Buchbesprechung

Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung

von Christine Schweitzer
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Es gibt in deutscher Sprache nur wenige wissenschaftliche Werke zum Thema Postkolonialismus. Die 2015 in zweiter, wesentlich erweiterter Auflage erschienene „Kritische Einführung“ von zwei in Berlin bzw. Frankfurt lehrenden Politikwissenschaftlerinnen ist eines der wenigen davon.

Das Thema „Postkolonialismus“, ursprünglich von Wanderern zwischen den Kulturen in den USA entwickelt, hat dennoch inzwischen die akademische Welt auch in Deutschland erreicht. Die Autorinnen schreiben: „Ironischerweise wird es ...mit jedem Jahr schwieriger zu beschreiben, was den Postkolonialismus als Theorierichtung wirklich ausmacht. Es scheint unmöglich, eine einfache, allgemeingültige Definition zu geben, die bestimmen könnte, was de facto unter postkolonialer Theorie trennscharf zu verstehen ist. ... Im Laufe der Zeit hat sich eine regelrechte Polemik darüber entsponnen, welche Regionen, Perioden, soziopolitischen Formationen und kulturellen Praktiken legitimerweise als genuin postkolonial gelten dürfen.“ (S. 286) Den Autorinnen geht es darum, wesentliche Diskussionen und ProtagonistInnen der postkolonialen Theorie vorzustellen und zu diskutieren.

Das Buch zerfällt in drei Teile: In einem ersten Kapitel stellen die Autorinnen das Thema unter der Überschrift „Kolonialismus, Antikolonialismus und postkoloniale Studien“ vor. Daran schließen sich drei Kapitel über drei wesentliche Quellen des Postkolonialismus an: Edward W. Said, Gayatri Chakravorty Spivak und Homi K. Bhabha. In einem längeren dritten Teil werden Kritiken, die von verschiedenster Seite an den Postkolonialismus gerichtet werden, vorgestellt. Das Buch schließt mit einer kurzen Betrachtung über „Postkoloniale Utopien und die Herausforderung der Dekolonialisierung“. Eine umfassende Literaturliste rundet den Band ab. Die stark überarbeitete und aktualisierte zweite Auflage unterzieht insbesondere die neuen Schriften Spivaks und Bhabhas einer kritischen Würdigung, setzt sich aber auch ausführlich mit den gegenwärtigen Diskussionen um Globalisierung, Religion, Menschenrechte, transnationale Gerechtigkeit, internationales Recht, Entwicklungspolitiken und Dekolonisierung auseinander, wie es in der Buchankündigung heißt.

Said, Spivak und Bhabha werden gelegentlich als die „heilige Trinität“ des Postkolonialsims bezeichnet. Said war Literaturwissenschaftler, in Palästina geboren und lehrte in den USA. Er beschäftigte sich mit dem Thema des „Orientalismus“. Sein 1978 erschienenes Werk „Orientalism“ gilt als das Gründungsdokument postkolonialer Theorie. Es ging Said darum, wie „dominante Kulturen ANDERE Kulturen repräsentieren und damit erstere wie letztere konstituieren“. Mit Hilfe der Foucault’schen Diskursanalyse wird nachgezeichnet, wie der koloniale Diskurs die kolonisierten Subjekte UND Kolonisatoren gleichermaßen hervorgebracht hat..:“ (S. 95). Eine entscheidende Rolle spiele hierbei für Said Wissenschaft, Bildungssystem etc. Sie wurden nicht nur instrumentalisiert oder zur Legitimation kolonialer Herrschaft herangezogen, sondern waren entscheidende Stützen der kolonialen Herrschaft. Sein politisches Engagement galt in erster Linie Palästina.

