Redebeträge der Auftaktkundgebungen: Süd (Landesbehördenhaus)

von Jürgen Trittin

Den Marsch ins hässliche Deutschland verhindern

Liebe Freundinnen und Freunde, Kolleginnen und Kollegen, Genossinnen und Genossen!

Die Bundesrepublik steht vor einer historischen Entscheidung. Diese Entscheidung ist mit der Warnung vor einer großen Ko­alition unvollständig beschrieben.

Diese historische Entscheidung ist vielleicht vergleichbar mit der Auseinandersetzung um die Wiederbewaffnung in den fünfziger Jahren und der Auseinandersetzung um die Not­standsgesetze Anfang der Sechziger. Egal wie diese Entschei­dung ausgeht, sie wird den Charakter dieses Deutschland stär­ker verändern als der Kampf um die "Nachrüstung" zu Beginn der Achtziger.

Es geht nicht nur darum, ob morgen deutsche Soldaten in aller Welt mitballern dürfen. Es geht nicht nur darum, ob eine zum Geheimdienst verwandelte Polizei unsere Wohnungen ver­wanzen darf. Und um die Lösung der aus Flucht und Einwan­derung entstehenden Probleme geht es überhaupt nicht.

Es geht heute um nichts anderes als den demokratischen Cha­rakter dieser Gesellschaft!

In Deutschland kam und kommt Herrschaft nicht ohne einen Feind aus. Der ebenso schrecklichen wie schützenden Mauer beraubt, wehrlos der selbst über Jahre vom Ostblock gefor­derten Freiheit ausgesetzt, wächst hier die Gier nach neuen Feindbildern. Deswegen redet die Bundesregierung den Staatsnotstand herbei - einen Staatsnotstand, an dem mal wie­der die Opfer schuld sein sollen.

An allem Unglück im wiedervereinigten, großen Deutschland ist nur der "Asylant" schuld - von der Arbeitslosigkeit über die Wohnungsnot bis hin zur Krise der Staatsfinanzen.

Das ist die zentrale Aussage der von der CDU von Wahl­kampf zu Wahlkampf inszenierten Kampagne gegen Flücht­linge. Das Ergebnis: Rassismus ist zum Alltag, Antisemitis­mus zum Zeitgeist und Wohlstandschauvinismus zur herr­schenden Ideologie geworden.

Die Zwischenbilanz dieser Asylkampagne ist grausam: In die­sem Jahr gab es 435 Brandanschläge und 346 ausländerfeind­liche Körperverletzungen, zählte selbst das BKA; 13 Men­schen starben bei rassistischen Gewalthandlungen.

Diesem Terror treten wir heute entgegen! Den Pogromen muß begegnet werden! Pogrome beginnen im Kopf!

Wer ihnen begegnen will, kann sich nicht darauf beschränken, Straftaten zu verfolgen, er darf auch nicht dazu beitragen, scheinheilige Begründungen des braunen Mobs zu legitimie­ren. Wer Pogromen begegnen will, muß mit der Sünden­bocktheorie brechen.

Im Sofortprogramm der SPD heißt es: "Politik braucht den Mut zur Wahrheit." Wie wahr!

Ist wahr, daß die Flüchtlinge die Ursache der Wohnungsnot sind? Oder sind sie nicht zusammen mit AussiedlerInnen, al­leinerziehenden Frauen und Arbeitslosen die Opfer des Man­chester-Kapitalismus auf dem Wohnungsmarkt?

Und wer muß sich vor wem fürchten: Der Deutsche vor dem Flüchtling, der gegen seine Aufenthaltsbeschränkung verstößt, weil er Bekannte im Nachbarlandkreis besucht? Oder müssen nicht die Flüchtlinge vor den Deutschen Angst haben, die un­ter die Betten ihrer Kinder Brandsätze werfen, Vietnamesin­nen vergewaltigen und Schwarze auf offener Straße tottreten?

Ist es etwa nicht wahr, daß die Kosten für die Unterbringung von Flüchtlingen 1991 in Deutschland ein Fünftel der Waffen­hilfe für den Golfkrieg ausmachten? Und ist es - liebe Genos­sinnen und Genossen - nicht ein Ausweis politischen Anstan­des, dieses Geld lieber für Unterkunft und Verpflegung aus­zugeben als für Mord und Totschlag?

Nein, wer den Anspruch erhebt, den Menschen die Wahrheit zu sagen, der muß als erstes Nein zur Lüge sagen.

Es ist eine Lüge, daß eine Änderung des Artikel 16 einen ein­zigen Arbeitsplatz mehr schafft, eine billige Mietwohnung mehr baut. Wer glaubt, mit einer solchen Änderung wieder Luft für andere Diskussionen zu bekommen, wird sich grau­sam irren. Ihm werden schon am Tag nach der Verfassungs­änderung die Ohren von seinen nicht gehaltenen und nicht haltbaren Versprechungen klingen.

Wer den Anspruch hat, die Wahrheit zu sagen, der muß mit der Politik der falschen Versprechungen brechen.

