Israel-Palästina

Nahost-Krieg 2014 - Bilanz und Ausblick

von Clemens Ronnefeldt

Insgesamt kamen nach Angaben des palästinensischen Gesundheitsministeriums mehr als 1860 Menschen ums Leben, rund 10 000 wurden verletzt. Auf israelischer Seite starben 64 Soldaten und drei Zivilisten. Rund 100 verletzte Soldaten werden noch in Krankenhäusern behandelt (1).

Alain Gresh, Chefredakteur von "Le Monde Diplomatique", schrieb unter der Überschrift "Scheitern als Prinzip. Wie Israel die Friedensgespräche mit den Palästinensern zur Farce macht" (LMD, Juni 2014): "Die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) akzeptierte zahlreiche Einschränkungen der Rechte, die ein unabhängiger Staat besitzt: die Entmilitarisierung des zukünftigen palästinensischen Staats und die Präsenz israelischer Soldaten am Jordan, die nach fünf Jahren durch US-Truppen abgelöst werden sollten. Sie willigte zudem ein, dass die Siedlungen in Jerusalem unter israelische Kontrolle gestellt werden, und akzeptierte einen Austausch von Territorien, mit dem 80 Prozent der Siedlungen im  Westjordanland in den israelischen Staat integriert würden. Schließlich sollte die Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge der Einwilligung Israels bedürfen. Kein anderer palästinensischer Führer hat jemals so viele Zugeständnisse gemacht wie Mahmud Abbas. Und es ist sehr unwahrscheinlich, dass sich in Zukunft jemand finden wird, der diese harten Bedingungen akzeptiert." (2)

Diese Bereitschaft des palästinensischen Präsidenten war vermutlich der Grund, warum US-Außenminister John Kerry die israelische Regierung, die bei einem Eingehen auf diese Vorschläge wahrscheinlich zerbrochen wäre, für das Scheitern der diesjährigen Friedensverhandlungen verantwortlich machte.

Zur unmittelbaren Vorphase der Krieges
Bettina Marx, Redakteurin im Hauptstadtstudio der Deutschen Welle, derzeit Korrespondentin im ARD-Hörfunkstudio Tel Aviv, schrieb: "Alles begann mit der Vereidigung der neu geschaffenen palästinensischen Einheitsregierung am 2. Juni 2014. Sie sollte die jahrelange blutige Fehde zwischen Fatah und Hamas beenden und den palästinensischen Kampf um Selbstbestimmung stärken. Zu Israels Entsetzen signalisierten die USA und Europa ihre Bereitschaft, mit der aus Experten bestehenden Regierung zusammenzuarbeiten.

Als zehn Tage später in der Nähe von Hebron im besetzten Westjordanland drei jüdische Religionsschüler entführt wurden, sah Jerusalem seine Chance gekommen, die neue Regierung zu zerschlagen. Obwohl die israelischen Sicherheitskräfte von vornherein Anhaltspunkte dafür hatten, dass die Teenager unmittelbar nach ihrer Entführung getötet worden waren, verbreitete die Regierung die Version, die Jugendlichen seien noch am Leben und zu retten. Um sie zu finden, wurde eine großangelegte Suchaktion durchgeführt. Dabei wurden Hunderte von Hamas-Mitgliedern verhaftet, die Häuser der mutmaßlichen Attentäter zerstört und Razzien durchgeführt. Das Ziel war es, die Strukturen der Hamas im Westjordanland zu zerschlagen und damit die Regierung der nationalen Einheit zu torpedieren.

Auch die Hamas im Gazastreifen wurde angegriffen. Am 29. Juni wurde ein Mitglied der Organisation durch einen Luftschlag getötet. Am nächsten Tag feuerte die Hamas Raketen auf Israel ab, die ersten seit der Waffenruhe von 2012. Damit war die Zeit der Ruhe an der Grenze zum Gazastreifen vorüber, die Gewalt eskalierte. (...) Die Mehrheit der heutigen Bewohner des Gazastreifens ist unter 18 Jahre alt und hat die Hamas nicht gewählt. Trotzdem werden diese Menschen von Israel und der Welt zu einem Leben in Armut und Enge, in Not und Verzweiflung verurteilt. Und solange das nicht geändert wird, kommt der Nahe Osten nicht zur Ruhe." (3)

Razzien im Westjordanland
Während der Razzien im Westjordanland zur Zerstörung der Hamas-Infrastruktur kam es zu zahlreichen Übergriffen israelischer SoldatInnen, die mit der Suche nach den Mördern der drei getöteten israelischen Jugendlichen nichts zu tun hatten:

"Die Untersuchung von Euro-Mid dokumentiert den Diebstahl auf 370 000 Dollar (cash), beschlagnahmtes Eigentum im Werte von 2,5 Mio. Dollar (Autos, Computer, Mobile Phones, Schmuck usw.), die gestohlen und konfisziert wurden, während 387 Mal in Häuser eingedrungen wurde. Das Geld und das Eigentum wurden in Universitäten, Kliniken, Medienorganisationen und Wechselstuben gestohlen. Die Verluste sind wahrscheinlich noch viel höher, weil Euro-Mid längst nicht alles gemeldet wurde. Hier liegt ein klarer Verstoß der Artikel 27 und 33 der Vierten Genfer Konvention vor, die Plündern und Vergeltungsmaßnahmen gegen Zivilisten und ihr Eigentum verbietet" (4).

Eine gemeinsame Forderungsliste der Palästinenserfraktionen
Oliver Eberhard fasste die Forderungen der palästinensischen Seite im Zusammenhang der Gespräche über einen Waffenstillstand folgendermaßen zusammen: "Fatah, Hamas und Islamischer Dschihad [legten] eine gemeinsame Forderungsliste vor, die von den ursprünglichen Forderungen der Hamas abweicht. So soll es einen sofortigen Waffenstillstand geben, die Grenzen geöffnet werden, das Schalit-Abkommen reaktiviert werden und alle im Gegenzug für den Soldaten Gilad Schalit freigelassenen, und im Juni wieder festgesetzten Gefangenen frei gelassen werden. Außerdem soll der Flughafen von Gaza wieder geöffnet und ein Hafen gebaut werden. 

Eine Sicherheitszone soll es nicht geben, die Fischereizone auf zwölf nautische Meilen ausgeweitet werden. Die Palästinensische Autonomiebehörde soll Finanzhilfen für den Wiederaufbau verwalten, eine internationale Geberkonferenz abgehalten werden. Zudem soll die vierte Phase der Gefangenenfreilassung, die im Frühjahr zum Ende der Friedensgespräche nicht ausgeführt wurde, durchgeführt werden. Israels Regierung soll außerdem gegen Siedlergewalt im Westjordanland vorgehen, und die nach dem 12. Juni 2014 gefangen genommenen Palästinenser frei lassen.

Das Besondere dabei ist ..., dass der Krieg damit auf dem Papier zum gesamtpalästinensischen Krieg wird und Hauptansprechpartner nun Präsident Abbas ist." (5)

Die Regierungen Deutschlands, Frankreichs und Großbritanniens haben Vertretern Israels, der Palästinenser und der Ägypter zu Beginn ihrer Gespräche über eine dauerhafte Waffenruhe für den Gazastreifen vorgeschlagen, die 2007 gestoppte EU-Grenzmission Eubam am Grenzübergang Rafah zu reaktivieren. Außerdem könnte nach einer Einigung über eine Waffenruhe eine vom UN-Sicherheitsrat beschlossene Monitoring-Gruppe im Gazastreifen stationiert werden. Diese könnte überprüfen, ob ein neuerlicher Waffenschmuggel tatsächlich verhindert wird. Auch könnte sie beobachten, ob im Gegenzug durch eine allmähliche Öffnung der Grenzen ein Wiederaufbau des Landstreifens und eine Verbesserung der Lebenssituation der knapp zwei Millionen Menschen dort eintritt (6).

Um dies umzusetzen, sollen die Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) und Präsident Abbas die Hamas als Ordnungsmacht im Gazastreifen ablösen - was für die mit dem Rücken zur Wand stehende Hamas eine schwere Entscheidung darstellt.