Auch Spivak ist Literaturwissenschaftlerin und lehrt ebenfalls in den USA. Ihr für die postkoloniale Theorie entscheidende Aufsatz heißt „Can the Subaltern speak?“ und wurde 1988 publiziert. Auch Spivak ist politisch engagiert und setzt sich vor allem für Bildung von Mädchen in entlegenen Regionen Indiens ein. In einer Rezension von Jens Elberfeld der ersten Auflage des Buches heißt es: „Im Gegensatz zu Said versucht Gayatri C. Spivak den Blick stärker auf die Widersprüchlichkeiten im (Post)Kolonialismus zu richten, etwa indem sie die antikolonialen Befreiungsbewegungen in Indien ob ihrer nationalistisch-bürgerlich-männlichen Aspekte kritisiert. Auf theoretischer Ebene üben drei Ansätze Einfluss auf sie aus: Mit Hilfe dekonstruktiver Strategien im Sinne Derridas grenzt sie sich, erstens, u.a. von Said ab, da sein Konzept des „Orientalism“ auf binären Vorstellungen und opponierenden Begriffen beruhe und so, wenn auch ungewollt, die (post)koloniale Grenzziehung zwischen „the west and the rest“ wiederhole. Mittels des Feminismus versucht Spivak zweitens die zwei signifikanten Leerstellen von ‚Orientalism‘ bzw. postkolonialer Theorie, Gender und Sexualität, offen zu legen. Dabei scheut sie auch nicht vor einer Auseinandersetzung mit dem vorrangig europäisch-nordamerikanischen Feminismus zurück, dem sie seine universalistischen, westlichen Konzepte vorwirft. Und schließlich bezieht sie sich drittens auf den Marxismus, insbesondere in seiner Gramsci-Version, um so die Sphäre des Ökonomischen in den postcolonial studies zu berücksichtigen.“ (https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-8186).

Der dritte vorgestellte Autor, Homi K. Bhabha, stammt wie Spivak aus Indien, ist Literaturwissenschaftler und unterrichtet heute in den USA. Sein Augenmerk gilt vor allem den Repräsentationsformen kultureller Differenz. Dabei ist er von poststrukturalistischen und psychoanalystischen Ansätzen geprägt. Sein Hauptwerk heißt „The Location of Culture“ (1994). Im Unterschied zu Said liegt für Bhabha die Autorität kolonialer Macht niemals ausschließlich in den Händen der Kolonisatoren. Er spricht von „Verhandlungen über die koloniale Grenze hinweg“. Der Kolonialdiskurs wird damit zum Narrativ. Bhabha ist Gründer des Mahina Humanities Centre, wo Wissen aus verschiedenen Fachrichtungen zusammengeführt werden soll.

Die Bewertung des Buches soll mit einem Zitat aus der abschließenden Betrachtung im Buch begonnen werden: „Einige Texte – sowie Akteure und Akteurinnen – postkolonialer Theorie haben es geschafft, populär zu werden, doch sind sie ... weit davon entfernt, soziale Bewegungen wesentlich zu inspirieren ...“ (S. 339) Dass dies der Anspruch vieler ProtagonistInnen dieses Ansatzes ist, wird bei der Lektüre des Buches deutlich. Aber es lässt gleichzeitig den Eindruck zurück, dass postkoloniale Theorie doch ein sehr akademischer und einer breiteren, vielleicht nicht durchweg sozial- oder geisteswissenschaftlich gebildeten Öffentlichkeit nicht so ohne Weiteres oder nur auf Kosten grober, an die Verfälschung heranreichende Vereinfachung zugänglich ist. In ihrer „Einführung“  versuchen sich Do Mar Castro Varela und Dhawan in einem Spagat – sie wollen die Komplexität des Themas und der Kritiken an ihm darlegen, und das gelingt ihnen auch. Allerdings zu dem Preis, dass das Buch, obwohl in anderen Besprechungen als gelungene einfache Einführung gepriesen, in den Augen der Rezensentin doch einiges an Vorwissen erfordert. Deshalb soll es auch nur denjenigen empfohlen werden, die eine gewisse Affinität zur akademischen Welt besitzen. Wem das zu kompliziert ist, dem sei stattdessen empfohlen, auf den Seiten der Bundeszentrale für politische Bildung nach Einträgen zu „Postkolonialismus“ zu suchen.  

María Do Mar Castro Varela und Nikita Dhawan (2015) Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung. (2., komplett überarbeitete Auflage) transcript, Bielefeld, 369 Seiten, 24,99 Euro.

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Christine Schweitzer ist Co-Geschäftsführerin beim Bund für Soziale Verteidigung und Redakteurin des Friedensforums.