Ein Blick aus der Friedensforschung

Postkolonialismus und Frieden

von Werner Rätz
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Wenn ich sagen würde, Friede sei mehr als die Abwesenheit von Krieg, würden mir wahrscheinlich die meisten LeserInnen des Friedensforums zustimmen. Aber wenn ich dann fragen würde, was denn „Krieg“ sei, würde eine Menge von ihnen mit dem Kopf schütteln und denken, das sei doch klar. Und schon säße man in der postkolonialen Falle. Denn „Krieg“ ist, wie so vieles andere, ein Begriff, der im „Abendland“ entstanden ist und seine Bedeutung von hierher bezieht. Und auch dieses „Abendland“ ist kein Begriff mit einer objektiven Bedeutung, sondern nur denkbar als auf etwas Anderes, auf das „Morgenland“ Bezogenes. Okzident und Orient existieren nicht für sich, sondern nur gemeinsam und in Abgrenzung zueinander. Genauso verhält es sich mit den Kolonien, der Kolonisierung und dem (Post)Kolonialismus.

Die ganze Geschichte der kapitalistischen Moderne, die wir in der weißen Welt auch als „Neuzeit“ bezeichnen, ist eine Geschichte der Konstruktion eines „Anderen“ und seiner Unterwerfung. Der Andere ist ein „Wilder“, der anders als wir nicht in einem Staat lebt, vielleicht nicht einmal in einer Gesellschaft, sondern in einem „Stamm“ oder „Clan“, der keine Zivilisation und kein (bürgerliches) Recht kennt, sondern nur so eine Art „Naturzustand“, und vor allem keinen Begriff von Eigentum hat. Deshalb darf der europäische Mensch sein Territorium in Besitz nehmen und seinen Widerstand dagegen brechen, was nicht „Krieg“ heißt, sondern „Entdeckung“. Ich brauche die Gräuel des Kolonialismus nicht weiter zu beschreiben, im Groben dürften sie bekannt sein. Worum es mir hier geht, ist, dass sie mit der staatlichen Unabhängigkeit der ehemaligen Kolonien nicht plötzlich vorbei sind.

„Postkolonialismus“ bedeutet deshalb nicht einfach eine Zeit nach dem Kolonialismus oder einen Ort ohne einen solchen, sondern beschreibt den Versuch, die Geschichte des Kolonialismus beim Verstehen der gesamten Gegenwart mitzudenken, und zwar als eine Geschichte von Ausgrenzung und Eingrenzung, von Zuschreibung und Enteignung, von Gewalt und Herrschaft.

Postkoloniale Theorie und Friedensforschung
Im angelsächsischen und französischen Sprachraum hat sich seit mehreren Jahrzehnten ein wissenschaftlicher Ansatz herausgebildet, der diesen Versuch ausdrücklich aus der Perspektive der „Subalternen“ (Gayatri Chakravorti Spivak) betreibt. Dieser Text hat nicht die Aufgabe, die Vielfalt der hier versammelten Herangehensweisen darzustellen, entscheidend ist vielmehr, dass sie alle von einer Parteilichkeit für die Sichtbarmachung von Ungleichheits- und Machtverhältnissen getragen sind.

Friedenspolitisch bringt Cordula Dittmer das in einem 2018 erschienen Sammelband auf den Begriff: „Postkoloniale Theorie ist damit immer auch politisches Projekt, methodisches Vorgehen und Statement: 'Postkoloniale Theorie interveniert in die eurozentrischen Narrative und die damit zusammenhängende Amnesie Europas, um hegemoniale Strukturen zu transformieren' (Huggan). Dies bedingte auch, die eigenen Privilegien und normativen aufklärerischen Grundlagen wie 'Objektivität' oder 'Werturteilsfreiheit' vieler westlicher Wissenschaften in Frage zu stellen (Brunner) und sich wieder verstärkt an die Gründungszeiten und ursprünglichen Paradigmen der Friedensforschung zu erinnern, in denen normative und damit auch parteiliche Gesellschafts- und Friedensentwürfe selbstverständlich waren (Wasmuth).“ (1)

