Neue Untersuchung bringt überraschende Ergebnisse

Nichtwähler sind auch Wähler

von Michael Eilfort
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Die starke Zunahme der Wahlenthaltung in der Bundesrepublik ist eines der herausragenden politischen Phänomene der letzten Jahre. Bei Bundestagswahlen sank die Beteiligung zwischen 1983 und 1990 von 89,1 auf 78,6 (alte Bundesländer) - der Nichtwähleranteil verdoppelte sich.

Der Trend ist offenkundig, die Gründe dafür weniger. Wer geht nicht (mehr) zur Wahl und warum nicht? Ist der anhaltende Rückgang der Beteiligung ein Zeichen demokratischer Normalität nach dem Motto "Wer schweigt, stimmt zu" oder handelt es sich um ein Krisensymptom, um den Ausdruck wachsender Parteiverdrossenheit oder zunehmender Skepsis gegenüber den traditionellen Formen der politischen Willensbildung?

In den Monaten Januar und Februar 1991 wurden 20.305 zufallsausgewählte Stuttgarter Bürgerinnen und Bürger mehrfach schriftlich über ihr Abstimmungsverhalten befragt; fast zwei Drittel von ihnen schickten den Fragebogen ausgefüllt zurück. Darunter befanden sich 10.656 Wähler und 2.398 Nichtwähler.

Die Wahlenthaltung durch konjunkturelle Nichtwähler ist in zunehmendem maße das Ergebnis einer bewußten Entscheidung durch politisch informierte und interessierte Bürgerinnen und Bür-ger. Dies ist eines der besonders augenfälligen und überraschenden Ergebnisse der Befragung. Umso mehr, als früher die Wahlbeteiligung als Funktion des politischen Interessiertheitsgrades und das Nichtwählen als Indiz politischen Desinteresses galt.

Zwar weisen Nichtwähler ein deutlich geringeres politisches Interesse auf, gleichwohl schätzen sich auch 74% von ihnen als politisch interessiert ein, 41% gar als sehr stark oder stark interessiert. Die Informationsgewohnheiten und -quellen der Nichtwähler insgesamt ähneln denen der Wähler. Und während 21,7 % der Nichtwähler explizit politische Gründe für ihre Enthaltung nennen, führen nur 3,1 % ihr politisches Desinteresse an. Wahlenthaltung dürfte somit heute weniger Ausdruck von Interesselosigkeit oder Gleichgültigkeit als vielmehr das Ergebnis eines bewußten Ent-scheidungsprozesses sein - die meisten Nichtwähler sind Wähler. Eine mögliche Ursache ist der Verdruß über Politiker und Parteien.

Die Aussage "Die Parteien sind alle korrupt" stimmen 9,8% der befragten Wähler voll und 23,1% mit Einschränkungen zu. Bei den Nichtwählern sind es 22,6 bzw. 30,2%. Dem Satz "Die Politiker machen doch, was sie wollen, halten 18,7% der Wähler und 44,9% der Nichtwähler für absolut richtig.

Die erschreckenden Zahlen belegen - auch im Fall der Wähler -, daß Schlagworte wie z.B. Politikverdrossenheit nicht an den Haaren herbeigezogen sind. Davon künden auch einige genannten Gründe für die Wahlenthaltung im Herbst 1990, hier stellvertretend genannt: "Es wird zu viel versprochen, zu wenig gehalten". Oder: "Die Parteien gehen doch mit ihrem Wahlkampf nur auf Dummenfang und Geldgewinne aus". Oder: "Kein Politiker hat den Mut zur Wahrheit". Die Nichtwähler haben also ein wesentlich schlechteres Bild von Politikern und Parteien als die Wähler, 9,8% führen das als Grund oder einen der Gründe für den Verzicht auf die Stimmabgabe bei der Bundestagswahl 1990 an.

Wahlenthaltung kann genauso eine andere Art von Protest bedeuten. Dann nämlich, wenn sie die Konsequenzen eines als unzureichend empfundenen personellen und programmatischen An-gebots durch die Parteien ist: Wer keine Wahl hat, macht sich keine Qual. Nach Aussage von 9,5% der befragten NichtwählerInnen ist ihr Verzicht auf die Stimmabgabe (unter anderem) darauf zurückzuführen, daß sie keinen überzeugenden Kandidaten bzw. keine überzeugende Partei ausmachen konnten. Die angebotsorientierte Erklärung der Wahlenthaltung greift insbesondere dann, wenn der Wahlberechtigte bei Kandidaten und Parteien keine Unterschiede sieht. 37,5% der befragten NichtwählerInnen waren davon überzeugt, daß "die Parteien sich gleichen wie ein Ei dem anderen" - bei den Wählern waren es 15,5%.
Nicht nur die Zahlen belegen, daß viele Bürgerinnen und Bürger den Wahlen als traditionelle Form politischer Artikulation kritisch gegenüberstehen und diese Haltung zum Verzicht auf die Stimmab-gabe beitragen kann: Davon künden auch Diskussionen um "Demokratisierung" und mehr Bürger-beteiligung sowie die abnehmende Bereitschaft, sich in politischen Parteien in althergebrachter Form zu engagieren."

Ausschnitte eines Referates von Michael Eilfort, Universität Tübingen auf der Tagung "Keine Wahl - auch ein Wahl?" der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg. Das ausführliche Manuskript kann bezogen werden bei: Landeszentrale f. pol. Bildung, Stafflenbergstr. 38, 7000 Stuttgart 1

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