Deutsches Reden über Roma und andere Ausgegrenzte

Rechtsextremismus in neoliberalen Zeiten

von Juliane Pilz

In den folgenden Bemerkungen geht es um die alltägliche und politische Diskriminierung von Roma als am meisten tabuisiertes Symptom von Rechtsextremismus in der Mitte der Gesellschaft. Die Art und Weise, wie über sie geredet wird, signalisiert eine Militarisierung des Denkens, die sich jenseits militärischer Aspekte nur noch um die eigene Sicherheit dreht.

Die Einrichtung neuer Notunterkünfte für Schutz und Arbeit suchende Flüchtlinge vor allem aus Mazedonien, Serbien, dem Kosovo, Bulgarien oder Rumänien seit letztem Jahr fördert die offene und unterschwellige Verachtung wieder zutage, die „Deutsche“ insbesondere gegenüber „Zigeunern“, prinzipiell aber gegen alle zu unerwünschten „Ausländern“ erklärten Menschen und Menschengruppen hegen.   

Ignoranz und Indifferenz gegenüber den politischen und sozialen Gründen, welche Menschen zu Flucht und Auswanderung treiben, sowie die fortschreitende Relativierung und Historisierung der verfassungs- und völkerrechtlichen Lehren aus den beiden Weltkriegen, aus Antisemitismus, Rassen- und Vernichtungswahn lassen sich immer dann erkennen, wenn Menschen von Staat und Medien als „Sozialschmarotzer“ „Asylbetrüger“ oder „Wirtschaftsflüchtlinge“ etikettiert werden. Dann zeigen die offen oder suggestiv verschleierten Diskurse  über „unsere“ Sicherheit, „unsere“ Kultur und „unsere“ Werte ihre verborgene Wirkungsmacht.

Am Reden über „die Fremden“ lässt sich die Verfremdung anderer und die eigene Entfremdung von Grundregeln und Grundbedingungen menschlichen Zusammenlebens deutlicher ablesen, als an der schleichenden und wortreich verbrämten Aushöhlung aller sozialverträglichen und friedenstauglichen Standards in der globalisierten Krisengesellschaft.

Was auf der politischen Agenda seit 1990 als Verteidigung der Privilegien der reichen Industrienationen mit marktradikalem Umbau der Gesellschaft(en) und neuen Feindbildern umgesetzt wurde, manifestiert sich 20 Jahre später als „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ (s.u.) mit autoritär-faschistoiden Denkweisen in der bürgerlichen und als gebildet geltenden „Mitte der Gesellschaft“.

Rechtspopulismus und Rechtsextremismus im Jahr 2012
Seit spätestens 1990 stellen wissenschaftliche und sozialempirische Untersuchungen eine gefährliche Normalisierung menschenfeindlicher und Gewalt duldender Einstellungen in unserer Gesellschaft fest. Allein in den beiden Langzeitstudien „Deutsche Zustände“ (1) und „Mitte im Umbruch (2) spiegelt sich das Wiederaufleben von Ideologien und Denkweisen wider, die Abermillionen Juden, Romvölker, Behinderte, Homosexuelle oder so genannte „Arbeitsscheue“ moralisch diffamiert und schutzlos der Massenvernichtung ausgeliefert haben.

Über ein Drittel der Deutschen vertritt die Meinung, „dass bestimmte soziale Gruppen nützlicher als andere“ seien; geringfügig weniger sind der Überzeugung, eine Gesellschaft könne sich Menschen, die wenig nützlich sind, nicht leisten und bis zu 16 % unterscheiden wieder zwischen wertvollem und unwertem Leben. (3) Bei näherem Hinsehen ist an den differenzierten Befragungen ein diffuses Gemisch aus tradiert antisemitisch-rassistischen, kulturell und sozial überheblichen und national-autoritären demokratiefeindlichen Einstellungen abzulesen.

Zwischen 50 und 60 Prozent der Deutschen lehnen Roma und Sinti in ihrer Umgebung ab. Aktuell sind es 58 %. 44 % sind überzeugt, dass „Zigeuner“ zur Kriminalität neigen.

„Die islamische Welt“ bezeichnen 57 % als rückständig“,  46 % sind der Meinung, dass es in Deutschland zu viele Muslime gebe.

