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Die Krise des Weltwirtschaftssystems und die Rückkehr des Kolonialismus
Neoliberale Protektorate
Das neoliberale Weltwirtschaftssystem weist nicht erst seit der jüngsten Finanzkrise unverkennbare Krisentendenzen auf und wird zunehmend brüchig. Die Ursache hierfür liegt vor allem darin, dass die marktradikalen Rezepte vom Internationalen Währungsfond (IWF) und der Weltbank (Privatisierung, Deregulierung, Öffnung der Märkte für westliche Produkte, Sozialabbau...) zu einer dramatischen Verarmung weiter Teile der Weltbevölkerung geführt haben – mit dramatischen Auswirkungen auf die Frage von Krieg und Frieden in der Welt: Denn entgegen dem herrschenden Mediendiskurs sind nicht Binnenfaktoren wie die Habgier diverser Warlords, religiöser Fundamentalismus, ethnische Konflikte o. ä. die ausschlaggebenden Faktoren für den Ausbruch von Bürgerkriegen in der sog. Dritten Welt, sondern Armut, ein in der Kriegsursachenforschung einigermaßen unumstrittener Befund.[1]
Da die Ausbeutungsstrukturen des herrschenden Weltwirtschaftssystems sich für die westlichen Staaten (bzw. ihre Konzerne) als extrem profitabel erwiesen haben, herrscht gegenwärtig keinerlei Bereitschaft, sie substanziell zu verändern. Der Rückgriff auf militärische Mittel wird deshalb aus Sicht westlicher Strategen zwingend erforderlich, um den Dampfkessel der Globalisierungskonflikte notdürftig unter Kontrolle zu halten: "Protektorate sind in", erläutert Carlo Masala von der NATO-Verteidigungsakademie (NADEFCOL) in Rom. "Von Bosnien über Kosovo, nach Afghanistan bis in den Irak, das Muster westlicher Interventionspolitik ist immer dasselbe. Nach erfolgreicher militärischer Intervention werden die ‚eroberten’ Gebiete in Protektorate umgewandelt, und die westliche Staatengemeinschaft ist darum bemüht, liberale politische Systeme, Rechtsstaatlichkeit und freie Marktwirtschaft in diesen Gebieten einzuführen."[2]
Tatsächlich werden im Rahmen dieser Kolonialbesatzungen jedoch die Wirtschaftsstrukturen der jeweiligen Staaten unter dem Deckmantel von "Stabilitätsexport" und "Nation-Building" nach neoliberalen Vorgaben umstrukturiert. Genau hierdurch wird aber lediglich der Teufelskreis aus Armut, Gewalt und westlichen Militärinterventionen perpetuiert.
Neoliberales Nation-Building: Die Theorie
Kurioserweise sieht der Großteil der Nation-Building-Community in der neoliberalen Umstrukturierung eines "gescheiterten" Staates die zentrale Bedingung für dessen erfolgreiche Stabilisierung: "Von Mozambique bis Ost-Timor, die Anstrengungen zum Wiederaufbau nach Konflikten werden vom neoliberalen Model angeleitet und betonen die therapeutische Kraft des Marktes."[3] Ein Paradebeispiel für diesen neoliberalen Kolonialismus gibt Roland Paris: "Internationale Friedenserhaltungseinsätze streben die Stabilisierung von Ländern an, die kurz zuvor von Bürgerkriegen heimgesucht wurden. Hierfür wurde von den internationalen Friedensstiftern eine spezifische Vision verkündet, wie sich Staaten intern organisieren sollten: auf der Grundlage liberaler Demokratie und einer marktwirtschaftlich orientierten Ökonomie. Durch den Wiederaufbau vom Krieg erschütterter Staaten im Einklang mit dieser Vision haben die Friedensstifter de facto einen Standard für angemessenes Verhalten vom liberal-westlichen Kern des internationalen Systems auf die gescheiterten Staaten der Peripherie 'übertragen'. Aus diesem Blickwinkel ähnelt die Friedenskonsolidierung einer aktualisierten (und wohlwollenderen) Version der mission civilisatrice oder der Überzeugung während der Kolonialzeit, dass die europäischen imperialen Mächte eine Pflicht zur 'Zivilisierung' der abhängigen Bevölkerungen und Territorien hätten."[4]
