Neoimperiale Militärstrategien zur Absicherung und Durchsetzung kapitalistischer Expansion und globaler Ungleichheit

von Werner Ruf

Das gewaltlose Ende des Ost-West-Konflikts hat vielfach zu Spekulationen geführt, ob denn dem Kapitalismus nicht auch Friedensfähigkeit innewohne und ob nicht eine vernunftgeleitete, friedliche Transformation des Kapitalismus möglich sei.(1) Dieser eher euro-zentristischen Sicht steht die Beobachtung gegenüber, dass die Schere der sozialen Antagonismen sich im Weltmaßstab weiter öffnet, wir in einer in wachsendem Maße gewaltförmigen „kannibalischen Ordnung“ leben.(2) Die vollmundig verkündeten Millenniums-Ziele der Vereinten Nationen rücken in immer weitere Ferne, und Kriege sind, wie das beginnende 21. Jahrhundert zeigt, wieder Mittel der Politik geworden. Angesichts dieses Befundes ist daher Arno Klönne zuzustimmen, dass das Zeitalter des Imperialismus keineswegs vorbei ist.(3) Auch scheint der von Charles Krauthammer beschworene Unipolar Moment (4) für die USA vergangen zu sein: Neue Mächte, wie die EU und vor allem China, fordern die alte Hegemonialmacht heraus, die ihre vielleicht schon prekäre Vormachtstellung primär mit gewaltsamen Mitteln zu sichern sucht.

Dabei geht es nicht mehr wie im klassischen Imperialismus um die Eroberung von Territorien, sondern seit Peak Oil sind Öl und Gas für das Funktionieren der entwickelten Ökonomien allen (meist halbherzigen weil weniger profitablen) Anstrengungen zur Entwicklung alternativer Energiequellen zum Trotz noch immer unersetzbar. Inzwischen geht es nicht nur um die Sicherung der Rohstoffquellen, sondern vor allem der Transportwege auf globaler Ebene: „Wer bestimmen kann, wie die Pipeline-Karte aussieht, … wird die Zukunft eines riesigen Teils der Welt bestimmen“. (5)

Konkurrenz um Rohstoffe in Afrika …
Diese Rivalitäten stehen im Zentrum der jüngsten Konflikte und Kriege: Relativ unbeachtet von der Weltöffentlichkeit riefen die USA vor gut drei Jahren, am 6. Februar 2007, ein neues Oberkommando für Afrika (Africom) ins Leben, dessen Hauptaufgabe die Terror-Bekämpfung in Afrika sein soll. Zugleich erklärten die USA, ihre Ölimporte aus Afrika von damals 13 Prozent bis zum Jahr 2013 auf 25 Prozent steigern zu wollen. Die „terroristischen Aktivitäten“ – getragen von einer ominösen Gruppe namens al qa’eda im islamischen Maghreb - in und rund um die Sahara wurden, wie man heute weiß, an der langen Leine vom algerischen Geheimdienst in Kooperation mit der CIA gesteuert.(6) Inzwischen wird unter Führung des algerischen Erdölkonzerns SONATRACH, immerhin der zehnt- oder elftgrößte der Welt, eine über 4.000 km lange Pipeline von Nigeria an die algerische Mittelmeerküste gebaut, von wo das dort verflüssigte Gas weltweit verschifft werden soll. Der Konflikt in Darfur und um den Sudan hat seinen Hauptgrund in der Tatsache, dass der Sudan sein Öl fast exklusiv an China liefert. Im drittärmsten Land der Welt, Niger, ist China dabei, das Fördermonopol des weltweit agierenden französischen Uran- und Atomanlagenkonzerns Areva zu brechen.(7) Die von Frankreich geführte EU-Militärintervention in Tschad, dessen Öl mittels einer Pipeline durch Kamerun an den Golf von Guinea transportiert wird, kann durchaus verstanden werden als Aktion zur Eindämmung des sich ausbreitenden US-amerikanischen Einflusses in der Sahel-Region.