Die israelische Regierung möchte die Verantwortung für den Wiederaufbau und die Kontrolle des Gazastreifens gerne der EU zuschieben.

Wende?
Muriel Asseburg von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) schrieb bereits vor dem Sommerkrieg 2014: "Es ist zu erwarten, dass auch ein erneuter Anlauf bei den Verhandlungen nicht zu einer Zweistaatenregelung führt. Damit wird die Einstaatenrealität weiter verfestigt. Deutschland und seine europäischen Partner sollten den Alternativen ins Auge sehen: Entweder muss auf Basis klarer internationaler Vorgaben robust verhandelt werden, um doch noch eine Zweistaatlichkeit zu erreichen. Oder es muss ein Umgang mit der Einstaatenrealität gefunden werden, der aber weder völkerrechtswidriges Handeln noch das Recht des Stärkeren einfach hinnimmt. (...) In Israel lehnt der weitaus größte Teil der Bevölkerung eine Einstaatenregelung ab. Dieser Ansatz dürfte daher schwer zur einvernehmlichen Konfliktregelung taugen. In jedem Fall müssten die in Oslo vereinbarte Arbeitsteilung zwischen Israel und der PA und die darauf basierende weitgehende Kostenübernahme durch die internationale Gemeinschaft hinterfragt werden. Und statt weiter auf palästinensische Staatsbildung zu setzen, müssten die Europäer gleiche politische, wirtschaftliche und kulturelle Rechte für alle Bewohnerinnen und Bewohner des von Israel kontrollierten Gebiets fordern.“ (7)

Präsident Abbas steht vor der Frage, ob er mit seiner Unterschrift dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag beitritt. In diesem Fall könnten sowohl die auf Israel abgeschossenen Raketen der Hamas wie auch die von zahlreichen international renommierten VölkerrechtlerInnen vermuteten israelischen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit im jüngsten Nahostkrieg untersucht werden.

Nachdem die US-Regierung wegen des neuerlichen Krieges keine Hell-Fire-Raketen mehr an Israel liefert, Spanien seine Waffenlieferungen gestoppt hat, Großbritannien geplante Waffenlieferungen auf den Prüfstand stellte und die internationale BDS (Boykott, Desinvestitionen, Sanktionen)-Kampagne immer stärker wird, stellt sich die Frage: Wird der Krieg 2014 einen Wendepunkt im Nahostkonflikt darstellen - oder werden die Blockade des Gazastreifens und die Besatzung des Westjordanlandes weitergehen?

Von der Antwort auf diese Frage hängt mehr ab als das Schicksal Palästinas und Israels. Die Folgen beider Möglichkeiten ziehen Kreise weit in die gesamte Region des Nahen und Mittleren Ostens.

 

Anmerkungen
1 http://www.hintergrund.de/201408053187/kurzmeldungen/aktuell1/waffenruhe...

2 www.school-scout.de/extract/59245/1-Vorschau_als_PDF.pdf

3 http://www.dw.de/kommentar-provokation-und-gewalt/a-17785370

4 http://www.inamo.de/index.php/israel-palaestina-beitrag-lesen/items/israelisches-militaer-stiehlt-3-mio-us-dollar-und-eigentum-von-palaestinensern-in-der-westbank.html. Euro-Mid Observer for Human Rights ist eine Menschenrechtsorganisation mit Sitz in Genf und regionalen Büros im Nahen Osten (d. Red.).

5 http://www.heise.de/tp/artikel/42/42439/1.html

6 vgl. http://www.sueddeutsche.de/politik/vermittlung-im-gaza-konflikt-erwuenschte-europaeer-1.2081029

7 http://www.swp-berlin.org/de/publikationen/swp-aktuell-de/swp-aktuell-detail/article/nahost_verhandlungen_vor_dem_aus.html

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Rubrik

Im Blickpunkt
Clemens Ronnefeldt ist seit 1992 Referent für Friedensfragen beim deutschen Zweig des Internationalen Versöhnungsbundes.