Bis zu 30,4 % sagen, Ausländer kommen nur nach Deutschland, um den Sozialstaat auszunutzen, und bis zu 27,2 % stimmen einer „gefährliche Überfremdung“ zu.

Bis zu 21 % unterstellen Juden üble Tricks, um zu erreichen was sie wollen. Bis zu 23,7 % befürworten eine einzige starke Partei, die die „Volksgemeinschaft insgesamt verkörpere“. Bis zu 15,1 Prozent halten einen Führer, der Deutschland mit starker Hand zum Wohle aller regiert, für notwendig.  

Ohne hier auf die komplexe und in sich auch widersprüchliche Entwicklung der innen- und außenpolitischen Neuorientierungen des vereinten Deutschland im vereinten Europa eingehen zu können, hat der Zerfall des bipolaren Weltsystems die seit Ende des 2. Weltkrieges geltende normative Ausrichtung an friedlicher Konfliktlösung, Menschenwürde und Menschenrechten zugunsten partikularistischer Eigeninteressen der reichen Industriestaaten abgelöst. Einfallstor für die „soziale Ungerechtigkeit“ hier und anderswo ist die Auseinandersetzung mit ethnisch-kulturellen, religiösen und nationale „Werten“. Unterschiede in den Entwicklungen werden a-historisch und a-sozial an Kategorien wie „nützlich - nicht nützlich“ oder „höherwertig-minderwertig“ abgehandelt.

Die heute offiziell beklagte sträfliche Vernachlässigung des (im weiteren Sinne als NSU) national-sozialistischen Untergrundes mit seinen den heutigen Verhältnissen angepassten Ideologien, Propagandamethoden und Aktionsformen ist ein Symptom der rechtsextremen Wende - so wie der praktizierte Ausländerhass mit mörderischer Gewalt gegen Schwarze, Obdachlose oder „linke Zecken“  nur eine ihrer Facetten ist.

Sehr viel nachhaltiger wirkt die Allgegenwart  gewählter und selbst ernannter Eliten in den Medien, welche sich lautstark und mit hoher Resonanz den Gefahren der „Überfremdung unserer“ Grundwerte, Grundrechte, Kultur, Sitten oder Sprache widmen. Schlagzeilen wie „Deutschland schafft sich ab“ (4) bringen nicht nur hohe Einschaltquoten, sondern finden auch den größten Absatz  beim lesekundigen und gebildeten Käuferpublikum. „Endlich mal jemand, der den Mut hat, die Wahrheit zu sagen“, „Man ist ja kein Rassist, aber man wird ja wohl noch sagen dürfen, dass …“.

„Menschenfeindlichkeit wird erkennbar in der Betonung der Ungleichwertigkeit und der Verletzung von Integrität, wie sie in öffentlichen Aussagen von Repräsentanten sozialer Eliten … formuliert, in Institutionen oder öffentlichen Räumen artikuliert bzw. in privaten Kreisen durch Angehörige ganz unterschiedlicher Altersgruppen reproduziert werden, so dass sie auch von bestimmten politischen Gruppen - vornehmlich rechtsextremer Couleur - zur Legitimation manifester Diskriminierungen oder gar Gewaltakten genutzt werden können…“(5).

Feindbild Roma und Antiziganismus
Als im Laufe des letzten Jahres wieder vermehrt Roma Minderheiten aus den durch die NATO „humanisierten“ und „demokratisierten“ Balkanstaaten in Deutschland Schutz vor sozialer Ausgrenzung und Verfolgung suchten, gingen die Wogen der Ablehnung dieser europäischen Bevölkerungsgruppe wie gewohnt besonders hoch. „Warum ausgerechnet bei uns?“ wurde die Meinung entsetzter Nachbarschaften für vorübergehend geplante Notunterkünfte in der Presse reproduziert (7). Ihre de facto Rechtlosigkeit und soziale Ausgrenzung - Müllkippen, Ghettos, Blechhütten ohne Wasser, Heizung und Strom -, welche die Menschen gerade zum Wintereinbruch zum Weggehen zwingen, kamen in den aufgeregten Kontroversen kaum vor. Dominierend sind die tradierten und systematisch geschürte Vorurteile: „Diebisches Volk, von Natur aus nicht sesshaft, qua Kultur und Geburt nicht assimilierbar“. Bedächtige Stimmen wie die einer Rentnerin „Ich habe schon Vorurteile gegen die Roma, man hört ja viel Schlechtes, aber ich weiß auch, dass die nur abgebaut werden können, indem man die Menschen kennen lernt“ (8), sind eine schon an Zivilcourage grenzende Ausnahme. Wer will sich schon gegen den Mainstream von 58 % der Deutschen stellen, die sich des unbearbeiteten Antiziganismus im Unterschied zum Antisemitismus gar nicht bewusst sind? Von den Medien verbreitete Schlagworte wie „Euronomaden“ (9)  „Zigeunerinvasion“ (10) oder „romaspezifische Kriminalität“ (11) tragen nicht zur Stärkung von bürgerlichen Tugenden wie Unvoreingenommenheit, Respekt und Hilfsbereitschaft bei, wie sie offiziell gefordert und von der zitierten älteren Dame vertreten werden.