… im Nahen und Mittleren Osten
Das von der Bush-Administration vorangetriebene Projekt des Greater Middle East, das zunächst im Krieg gegen den Irak und dem gewaltförmigen regime change in diesem Land gipfelte, ermöglichte mit dem von den USA durchgesetzten neuen Ölgesetz den internationalen Konzernen den Zugriff auf die riesigen Ölreserven, die bis dahin staatlicher irakischer Kontrolle unterstanden. Das einzige Land des Greater Middle East, das noch nicht unter zumindest indirekter Kontrolle der USA steht, ist der Iran. Das Land verfügt über rd. 10 Prozent der bekannten Ölreserven, die Erdgasvorräte werden noch weit höher geschätzt. Iran kooperiert sowohl mit den westlichen Industrieländern wie mit deren harten Konkurrenten: Allein die Verträge mit China sehen für die nächsten 25 Jahre Investitionen in Höhe von mehr als 100 Mrd. Dollar vor. Bereits abgeschlossen ist ein Vertrag zwischen der National Iranian Oil Company NIOC mit der China National Petroleum Corporation CNPC zur Erschließung des Erdgasfelds „South Pars“, das als größtes Ergasfeld der Welt gilt, die Exploration des Erdgasfeldes „North Pars“ steht kurz bevor. Mit Russland hat Iran einen Vertrag geschlossen, der den Bau einer asiatischen Pipeline zur Belieferung Indiens und Chinas vorsieht, Langfristige Lieferverträge bestehen bereits. Iran ist so geradezu zu einem Schlüsselstaat für die aufsteigenden Großmächte China und Indien geworden – und zu einem wichtigen Partner und Konkurrenten Russlands. Guido Steinberg von der SWP sieht daher Iran als einen „heißen Kandidaten für eine geopolitische Umorientierung, also eine Abkehr vom Westen“.(8) Im Erdgasbereich ist Iran beteiligt an der geplanten Gründung eines sich am Vorbild der OPEC orientierenden Kartells der Erdgas produzierenden Staaten. Hierüber wird derzeit zwischen Russland, Iran, Qatar, Algerien und Venezuela verhandelt.

… und im Kaukasus und in Europa
Zugleich bleibt Iran für den Westen ein wichtiger Lieferant: So führt eine Pipeline aus dem Südiran über Täbris durch Armenien ins türkische Erzerum und zum Erdölhafen Ceyhan. In Erzerum könnte sie angeschlossen werden an die geplante Riesen-Pipeline Nabucco, die von der EU gebaut werden und Erdöl und Erdgas aus dem Kaspischen Becken, vor allem aus Kasachstan, via Baku und Tiflis unter Vermeidung russischen und serbischen Territoriums nach Österreich und nach Tschechien pumpen soll. Gefährdet wird dieses Projekt durch eine fast parallel geplante russische Pipeline, die unter dem Namen „Southstream“ ebenfalls vom azerbeidschanischen Baku, dann aber über russisches Territorium (Dagestan) und durch das Schwarze Meer via Belgrad nach Wien und Prag geführt werden soll. Im Augenblick scheint das russische Projekt bessere Realisierungschancen zu haben, da Russland bereits mit Italien einen Liefervertrag geschlossen hat. Nabucco dagegen soll alimentiert werden durch kasachisches Öl, das derzeit noch per Schiff nach Baku transportiert wird. Vorgesehen ist aber der Bau einer Pipeline durch das Kaspische Meer sowohl für Öl wie für Gas.(9) Diese Zufuhr wäre auch notwendig, um die vorgesehene Kapazität von Nabucco auszulasten und das Projekt erst rentabel zu machen.

In diesen Kontext gehören die zahllosen Konflikte im Kaukasus, vor allem aber der russisch-georgische Krieg vom August 2008. Dass hierbei die Interessen der NATO und der EU keineswegs deckungsgleich sind, zeigte sich an der de-eskalierenden Haltung der EU und am Widerstand der EU gegen die Aufnahme des (ach so demokratischen) Georgien in die NATO. Wäre Georgien im August 2008 bereits Mitglied der NATO gewesen, wie die USA es wollten und wollen, das Eskalationspotenzial dieses Konflikts hätte die schlimmsten Vorstellungen der Kalten Kriegszeit wahr werden lassen können.