Er muß die Wahrheit aussprechen, daß die Bundesrepublik weiterhin Ziel von Einwanderungs- und Fluchtbewegungen sein wird.

Die Verbieger des Grundgesetzes, die sich in Bundestag und Bundesrat um eine Zwei-Drittel-Mehrheit mühen, wollen neue Grenzen. Sie wollen sich ein- und andere ausgrenzen.

"Wir werden neue Grenzen um Deutschland ziehen müssen. Das weiß doch jeder." erklärte Björn Engholm in der Frank­furter Rundschau am 24. Oktober, keine zwei Monate vor dem Wegfall der Grenzen im europäischen Binnenmarkt, keine drei Jahre nach dem bejubelten Fall der Mauer.

Ja was denn für Grenzen? Mit Mauer und Stacheldraht? Mit einem Schießbefehl, für den jetzt die einstigen Gespräch­spartner vom ZK der SED vor Gericht stehen?

Nein, selbst die Stoibers und Schönhubers wissen, daß man in diesem Europa die Grenzen nicht einfach dicht machen kann. An die Stelle der territorialen Ausgrenzung soll die soziale und gesellschaftliche treten. Eine Zwei-Dritte-Gesellschaft haben wir schon - heute geht es darum, den Sozialstaat nach ethnischen Kriterien abzugrenzen.

 

Der Demozug aus Bonn-Beuel während der Auftaktveran­staltung     

Dies wird nicht bei Flüchtlingen haltmachen. In Ostdeutsch­land wird schon der Missbrauch des Sozialstaates entdeckt. Heute wird Ausländern (nicht nur Flüchtlingen) die Sozial­hilfe gekürzt - und morgen Behinderten, Rentnern ... Deshalb geht es beim Artikel 16 auch um originär sozialdemokratische Grundwerte.

Die politische Rechte will eine Republik der sozialen Kälte, der Aggression nach außen und der Bespitzelung nach innen. Die Antwort der SPD darauf ist nicht Widerstand, sondern Kollaboration. Selten ist ein Kotau so als Ausweis von Füh­rungsstärke verkauft worden wie der Umfall von Petersberg.

Der von mir sehr geschätzte Kollege Herbert Schnoor, noch vor einem halben Jahr einer der klügsten und sachkundigsten Verteidiger des Asylrechts, hat diesen Umfall gestern damit gerechtfertigt, daß sonst "die demokratischen Parteien den Rechtsextremisten in die Hände spielen".

Das Gegenteil ist richtig.

Rechtsradikale und Faschisten bekämpft man nicht dadurch, daß man ihnen entgegenkommt. Das Rezept: Ich kenne keine Parteien mehr, sondern nur noch Republikaner, ist keine Lö­sung, sondern die Selbstaufgabe einer sozialen, demokrati­schen und ökologischen Politik.

Liebe Freundinnen und Freunde, Kolleginnen und Kollegen, Genossinnen und Genossen,

ich habe zu Beginn an die jede Dekade stattfindenden großen Auseinandersetzungen in der Gesellschaft der Bundesrepublik erinnert. Ob Wiederbewaffnung oder Notstandsgesetze, ob in Initiativen, in Bürgerrechtsgruppen, in der Gewerkschaft - wir haben diese Auseinandersetzung immer dann verloren, wenn sich die SPD mit der politischen Rechten gegen uns verbün­dete. Auf die Wiederbewaffnung folgte formierte Gesellschaft der Fünfziger, auf die Notstandsgesetze die Friedhofsruhe der Großen Koalition. Die Erfindung der Nachrüstungslücke durch Schmidt hat uns die geistig-moralische Wende des Helmut Kohl beschert.

Bürgerbewegte und Gewerkschafter, Pazifisten und Ökologen haben diesen Rückschritt immer wieder mühsam zurückge­kämpft, von der Studentenrevolte 68 bis zur Friedensbewe­gung haben wir der Demokratie mehr Luft und frischen Wind verschafft.

Aber es gibt Dinge, die sind nicht umkehrbar. Die aufgege­bene Friedensstaatlichkeit des Grundgesetzes ist nur um den Preis eines neuen Krieges erneut festzuschreiben. Ein (teil)abgeschafftes Grundrecht auf Asyl wird nur um den Preis einer neuen Diktatur zurückzubekommen sein. Beides waren Errungenschaften der schlimmsten Diktatur und des brutalsten Krieges in der Geschichte der Menschheit.

CDU und FDP haben den Nachkriegskonsens von 1948 schon lange verlassen. Es liegt heute in der Hand der SPD, ob der Marsch in eine andere Republik, in ein großes und hässliches Deutschland unumkehrbar wird.

Eine humane, demokratische Republik bedarf unendlicher Mühen und harter Kämpfe. Nur der Anfang, liebe Delegierte des Parteitages der SPD, ist einfach - aber es ist auch einfach unverzichtbar.

Sagt Nein! Es ist nicht schwer, einfach Nein!

Es kann sein, daß dabei der Rücken weh tut. Das ist ein gutes Zeichen. Nur ein Rückgrat, das man hat, kann schmerzen.

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Jürgen Trittin ist Niedersächischer Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten.