lediglich 100-150 unbegleitete Minderjährige, zu deren Aufnahme sie sich ohnehin schon verpflichtet hatte. Auf den großen Protest der Zivilgesellschaft, aber auch der SPD und der Opposition hin, entschied sie sich schließlich, ca. 1500 anerkannte Flüchtlinge aufzunehmen. Dabei wäre mit der Aufnahme aller 12.600 Geflüchteten aus Moria nicht einmal Seehofers Obergrenze von 180-220.000 pro Jahr erreicht. (Bis Ende August sind 55.000 Asylanträge in der Bundesrepublik gemeldet.) (3)

Die europäische Lösung besteht schon immer darin, die Schutzsuchenden außen vor zu lassen, und wenn sie hereinkommen, auf ihre Abschiebung zu dringen. Die neuen Vorschläge der EU-Kommission, die Kommissionspräsidentin von der Leyen am 23. September in Brüssel vorstellte, zeigen, was man sich unter der europäischen Lösung nun vorzustellen hat: Die Dublin-Regelung lebt fort, entlang der Außengrenzen der EU sollen noch viel mehr Hotspots à la Moria entstehen, in denen die Entrechtung der Menschen fortgesetzt werden soll: Inhaftierung von Schutzsuchenden, Schnellverfahren ohne Rechtshilfemöglichkeit für Menschen, die aus Ländern mit niedrigen Anerkennungsquoten kommen, effizientere Durchführung der Abschiebungen, „Abschiebepatenschaften“ – zynischer geht’s nicht.

Wir fordern die Evakuierung der Lager und die Aufnahme der Schutzsuchenden in Europa sowie die Beseitigung der Fluchtursachen: Nein zum Waffenexport, Frieden statt Kriege fördern! Nein zur Unterstützung der türkischen Militäroperationen in Syrien, nein zur Unterstützung der Warlords in Libyen, nein zur aggressiven Exportpolitik, die vielen Menschen im Süden ihrer Existenzgrundlage beraubt.

Anmerkungen
1 Frankfurter Rundschau (FR) vom 10.9.2020
2 Karl Kopp, Das Versagen europäischer Flüchtlingspolitik, in: Pro Asyl, Rettet das Recht auf Asyl! (2018)
3 Frankfurter Rundschau vom 14.9.2020 (Leitartikel „Humanität wagen“ von Stephan Hebel)

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Mia Lindemann ist Mitglied im Asylarbeitskreis, in der „Seebrücke“ und Solidarity-City Heidelberg.