Im Zuge solcher Besatzungen wird das komplette neoliberale Programm durchgezogen: Verschleuderung des Staatseigentums durch umfassende Privatisierungen, Öffnung für ausländische Investoren und Handel, etc. Was sich hier abspielt, sind "umgestaltende Besatzungen" (David Scheffer), die auf die vollständige neoliberale Zurichtung der jeweiligen Kolonien hinauslaufen. Nach klassischem Besatzungsrecht sind derartige Eingriffe in die innere Verfassung des unterworfenen Staates zwar nicht legal, das ficht die Staatenbilder offenbar aber nicht weiter an. Die Frage, wie weit dabei die neoliberale Zurichtung der jeweiligen Staaten betrieben wird, beantwortet Michael Pugh folgendermaßen: "So weit das Auge reicht."[5]
Die Schaffung extrem konzernfreundlicher Rahmenbedingungen wird typisch neoliberal begründet: Ohne sie komme es zu keinen Investitionen und damit keinem Wirtschaftswachstum, das jedoch die Vorbedingung für eine effektive Armutsbekämpfung und damit auch Stabilisierung sei. Afghanistan und der Irak sind die derzeit wichtigsten Vorzeigeprojekte dieses Neoliberalen Kolonialismus und gleichzeitig auch ein Fanal für dessen Scheitern.[6]
Neoliberaler Kolonialismus I: Afghanistan
Das Bundesamt für Außenwirtschaft (BAFA) bejubelt die führende Rolle Deutschlands beim Aufbau liberaler afghanischer Wirtschaftsstrukturen: "Ein Erfolg ist die mit Hilfe der Bundesregierung geschaffene 'Afghan Investment Support Agency - AISA', die Investoren innerhalb von nur einer Woche sämtliche Formalitäten abnimmt, deren Registrierung vornimmt und eine Steuernummer vergibt. [...] Die marktwirtschaftliche Ausrichtung der Wirtschaft und der Schutz von Investoren wurden in die neue afghanische Verfassung aufgenommen; [...] Afghanistan kann als eine der offensten Volkswirtschaften überhaupt, auf jeden Fall aber als die offenste Volkswirtschaft der Region bezeichnet werden. Handelsbeschränkungen und Subventionen sind praktisch nicht existent, und die afghanische Regierung zeigt sich sehr aufgeschlossen für Investitionen im Land."[7]
Der betreffende Satz der afghanischen Verfassung lautet wörtlich: "Der Staat ermuntert und schützt private Kapitalinvestitionen und Unternehmen auf der Basis der Marktwirtschaft und garantiert deren Schutz im Einklang mit den rechtlichen Bestimmungen."[8] Die lobend erwähnte und von Deutschland ins Leben gerufene Afghan Investment Support Agency erweist sich dabei als wichtiger Durchlauferhitzer für westliche Investitionen. Ihren Angaben zufolge haben sich seit 2003 mehr als 6.200 Unternehmen als Investoren registriert. Das bei der Agentur erfasste Investitionsvolumen war Anfang 2008 mit rund 2,4 Mrd. US$ angegeben worden.[9] Ein Jahr nach Beginn der Besatzung wurde zudem ein Investitionsgesetz verabschiedet, das folgende Aspekte beinhaltet: "Im September 2002 ratifizierte die afghanische Regierung das Law on Domestic and Foreign Private Investment in Afghanistan, das keine Unterscheidung zwischen ausländischen und inländischen Investitionen macht. Dieses Gesetz ermöglicht 100% ausländische Investitionen, den vollständigen Transfer von Gewinnen und Kapital aus dem Land heraus, internationale Schlichtungsverfahren sowie 'stromlinienförmige' Lizenzverfahren. Auch werden Ausländer, die Kapital nach Afghanistan bringen, für vier bis acht Jahre von Steuern befreit."[10]
