NATO ohne Atomwaffen?

von Oliver Meier
Schwerpunkt
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Gegenwärtig bietet sich der Friedensbewegung eine Gelegenheit, die so schnell nicht wiederkehrt: Sie kann dazu beitragen, die NATO atomwaffenfrei zu machen. Anlässlich ihres fünfzigsten Geburtstages auf dem Gipfeltreffen am 24./25. April 1999 will die NATO ein neues Strategisches Konzept verabschieden, in dem auch die künftige Rolle der Atomwaffen in der NATO festgeschrieben wird. Ob die neue Nukleardoktrin auf eine Auf- oder Abwertung von Kernwaffen hinauslaufen wird, ist vorläufig offen.

Schon jetzt können Friedensbewegung und Nichtregierungsorganisationen einen wichtigen Erfolg verbuchen, denn die USA und einige andere Staaten sind mit ihrer Strategie gescheitert, eine öffentliche Diskussion um die Bedeutung von Kernwaffen zu verhindern. Der Streit um eine Auf- oder Abwertung von Kernwaffen in der NATO wird mittlerweile sogar auf höchster politischer Ebene geführt. Zwar erntete Joschka Fischer als er auf der Tagung der NATO-Außenminister am 7./8. Dezember in Brüssel anregte, die Frage des nuklearen Ersteinsatzes gemeinsam und offen zu diskutieren, von seiner amerikanischen Amtskollegin eine herbe Abfuhr. Fischer schilderte aber nach dem Treffen, dass viele seiner Kollegen ihm klammheimlich Zustimmung signalisiert hätten.

Neue Legitimation oder Abwertung von Kernwaffen
Jenseits der politischen Rhetorik um den nuklearen Ersteinsatz geht es in der Debatte um die künftige Rolle von Kernwaffen in der NATO darum, ob diese Waffen neue Aufgaben bekommen, oder ob ein erster Schritt in Richtung auf ihre Abschaffung getan wird, indem Kernwaffen abgewertet werden. Für die Angloamerikaner sollen NATO-Atomwaffen künftig der Abschreckung von Staaten dienen, die über biologische, chemische oder nukleare Waffen verfügen. Dabei wird der Atomwaffeneinsatz als Vergeltung für einen Angriff auf die NATO mit ABC-Waffen explizit nicht ausgeschlossen. Auch andere Einsatzmöglichkeiten werden diskutiert: Ein amerikanisches Planungsdokument aus dem Jahr 1996 belegt, dass US-Nuklearstrategen sich Gedanken über die nukleare Abschreckung von "nichtstaatlichen Akteuren", also zum Beispiel Terroristen machen. Zudem fordern einige Nuklearwaffenplaner, die Option auf den präventiven Atomwaffeneinsatz grundsätzlich offenzuhalten. Sie argumentieren, dass Kernwaffen in bestimmten Fällen militärisch unersetzbar sind, beispielsweise wenn es darum geht, schwer verbunkerte Bestände an Massenvernichtungswaffen zu zerstören.
 

Einige andere NATO-Staaten hingegen kritisieren, dass ein Festhalten am Besitz von Kernwaffen oder gar eine Aufgabenerweiterung den Weg in eine Welt ohne Massenvernichtungswaffen versperrt und im Gegenteil andere Staaten sogar zur Proliferation ermutigen könnte. Diese NATO-Staaten weisen darauf hin, dass gerade nach den indischen und pakistanischen Atomtests im Mai 1999 deutlich geworden ist, dass viele Staaten nicht mehr bereit sein könnten, auf den Atomwaffenbesitz zu verzichten, wenn die militärisch überlegenen Staaten des Westens noch nicht einmal bereit sind, den nuklearen Ersteinsatz aufzugeben. Kanada erhob als erstes NATO-Mitglied öffentlich die Forderung nach einer grundlegenden Überprüfung der NATO-Atomwaffenpolitik. Der kanadische Außenminister Lloyd Axworthy mahnte auf der Tagung des NATO-Rates, dass die NATO-Staaten beim Schreiben des neuen Strategischen Konzeptes darauf achten sollten, wie andere dieses Dokument wahrnehmen: "Wir sollten vorsichtig hinsichtlich des politischen Wertes sein, den wir dem NATO Nuklearpotential beimessen, denn wir laufen sonst Gefahr, Proliferationskandidaten Argumente zu liefern, die diese zur Rechtfertigung ihrer eigenen Atomwaffenprogramme anführen können."

Ideen von gestern für die Strategie von morgen?
Die unterschiedlichen Auffassungen über die Bedeutung von Kernwaffen für die Allianz machen eine Anpassung der bestehenden Nukleardoktrin schwierig. Bis heute gilt das 1991 in Rom verabschiedete "Strategische Konzept" der NATO, in dem noch von der Sowjetunion die Rede ist. Darin wird der Zweck von Nuklearwaffen als "politisch" beschrieben, denn diese dienten der "Wahrung des Friedens und Verhinderung von Zwang und jeder Art von Krieg". Das Dokument machte damals wenig Hoffnung, dass die NATO eines Tages ohne Atomwaffen auskommen könne. Die NATO-Mitglieder beschlossen 1991, dass "nukleare Streitkräfte (...) weiterhin eine wesentliche Rolle spielen (werden), indem sie dafür sorgen, dass ein Angreifer im Ungewissen darüber bleibt, wie die Bündnispartner auf einen militärischen Angriff reagieren würden. Sie machen deutlich, dass ein Angriff jeglicher Art keine vernünftige Option ist". Kernwaffen seien die "oberste Garantie für die Sicherheit der Verbündeten".
 

