Strategie-Überlegungen gewaltfreier Bewegungen in den USA

von Joanne Sheehan

Hunderttausende Menschen waren Ende August in New York, um gegen die Versammlungen der Republikanischen Partei (Republican National Conventions/ RNC) vom 30. August bis zum 2. September zu protestieren, ihnen entgegenzustehen und/oder sie zu stören. Der folgende Artikel, der vor den Protesten geschrieben wurde, befasst sich mit der Strategie gewaltfreier Bewegungen in den USA. Die Autorin gehört zu der War Resisters` League (WRL), einer großen pazifistischen Organisation in den USA.

Vor allem die Antikriegsbewegung nutzte die Gelegenheit zum Zeitpunkt der RNC zusammenzukommen, um dort sichtbar und dramatisch ihre Gegenhaltung zum andauernden Krieg des Landes auszudrücken. Die von Frauen gegründete Kampagne Code Pink sagte: "Wir werden da sein, um den Republikanern zu zeigen, dass wir genug von Bushs Lügen und Vertuschung des Krieges und der Besetzung haben." Die breite Antikriegskoalition United for Peace and Justice erklärte: "Die Welt sagt `Nein!` zur Bush-Agenda." Und die Aufforderung der WRL zum zivilen Ungehorsam lautete: "Unser Ziel ist es, die Regierung mit dem Tod und Leiden, für das sie verantwortlich ist, zu konfrontieren."

Gleichzeitig wussten wir, dass Protest nicht ausreicht. Demonstrationen allein beenden keinen Krieg. Die umfassenden Proteste haben weder die Kriege gegen Afghanistan oder den Irak beendet, noch den "Krieg gegen Terror" verhindert. Noch nicht mal dem Vietnamkrieg haben Demonstrationen alleine ein Ende gesetzt, obwohl die damalige Antikriegsbewegung die sichtbarste und erfolgreichste aller Zeiten war.

Die Elemente der Veränderung
Weil sich die WRL ausdrücklich gewaltlosen Aktionen zur sozialen Veränderung verschreibt, schauten wir oft auf das Beispiel Mohandas Gandhi. Er bildete vom britischen Empire aus die am weitesten reichende Philosophie und Strategie zur gewaltlosen Veränderung, die jemals geäußert wurde. Gandhi beschreibt die drei Elemente der sozialen Veränderung als persönliche Entwicklung, konstruktive Arbeit zur Herausbildung der neuen Gesellschaft und politische Aktion, um sich direkter und struktureller Gewalt zu widersetzen. Seine bevorzugte politische Aktion war nicht der Protest, sondern das "Nicht-Mitmachen": Unter seiner Leitung hörten viele Inder auf, das zu tun, was die Briten wollten. Dies war eine von vielen Taktiken innerhalb einer Kampagne mit bestimmten Zielen. Es war auch Teil des konstruktiven Programms. Das Spinnrad zu benutzen und die importierte, britische Kleidung zu verschmähen, gab den Indern nicht nur Kleidung, sondern auch ein Gefühl von Gemeinschaft und Selbstgenügsamkeit.

Das Schlüssel-Beispiel für das "Nicht-Mitmachens" war Gandhis Salzmarsch, an dem alle teilnehmen konnten. Es war eine Kampagne zur Herausforderung der britischen Steuer und ihr Monopol auf Salz, ein lebensnotwendiges Gut. Es war auch eine Kampagne zur Mobilisierung einer maximalen Teilnehmerzahl: Jeder konnte teilnehmen, indem er indisches Salz sammelte oder kaufte, oder indem er Läden mit britischen Produkten boykottierte oder bestreikte. "Gandhis Salzmarsch war nicht nur politisches Theater", sagte Arundathi Roy in einer Rede beim 4. Weltsozialforum in Mumbai, Indien. "Als in einem einfachen Akt des Widerstandes tausende Inder zum Meer marschierten und ihr eigenes Salz machten, brachen sie die Salzsteuergesetze. Es war ein direkter Streik am wirtschaftlichen Unterbau des britischen Empires. Es war real."

"Unser Salz"
Ich habe einige Strategie-Workshops durchgeführt, in denen die Leute fragten: "Was ist unser Salz? Gibt es eine Sache, die wir alle brauchen und mit der wir uns widersetzen können?" Ich weiß nicht, ob es diese Sache im heutigen Kontext gibt, und ich habe die Befürchtung, dass die Suche nach "unserem Salz" zur Suche nach der magischen, allheilenden Pille wird. Falls jeder, der dem Krieg entgegensteht, sich weigert, für ihn zu zahlen, wäre das beispielsweise ein direkter Streik der wirtschaftlichen Untermauerung des amerikanischen Empires. Es wäre allerdings nicht das Ende des Kampfes. Der Salzmarsch erweckte die Kraft der Inder, die sie Schritt für Schritt zur Unabhängigkeit und dem eigentlichen Ziel Gandhis Kampagne führte. Allerdings lagen zwischen Salzmarsch und Unabhängigkeitserklärung Indiens17 Jahre.