„Ressentiments ziehen sich durch alle gesellschaftlichen Schichten, bis in die Verwaltungen und die Behörden“ sagt die Leiterin der Sozialberatung von Rom e.V. in Köln. Zugewanderte EU-BürgerInnen aus Rumänien oder Bulgarien  ebenso wie ehemalige Gastarbeiter und Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem früheren Jugoslawien haben Erfahrungen mit Diskriminierung bei der Arbeit, in der Nachbarschaft, in Gaststätten und anderen Orten. „ Du kannst mich gerne im Praktikum besuchen, aber sag’ bitte nicht, dass ich Roma bin, sonst lassen die mich nicht mehr an die Kasse“, zitiert die Sozialberaterin eine junge Frau. Bei der Antidiskriminierungsstelle des Bundes heißt es, dass „rassistische Parolen gegenüber Sinti und Roma in Deutschland noch immer an der Tagesordnung“ seien. Der Menschenrechtskommissar des Europarats verweist auf die Hetze deutscher Rechtsextremer im Internet mit Aufrufen zur „Sonderbehandlung“ für Roma. Sonderbehandlung bedeutete im Hitlerfaschismus den Abtransport für Juden, Sinti, Roma und Behinderte in die Gaskammern (12).  

Die weitgehend fehlende kritische Resonanz, mit welcher dem gnadenlosen Umgang mit Romaflüchtlingen im Alltag und politisch begegnet wird, wirft auch für die sozialen, antifaschistischen, antimilitaristischen und Menschenrechtsbewegungen die Frage auf, wie weit sie sich der Tragweite der Illegalisierung und Kriminalisierung von Roma und Sinti als Treibriemen für den Abbau sozialer Grundrechte und für die Militarisierung des Denkens bewusst sind.

Anmerkungen:
1 Bielefelder Institut für Sozialforschung, Deutsche Zustände, Folge 1 - 10, Suhrkamp Verlag 2002 - 2012

2 Friedrich-Ebert-Stiftung, Mitte im Umbruch. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2012, Dietz Verlag 2012

3 Quellennachweise: Deutsche Zustände, a.a.O, Folge 9, S. 212; Mitte im Umbruch, a.a.O. S.29/30;  Deutsche Welle 8.4.2012, Antiziganismus - Die Mehrheit macht sich ein Bild; ARD 20.11.2012 , Menschen bei Maischberger, Feindbild Sinti und Roma.

4 Thilo Sarrazin, Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen, DVA 2010  

5 Wilhelm Heitmeyer, Deutsche Zustände a.a.O., Folge 10, S. 212

6 MDR Fernsehen 13.11.2012, Geschichte des Rechtsextremismus (in Zusammenarbeit mit ARTE)

7 WAZ, 17.11.2012, Warum ausgerechnet bei uns?

8 WAZ 7.11.2012, Bürger machen ihrem Ärger wegen Übergangswohnheim für Asylbewerber Luft

9 DER SPIEGEL 32, 1993, S. 64

10 ebd.

11 Chefredakteur der Schweizer Weltwoche in ARD 20.11.2012 Menschen bei Maischberger

12 Quelle der Zitate und Angaben: Deutsche Welle 8.4.2012,  Antiziganismus .. .

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Hintergrund
Juliane Pilz, langjährige Tätigkeit bei ProAsyl/ Flüchtlingsrat Essen und Essener Friedens-Forum.