Dieser politischen Hervorhebung der Rolle von Atomwaffen steht die drastische Reduzierung der Zahl der in Europa stationierten Kernwaffen seit 1990 gegenüber. Wahrscheinlich lagern heute nicht mehr als 180 taktische US-Atombomben in Europa, verteilt auf Stützpunkte in Belgien, Deutschland, Griechenland, Großbritannien, Italien, den Niederlanden und der Türkei. Jeder dieser Staaten mit Ausnahme Großbritanniens hält eigene Flugzeuge bereit und trainiert seine Piloten ständig, um im Kriegsfall amerikanische Atomwaffen ins Ziel zu bringen. Zudem sind bestimmte seegestützte Kernwaffen der USA und Großbritanniens der NATO zugeordnet. Alle NATO-Staaten sind berechtigt, an Beratungen über nukleare Einsatzplanung und Doktrin teilzunehmen. Im Ernstfall muss nicht nur der amerikanische Präsident den Atomwaffeneinsatz befehlen, sondern es müssen auch alle an der "nuklearen Teilhabe" partizipierenden Staaten auf ein Veto verzichten, damit NATO-Atomwaffen zum Einsatz freigegeben werden. Bei der Anpassung der Nukleardoktrin geht es auch um die Reform oder das Ende dieser "nuklearen Teilhabe", die im "Strategischen Konzept" von 1991 als unverzichtbar beschrieben wird: "Ein glaubwürdiges nukleares Streitkräftedispositiv des Bündnisses und die Demonstration von Bündnissolidarität und gemeinsamem Bekenntnis zur Kriegsverhinderung erfordern auch in Zukunft breite Teilhabe in die kollektive Verteidigungsplanung involvierter europäischer Bündnispartner an nuklearen Aufgaben, der Stationierung von Nuklearstreitkräften auf ihrem Hoheitsgebiet im Frieden und an Führungs-, Überwachungs- und Konsultationsvorkehrungen." Welche Möglichkeiten zur Reform der NATO-Nukleardoktrin bestehen dann?

Möglichkeiten der Reform
Die Aufgabe des nuklearen Ersteinsatzes in der NATO ist gegenwärtig nur schwer durchzusetzen, weil Entscheidungen innerhalb der NATO im Konsens getroffen werden. Aber es gibt andere, wichtige Anpassungen, die signalisieren können, dass die NATO bereit ist, die Bedeutung atomarer Waffen weiter zu reduzieren und Atomwaffen später ganz aufzugeben. 1990 war schon einmal kurz in NATO-Dokumenten die Rede davon, dass Atomwaffen lediglich "letztes Mittel" ("last resort") zur Verteidigung der Bündnismitglieder sei. Die Wiedereinführung dieses Ausdrucks würde signalisieren, dass zumindest der präventive Einsatz von Kernwaffen ausgeschlossen wird. Zudem könnte die Möglichkeit des Atomwaffeneinsatzes auf den Fall der nuklearen Vergeltung und Situationen beschränkt werden, in denen eine Existenzgefährdung für einen oder mehrere NATO-Staaten vorliegt. Dies würde auch einer Erklärung negativer Sicherheitsgarantien gegenüber allen Nichtkernwaffenstaaten gleichkommen und ein wichtiges politisches Symbol senden. Ein solcher Schritt würde zudem eine Annäherung an das Urteil des Internationalen Gerichtshofs vom Juli 1996 bedeuten, in dem die Drohung mit dem Einsatz von Nuklearwaffen und deren Einsatz als völkerrechtswidrig erklärt wurde.
 

Schließlich gibt es eine Reihe konkreter Maßnahmen, die nicht nur die Gefahr durch Atomwaffen verringern, sondern zudem signalisieren, dass die nukleare Abrüstung weiter vorangetrieben wird. So ist es höchste Zeit, die in Westeuropa und Russland noch vorhandenen taktischen Atomwaffen endlich in Abrüstungsverhandlungen einzubeziehen und zwar unabhängig davon, ob der START-II-Vertrag in Kraft tritt. Eine solche Einbeziehung taktischer Atomwaffen in die Rüstungskontrolle ist im Prinzip bereits seit März 1997 zwischen den USA und Russland vereinbart. Ein Abzug der noch in Westeuropa verbleibenden amerikanischen Atomwaffen im Rahmen einer vertraglichen Abrüstungsvereinbarung wäre auch denkbar, ohne dass die mit der "nuklearen Teilhabe" verbundenen politischen Konsultationsmechanismen aufgegeben werden müssen.

Eine solche Abwertung von Kernwaffen würde bestehende Rüstungskontrollverträge stärken und es zudem Staaten wie Indien und Pakistan schwerer machen, zu argumentieren, dass ihre Atomwaffenprogramme nur eine Reaktion auf den fehlenden Abrüstungswillen der fünf alten Kernwaffenstaaten seien. Sollte die NATO hingegen an ihrer jetzigen Nukleardoktrin festhalten oder gar die nukleare Abschreckung auf neue, nichtnukleare Konflikte ausdehnen, dann wird sich die Krise in der Nichtverbreitungs- und Abrüstungspolitik weiter verschärfen. Genug Grund für die Friedensbewegung, das in den achtziger Jahren begonnene Projekt eines atomwaffenfreien Europas ein gutes Stück voranzubringen, indem Druck auf die Regierungen in allen NATO-Staaten ausgeübt wird, sich aktiv für eine Reduzierung der Rolle von NATO-Atomwaffen einzusetzen.

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Dr. Oliver Meier ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg und Korrespondent der US Arms Control Association.