Der Afghanistan-Krieg
Genau in diesen Kontext gehört auch Afghanistan, das für die ordnungspolitischen Vorstellungen der USA ein weit höheres Gewicht hat als der Irak. Allein seine Lage macht dieses Land in dem sich herausbildenden multipolaren System zu einem zentralen Ort, grenzt es doch an die über riesige Öl- und Gasreserven verfügenden ehemaligen südlichen Republiken der Sowjet-Union, in denen der Islam für die Herrschenden wie für die oppositionellen Kräfte ein immer wichtigerer Legitimationsfaktor wird. Im Westen grenzt es an den Iran, das einzige Land des „Greater Middle East“, das sich dem westlichen und US-amerikanischen Einfluss zu entziehen versucht. Im Nordosten hat es eine - wenn auch sehr kurze - gemeinsame Grenze mit China. Das Land liegt damit im Zentrum der Interessen Chinas, Indiens und Russlands, aber auch der Nachbarn Iran und Saudi-Arabiens, das spätestens seit der Unterstützung der damals Freiheitskämpfer genannten islamistischen Krieger gegen die Sowjetunion in den 80er Jahren eine zentrale Rolle spielt und weiterhin spielt. Als Nachbar Pakistans ist es, auch aufgrund der beiden Ländern gemeinsamen paschtunischen Bevölkerung und der Unterstützung islamistischer Militanz in Kaschmir durch den pakistanischen Geheimdienst ISI mit dem pakistanisch-indischen Konflikt verbunden. Afghanistan ist unmittelbarer Nachbar der Atomwaffenstaaten Russland und China, aber auch der Atomwaffen besitzenden Staaten Indien und Pakistan, die, ebenso wie Israel, dem Atomwaffensperrvertrag NPT nicht beigetreten sind, und natürlich des Iran, der zwar NPT-Mitglied ist, dem jedoch ein Programm zur atomaren Bewaffnung nachgesagt wird.

Afghanistan selbst verfügt nicht über nennenswerte Kohlenwasserstoffreserven, aber in Kasachstan, Usbekistan und Turkmenistan lagern riesige Öl- und Gasvorräte. Allein die Gasreserven Turkmenistans gelten als die größten der Welt. Der kürzeste Weg für ihren Export führt über Afghanistan und Pakistan zum Indischen Ozean. Nach dem Rückzug und dem Kollaps der Sowjetunion begannen in den 90er Jahren Verhandlungen des US-Ölkonzerns UNOCAL als Verhandlungsführer mehrerer US-Firmen mit dem Taliban-Regime über den Bau einer Pipeline, wobei eine mögliche Route durch den Iran aus politischen Gründen zugunsten der Passage durch Pakistan verworfen wurde. Die von den Taliban geforderte Höhe der Gebühren ließ 1995 jedoch die Verhandlungen scheitern.

Ein „Geschenk des Himmels“
Laut eines Berichts der BBC (10) hatten die USA bereits im Juli 2001 beschlossen, im Oktober 2001 Afghanistan anzugreifen. Aus dieser Perspektive muss der 11. September 2001 wie ein Geschenk des Himmels erscheinen: George W. Bush erklärte den „Krieg gegen den Terror“ und leitete die Operation Enduring Freedom ein. Das Operationsgebiet von OEF beschränkt sich jedoch keineswegs nur auf Afghanistan (und jüngst auch Pakistan), sondern umfasst auch das Horn von Afrika und die Straße von Hormuz – jenen Seeweg, durch den rd. die Hälfte des weltweiten Öltransports verläuft. OEF, an der sich am Horn von Afrika auch Deutschland beteiligt, ist also sehr viel älter als das Piraterie-Problem vor der Küste Somalias. Das gerade beginnende militärische Engagement der USA im Jemen, begründet mit der Bekämpfung eines mysteriösen Zweigs von al aq’eda, dient der Sicherung der Straße von Hormuz, verstärkt die US-Präsenz im Indischen Ozean und könnte als Aufmarschgebiet gegen den Iran genutzt werden. Mittlerweile ist auch die EU mit ihrer Operation Atalanta am Horn von Afrika präsent.