Mit anderen Worten: Zum sozialen Wandel gibt es keine Abkürzung. Es gibt keinen leichten Weg, Kriege, Habsucht, Hass und Lügen zu stoppen. Dazu braucht es kreatives, strategisches Denken und dazu braucht es Aufopferung. "Ferien-Proteste" (oder sogar Wochenproteste für die wir uns ein paar Tage frei nehmen) genügen nicht, erinnert uns Roy. Während FriedensaktivistInnen in New York sind, um "Nein!" zur Bush-Regierung zu sagen, sollten sich PazifistInnen auch darum kümmern, ein Klima zu schaffen, welches die Menschen dazu ermutigt, unseren Perspektiven Beachtung zuschenken. In vielen erfolgreichen Bürgerrechtsbewegungen war es klar, dass während sie einen klaren Gegner adressierten, zu einem größeren Publikum gesprochen wurde. Gewaltfreie Aktionen sprechen zu solchen, die am wenigsten zur Änderung bereit sind, aber diese Konfrontation schafft auch einen Dialog mit denjenigen, die den Zielen solcher Aktionen weniger klar entgegenstehen. Wir von der WRL müssen das in unsere Strategie mit einbeziehen.

Die Antikriegsbewegung braucht auch Erfolge, wie Roy auf dem Sozialforum sagte: "Unsere Bewegung braucht einen großen, globalen Sieg. Es reicht nicht, Recht zu haben. Manchmal, wenn auch nur zur Prüfung unseres Vorsatzes, ist es wichtig, etwas zu gewinnen." Das ist das grundlegende Prinzip der Organisation: Etwas zu gewinnen, schafft Stoßkraft, dadurch dass es Stärke aufbaut - und Stärke zeigt. Das verstand Gandhi und das verstanden die Strategien der Bürgerrechtsbewegung.

FriedensaktivistInnen aber haben diese grundlegende Vorraussetzung nicht so klar verstanden. Und innerhalb der Friedensbewegung hatte die WRL und andere Gruppen, die jedem Krieg entgegenstehen und radikale Veränderung wollen, es noch schwerer mit ihrem strategischen Denken, - so als ob diese radikale Veränderung der Identifizierung von konkreten, kurzzeitlich messbaren Zielen im Wege stünde, die uns letztendlich zu dieser Veränderung führen.

Das ABC der Strategie
Trotzdem waren die gewaltfreien Kampagnen die effektvollsten, in denen Menschen für eine radikale Veränderung arbeiteten. Die feministische Autorin und Aktivistin Charlotte Bunch schrieb in "Understanding Feminist Theory" über den Prozess, den wir durchlaufen müssen, um Strategien zu entwickeln: beschreiben, analysieren, eine Vision entwickeln und dann eine Strategie, die von dieser Vision erwächst. Dies ist die Grundlage, um Ziele zu schaffen.

Beim Fehlen von guter Analyse können wir Aktivisten uns unsere eigene Rhetorik zur Hand nehmen, um tiefere Wahrheiten zu erkennen. Die Antikriegsbewegung lief im Februar 2003 unter dem Motto "Stopp den Krieg". Als wir da versagten, fühlte sich ein Teil der Bewegung so hilflos, dass die Leute nicht wussten, was sie tun sollten. Wir haben so hektisch gearbeitet, dass es keine Strategie für den Fall gab, dass der Krieg startete (außer in ein paar Ausnahmen wie in San Francisco). Wir verloren einige, die am 15. Februar bei uns waren, da sie durch den Ruf "die Truppen zu demoralisieren" zum Schweigen gebracht wurden, eingeschüchtert durch die patriotische Leidenschaft, die zu Kriegszeiten eintritt. Wir hatten dieses Phänomen bereits während des ersten Golfkrieges beobachtet. Doch wo war unsere Strategie, dem entgegenzutreten?

Die Sache mit der Vision
Es ist schwer eine Vision zu erschaffen von dem, was wir wollen, wenn wir feststecken, uns auf das zu konzentrieren, was wir nicht wollen. Ohne eine Vision sind unsere Aktionen nichts als Reaktionen, Proteste, die leicht ignoriert werden können. Wir verbrauchen wenig Zeit und Energie darauf, unsere eigene Agenda festzustecken. Vielleicht ist ein Teil des Problems, dass wir verschiedene Dinge wollen. Wollen wir Reform oder Revolution? Was ist unsere Vision einer ökonomischen Gerechtigkeit? Wollen wir nur diesen Krieg beenden oder alle Kriege? Welche Veränderungen sind wir bereit in unserem eigenen Leben zuzulassen, um eine gerechte und friedliche Welt zu schaffen? Viele Menschen arbeiten beispielsweise konstruktiv gegen Rassismus, für erneuerbare Energie oder ökonomische Gerechtigkeit. Aber es muss eine klarere, allgemeine Vision geben und Programme, Leute zusammenbringen, um an dieser Vision zu arbeiten. Und es muss ein Verständnis für die Verbindung zwischen den einzelnen Teilgebieten geben.