Für die Bevölkerung sind die Folgen dieser neoliberalen "Wiederaufbaupolitik" verheerend, zumal die ohnehin spärliche Entwicklungshilfe primär in die Taschen westlicher Konzerne fließt. So gelangt der Länderbericht des UN-Entwicklungsprogramms (UNDP) zu dem Ergebnis, die humanitäre Lage habe sich seit Beginn des NATO-Einsatzes gegenüber der Taliban-Herrschaft sogar weiter verschlechtert: 61% der Bevölkerung seien chronisch unterernährt.[11] Dennoch unterzeichnete Präsident Hamid Karzai im April 2008 die in enger Zusammenarbeit mit der Weltbank erstellte und auf den berüchtigten "Poverty Reduction Strategy Papers" (PRSP) basierende "Afghanistan National Development Strategy" (ANDS). Sie schreibt die bisherige "Wiederaufbaupolitik" mitsamt ihren neoliberalen Grundannahmen lückenlos fort, wie Citha Maass, Afghanistan-Expertin der Stiftung Wissenschaft und Politik, einräumt: "Die ANDS bleibt weiterhin der These vom liberalen Frieden verpflichtet, die das internationale Afghanistan-Engagement seit der Bonn-Vereinbarung vom Dezember 2001 determiniert. Sie besagt, dass Demokratie und eine freie Marktwirtschaft den inneren politischen Frieden fördern."[12]
Neoliberaler Kolonialismus II: Irak
Auch die Besatzung des Irak folgt den Prämissen des neoliberalen Kolonialismus, etwa wenn versucht wird, mit dem von der US-Firma "Bearing Point" verfassten irakischen Ölgesetz eine der größten Enteignungsaktionen der jüngeren Geschichte durchzusetzen. Darüber hinaus wurde die "Neoliberalisierung" des Irak spätestens im September 2003 mit der vom damaligen US-Statthalter L. Paul Bremer erlassenen Order 39 eingeleitet. Genauso wie in Afghanistan (sowie in Bosnien und im Kosovo) erlaubt Order 39 ausländischen Konzernen, einen Anteil von 100 Prozent an irakischen Betrieben zu übernehmen und die aus ihren Geschäften resultierenden Gewinne zu ebenfalls 100 Prozent aus dem Land zu transferieren. Parallel dazu wurden die Einfuhrzölle herabgesetzt und staatliche Subventionen gestrichen, womit der Schutz der irakischen Wirtschaft vor – häufig hoch subventionierten – westlichen Produkten praktisch wegfiel. Mit der Order 49 wurden die Steuern auf lediglich 15 Prozent begrenzt (von ursprünglich 40 Prozent) und die Order 54 schließlich schaffte die Einfuhrzölle gänzlich ab. Darüber hinaus eröffnete die Order 40 erstmals die Möglichkeit, das Bankenwesen zu übernehmen. Richtigerweise urteilte der britische „Economist“ nach Verabschiedung dieser ganzen Dekrete, der Irak sei nunmehr zu einem „kapitalistischen Traum“ geworden.[13]
Die gesamte Strategie wird in einer Studie von Focus on the Global South mit dem bezeichnenden Titel „Destroy and Profit“ folgendermaßen bündig zusammengefasst: "Invasion. Dies war der erste Schritt für das, was seither zu dem ambitioniertesten, radikalsten und gewalttätigsten Projekt in der jüngsten Geschichte geworden ist, eine Ökonomie entlang neoliberaler Linien wiederaufzubauen. Seit der Invasion im Jahr 2003 haben die Vereinigten Staaten versucht, nahezu sämtliche Sektoren der irakischen Wirtschaft für ausländische Investoren zu öffnen; das Land für den internationalen Handel aufzubrechen; ein massives Privatisierungsprogramm zum Verkauf von über 150 staatseigenen Betrieben zu starten; den Finanzmarkt zu liberalisieren; ... und die Grundlagen für die endgültige Privatisierung des irakischen Öls zu legen."[14]