Eine besonders aktuelle Bedeutung gewann dieser Ansatz nach dem 11. September 2001, als die Bush-Regierung den weltweiten „Krieg gegen den Terror“ ausrief. Gar nicht so sehr im Hintergrund wirkte dabei Samuel Huntingtons These vom „Kampf der Kulturen“ als Rechtfertigungsdiskurs und blendete damit „die Verstrickungen des Westens in die Entstehung dieser Formen des Aufständischen systematisch aus (Barkawi/Laffey; Sciullo). Die Anschläge und Entstehungsbedingungen von Al-Qaida – und ähnliches lässt sich auch für den sogenannte 'Islamischen Staat' (IS) proklamieren – können innerhalb eines de- und postkolonialen Frames als Aufstand lokaler Akteure gelesen werden, der sich gegen die seit dem 1. Golfkrieg zunehmende Dominanz der USA im Mittleren Osten und gegen das Unsichtbarmachen, Ausbeuten und die Exklusion großer Teile nicht-westlicher Gesellschaften an der weltweiten, kapitalistischen Entwicklung richtet (Sciullo; Goyal).“ (Ebda.)

Der von Dittmer zitierte Tarak Barkawi hat mehrfach dargelegt, was er für die Aufgabe der Friedensforschung hält. Ich zitiere hier aus einem Tagungsbericht der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung aus dem Jahr 2015: „Wolle man das Denken über Krieg und Frieden in Forschung, Medien oder im Alltagsverständnis wirklich dekolonisieren, so sei dieses Unterfangen von ‚unten‘ zu beginnen, also mit den fundamentalen Begrifflichkeiten, in denen Denken strukturiert sei. Dazu zählte Barkawi u.a. Begriffe wie Natur, Krieg, Kultur, Wirtschaft oder Kapitalismus; aber auch der Begriff des souveränen Staates sei darunter zu subsumieren. Die Problematik eurozentrischer begrifflicher Konzepte sieht er vor allem in der Universalisierung ursprünglich ‚provinziell europäischer‘ Phänomene und Deutungsmuster. Das dekoloniale Unterfangen liege daher in erster Linie darin, Europa wieder zu provinzialisieren... Neben dem souveränen Staat identifizierte Barkawi auch die Begriffe Krieg und Frieden als essentiell für ein Verständnis dessen, wie Eurozentrismus ‚funktioniere‘ und wie er dekonstruiert werden könne... Derzeit sei Krieg vor allem Teil der binären Konstruktion Krieg/Frieden. In Anlehnung an Carl von Clausewitz plädierte Barkawi dafür, kriegerische Handlungen fortan in einen größeren Zusammenhang von Macht und Gewalt einzubetten, um so die Beurteilung von Krieg und Frieden als kontrapunktisch aufzubrechen. In diesem Kontext diskutierte er den Begriff 'permanent war', den er als 'mix of force and politics' definierte. Jene ‚dauerhaften kriegerischen Zustände‘ seien es, die zu einer Aufrechterhaltung der lokalen, aber auch globalen Ordnung und somit zu einer Perpetuierung (post)kolonial geprägter Herrschaftsverhältnisse führten. Der eurozentrische Dualismus von Krieg und Frieden erfülle letztlich auch die Funktion, westliche Vorstellungen von sozialer und politischer Ordnung friedfertig erscheinen zu lassen. Daher plädierte Barkawi dafür, stattdessen lokale und globale Dimensionen von Macht, Gewalt und Politik als Analysekategorien einzusetzen und zu etablieren.“ (2)