Während China sein Vordringen in den vorderasiatischen und afrikanischen Raum diskret mit Handelsbeziehungen und Entwicklungspolitik betreibt, scheinen die westlichen Mächte, allen voran die USA, auf das Militär als Instrument zur Sicherung ihres Einflusses zu setzen. Diese Politik trägt zweifellos imperialistische Züge. Die Ursachen der Konflikte in diesen Regionen, Hunger, Armut, Elend kann sie nur verschlimmern. Somit trägt sie bei zur Radikalisierung weiter Kreise der Bevölkerung, zum Zerfall staatlicher Strukturen und zur weiteren Herausbildung von Gewaltökonomien. Wer von Weltordnung, friedlicher Transformation und Ausgleich durch Dialog spricht, sollte die materiellen Ursachen von Gewaltverhältnissen nicht vergessen. Diese sind aber unmittelbar verwoben mit den an der Oberfläche so friedlichen, besser: nicht-kriegerischen Verhältnissen im kapitalistischen Norden und der gnadenlosen Durchsetzung neo-liberaler Ordnungsvorstellungen.

 

Anmerkungen
(1) Reißig, Rolf: Weltgesellschaft – Dialog- und Transformationsprojekt des 21. Jahrhunderts, Arbeitspapier, Berlin, Nov. 2007  http://www.biss-online.de/download/Buchbeitrag_Weltgesellschaft_Reissig.pdf [30-09-2010].

(2) Ziegler, Jean: Das Imperium der Schande, München 2005.

(3) Klönne, Arno: Empire und Empirie; in: Buntenschön, Rainer/Spoo, Eckart (Hrsg.): Töten – Plündern – Herrschen, Hamburg 2003, S. 126 – 130.

(4) Krauthammer, Charles: The Unipolar Moment; in: Foreign Affairs 1/1991, S. 23: “Unsere beste Hoffnung auf Sicherheit … ist Amerikas Stärke und die Willenskraft, eine unipolare Welt zu führen und ohne Scham (unshamed) die Regeln der Weltordnung festzulegen und sie auch durchzusetzen.“

(5) Frederick Starr, Leiter des Kaukasus-Instituts der Johns Hopkins University. http//www.uni-kassel.de/fb5/frieden/regionen/Kaukasus/pipeline.html [11-06-10]         

(6) S. die detaillierte Arbeit von Keenan, Jeremy: The Dark Sahara. America’s War on Terror in Africa; London and New York 2009. Schon früher dazu: Ruf, Werner: Geopolitik und Ressourcen. Der Griff der USA nach Afrika; in: ÖSFK/Thomas Roithner (Hrsg.): Von kalten Energiestrategien zu heißen Rohstoffkriegen? Wien/Berlin 2008, S. 160 – 173.

(7) Ruf, Werner: Ein noch nicht mediatisierter Konflikt; in: Ruf et al.: Militärinterventionen: Verheerend und völkerrechtswidrig. Berlin 2009, S. 191 – 203.

(8) Eurasisches Magazin 06/2009.

(9) http://www.globaldefence.net/kulturen-im-konflikt/islamische-kulturen/22... [30-09-10].

(10) Chossudovsky, Michel: Global Brutal. Frankfurt/Main 2002, S. 390.

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Werner Ruf, geb. 1937, promovierte 1967 im Fach Politikwissenschaft in Freiburg i. Br. Er lehrte an den Universitäten Freiburg, New York University, Université Aix-Marseille III, Universität Essen, und war von 1982 bis 2003 Professor für internationale Beziehungen an der Universität Kassel.