Das Resultat gleicht ebenfalls dem in Afghanistan und den anderen westlichen Kolonien. Die irakische Arbeitslosenquote bewegt sich je nach Schätzung zwischen 25% und 40%, Mehr als zwei Drittel der Bevölkerung haben keinen Zugang zu Trinkwasser, die Ablehnung der Besatzungstruppen beläuft sich auf 79%.[15]
Fazit
Was Naomi Klein für den Irak als Ziel des westlichen "Stabilitätsexports" benannte, gilt in gleichem Maße für Afghanistan und die anderen westlichen Kolonien: "All die in den neunziger Jahren unternommenen sorgfältigen Bemühungen, den 'freien Handel' nicht als imperiales Projekt erscheinen zu lassen, gab man hier nun auf. [...] Hier wollte man nun den freien Handel in seiner massivsten Form verwirklichen [...] und neue Märkte für die westlichen Multis direkt auf den Schlachtfeldern der neuen Präventivkriege erschließen."[16]
Vor dem Hintergrund dieser schamlosen – und darüber hinaus auch noch zumeist humanitär verbrämten - Interessenspolitik ist es nicht weiter verwunderlich, wenn die westlichen Besatzer mehr als Okkupanten denn als Wohltäter wahrgenommen werden. Dementsprechend nimmt auch der Anteil derjenigen unter den "Verdammten dieser Erde" zu, die bereit sind, sich auch gewaltsam gegen die Besatzer zur Wehr zu setzen. Nicht zuletzt deswegen rückt die Aufstandsbekämpfung im Rahmen von "Stabilisierungsmissionen" derzeit immer weiter ins Zentrum westlicher Sicherheitsplanung.
Anmerkungen
[1] Siehe für eine hervorragende Literaturübersicht Welt im Wandel – Sicherheitsrisiko Klimawandel, Berlin/Heidelberg 2008, S. 233-252.
[2] Masala, Carlo: Managing Protectorates: Die vergessene Dimension, in: Politische Studien, Januar/Februar 2007, S. 49.
[3] Lacher, Wolfram: Iraq: Exception to, or Epitome of Contemporary Post-Conflict Reconstruction?, in: International Peacekeeping, Vol. 14, No. 2 (April 2007), S. 237-250, S. 241.
[4] Paris, Ronald: International Peacekeeping and the "mission civilastrice", in: Review of International Studies 28/2002, S: 637-656. Vgl. kritisch: Julien, Barbara: Rethinking neo-liberal state building, in: Development in Practice (Juni 2008), S. 307-318.
[5] Pugh, Michael: The political economy of peacebuilding: a critical theory perspective , in: International Journal of Peace Studies, vol. 10, no. 2 (autumn/winter 2005), S. 23-42.
[6] Vgl. zu Bosnien: Chandler, David: Bosnia: Faking Democracy after Dayton, London 2000; zum Kosovo: Wagner, Jürgen, Europas erste Kolonie, in: AUSDRUCK (Dezember 2007).
[7] BAFA: Wirtschaftsentwicklung 2006, 27.11.2006, URL: http://tinyurl.com/43m65p
[8] Official Afghan Constitution, Article 10.
[9] BAFA: Wirtschaftstrends kompakt Afghanistan 2007/08, 21.02.2008, URL: http://tinyurl.com/cjllyh, S. 6.
[10] Vgl. Bertelsmann Transformationsindex: Afghanistan, URL: http://tinyurl.com/dhl7wy
[11] Vgl. Afghanistan Human Development Report 2007, UNDP 2007, S. 18-23.
[12] Maass, Citha D.: A Change of Paradigm in Afghanistan, SWP Comments, June 2008, S. 2.
[13] Vgl. Kiechle, Brigitte: Das Kriegsunternehmen Irak. Eine Zwischenbilanz, Stuttgart 2006; Wagner, Jürgen: Akkumulation durch Enteignung, in: AUSDRUCK (Oktober 2007).
[14] Docena, Herbert: „Shock and Awe” Therapy, in: Destroy and Profit: Wars, Disasters and Corporations, Bangkok 2006, S. 8.
[15] Vgl. The Iraq Quagmire: The Mounting Costs of the Iraq War, Foreign Policy, Foreign Policy in Focus, March 14, 2008.
[16] Klein, Naomi: Die Schock-Strategie, Frankfurt 2009, S. 478.