Hegel und Haiti
Bisher könnte es so erscheinen, und das ist in der Tat eine häufig geäußerte Kritik, als gehe es der postkolonialen Theorie vor allem um Diskurse, Gedanken, Wissenschaft. Aber zugrunde liegt dem allen eine der gewaltvollsten und langanhaltendsten Erfahrungen der Menschheit, die transatlantische Sklaverei. Sklaverei gab es seit langer Zeit, aber im neu entstehenden Kapitalismus wird sie konstitutiv. Susan Buck-Morss hat in ihrem Essay „Hegel und Haiti“ Funktion und Bedeutung erklärt. Ich zitiere Christian Frings: „Im ersten Abschnitt konfrontiert sie die gewohnten Erzählungen der europäischen Geschichte mit dem Blick aus Haiti: 'Ist es vorstellbar, dass die Sklaverei auch in Europa, also in den Metropolen der Kolonialmächte selbst, hätte Fuß fassen können?' Sie erinnert daran, dass im Übergang von der mittelalterlichen Leibeigenschaft zur 'doppelt freien' und daher auch unfreien Lohnarbeit des Kapitalismus die Sklaverei sehr wohl eine Option war. Die durch die Einhegungen der Allmenden von ihren Subsistenzmitteln 'befreiten' ehemaligen Bäuerinnen und Bauern mussten erst durch 'grotesk-terroristische Gesetze in eine dem System der Lohnarbeit notwendige Disziplin hineingepeitscht, -gebrandmarkt, -gefoltert' werden, wie Marx im Kapital schreibt. Die Situation der proletarisierten Massen in Europa und der versklavten ProletarierInnen, die aus Afrika in die Karibik verschleppt worden waren, unterschied sich daher keineswegs derart, wie es die späteren Erzählungen erscheinen lassen: 'So bestand das eigentliche Problem (und in Wahrheit gilt das auch noch heute) nicht darin, auf welche Weise man die Arbeiter am gründlichsten ausbeuten konnte, sondern darin, wie sie sich dazu bewegen ließen, sich freiwillig in ihr Schicksal zu fügen.' Die Existenz der Sklaverei auf den Plantagen wurde zur ideologischen Folie, vor der die Ideologie der 'freien Lohnarbeit' erst richtig zur Geltung kam und die strukturellen Zwänge der 'Lohnsklaverei' verdeckt werden konnten. Umgekehrt wurde der rassistische Diskurs umso intensiver, je stärker die Versklavten gegen ihre Unfreiheit rebellierten – oder in den Worten des karibischen Historikers Eric Williams von 1944, die sie zitiert: 'Die Sklaverei ist kein Ergebnis des Rassismus; vielmehr war der Rassismus die Folge der Sklaverei.'“ (3)

Wie kam es dazu, dass Zeitgenossen der haitianischen Revolution, in der sich die Gewalt von ehemals versklavten Schwarzen gegen die weißen Sklavenhalter richtete, wie etwa Hegel, die Geschehnisse nicht als Aufruf zur Befreiung deuteten? Buck-Morss (nach Frings): „Man könnte an dieser Stelle natürlich das Gespenst des Eurozentrismus die Bühne betreten lassen, aber damit würde man die Frage vernachlässigen, wie der Eurozentrismus selbst historisch konstruiert wurde und welche Rolle Haiti dabei möglicherweise gespielt hat.“ Christian Frings kommentiert: „Hegel (folgte) der Politik der neuen globalen Hegemonialmacht, des britischen Empires, das sich in Reaktion auf die haitianische Revolution und der von ihr ausgehenden Unruhe in allen Sklavenökonomien für eine Politik der Regulierung und Einschränkung des Sklavenhandels entschied, um als neuer Regulator produktiver Klassenbeziehungen auftreten zu können. Eurozentrismus wird so als Reaktion der Herrschenden auf ein von Anfang an bestehendes Kampfverhältnis kenntlich gemacht.“

Dieses Kampfverhältnis existiert noch immer und der Postkolonialismus und die ihn bearbeitende Theorie sind darin verortet.

Anmerkungen
1 Cordula Dittmer, Dekoloniale und Postkoloniale Perspektiven in der Friedens- und Konfliktforschung: Verortungen in einem ambivalenten Diskursraum, Baden-Baden 2018
2 https://afk-web.de/cms/wp-content/uploads/2018/03/47_Bericht_AFK-Tagung-...
3 Christian Frings, Plädoyer für einen revolutionären Universalismus, in: ila Nr. 361 Dezember 2012 https://www.ila-web.de/ausgaben/361/pl%C3%A4doyer-f%C3%BCr-einen-revolut...

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Werner Rätz ist aktiv bei der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn und für diese im Koordinierungskreis von Attac Deutschland, ebenfalls im Blockupy-Kokreis. Webseite: www.werner-raetz.de