Wir sind mit Martin Luther King, Jr. einer Meinung, dass "unsere einzige Hoffnung in unserer Fähigkeit liegt, den revolutionären Geist wieder einzufangen, und hinaus in eine manchmal feindliche Welt zu gehen, um Armut, Rassismus und Militarismus unendliche Feindschaft zu erklären." Er verstand, dass wir nicht eines loswerden können, wenn wir nicht an allem arbeiten.

Von Analyse zu Strategie
Um eine effektive, gewaltfreie Strategie zu entwickeln, müssen wir strategisch denken lernen. Der erste Schritt ist, von früheren, erfolgreichen Kampagnen zu lernen (aber wissend, dass Fallstudien keine Vorlagen sondern nur Inspiration sind). Organisiere ein Diskussionsforum, um einige zu studieren. Beschreibe und analysiere die derzeitige Situation und diskutiere, was hier und jetzt funktionieren könnte.

Und letztendlich müssen wir natürlich einen allgemeinen Plan entwickeln. In Roys Mumbai-Rede schlug sie vor: "Wir müssen zum weltweiten Widerstand gegen die Besetzung werden. Unser Widerstand muss mit der Weigerung beginnen, die Legitimität der U.S.-Besetzung des Iraks zu akzeptieren. Das bedeutet Handeln, um das Ziel des Empires materiell unmöglich zu machen. Das bedeutet, Soldaten sollten sich weigern zu kämpfen, Reservisten sollten sich weigern zu dienen, Arbeiter sollten sich weigern, Schiffe und Flugzeuge mit Waffen zu beladen." Des weiteren schlägt Roy vor, "uns mit irgendwelchen Mitteln zwei Handelsgemeinschaften zu suchen, die von der Zerstörung des Iraks profitieren und sie zu stillzulegen. Es ist eine Frage, unser gesammeltes Wissen und unsere Erfahrung dazu zu bringen, ein Ziel zu verfolgen. Es ist eine Frage unseres Willens zu siegen."

Aber wir müssen den "Willen zu siegen" in die Mechanismen gewaltfreier Kampagnen übersetzen: Ziele setzen, kreative Strategien entwickeln und eine Vielzahl von Taktiken anwenden. Eine Kampagne ist mehr als eine Gruppe von Projekten in einem Topf geworfen. Es ist mehr als die gleiche Sache wieder und wieder zu tun (wie wir es mit vielen Flugblatt-"Kampagnen" tun). Die Stärke einer gewaltfreien Kampagne liegt in der kreativen Kombination der einzelnen Teilgebiete - Forschung, Bildung, Schulung, Zusammenarbeit mit Verbündeten, Vorstellung von Alternativen und letztendlich Organisation von Aktionen, die von legalen Demonstrationen bis hin zum zivilen Ungehorsam reichen. Eine Kampagne sollte Leute zu Prozessen der Bevollmächtigung führen - die individuelle Bevollmächtigung der Teilnehmer und die kollektive Bevollmächtigung der organisierenden Gruppen. Eine Weiterentwicklung von Kampagnen kann uns zu der sozialen Befähigung bringen, die uns zu dem sozialen Wandel führt, an dem wir arbeiten. Während wir Kampagnen entwickeln, müssen wir darauf achten, uns keine zu weiten und zu flachen Ziele zu setzen, die zwar viele Leute an Bord ziehen, aber nichts verändern. So wie PazifistInnen schnell Ziele kritisieren, die zu viele Kompromisse eingehen, sind wir nicht gut darin, Ziele zu entwickeln, bei denen wir Siege erfahren können und uns weiterbewegen. Wir müssen daran arbeiten, diese Balance zu finden.

Etwas Wichtiges in unserer Trickkiste fehlt. Wir müssen lernen zu organisieren sowie zu mobilisieren. Die Friedensbewegung mobilisiert mehr als sie organisiert (Nachtwachen, Demonstrationen und Bildungsforen zu organisieren, ist nicht dasselbe, wie eine Bewegung zu organisieren). Wir mobilisieren die Leute, die sowieso mit uns übereinstimmen. Wir haben nicht die Techniken des Organisierens entwickelt ganze Gemeinschaften zu mobilisieren. Organisation bringt Menschen zusammen, um zu einem politischen Ziel fortzuschreiten. Um das zu tun müssen wir an die Menschen herantreten, Beziehungen aufbauen, zuhören und in den Dialog einbinden. Wenn Menschen verstehen, wie sehr sie ein Problem angeht, sind sie eher dazu fähig, dagegen anzukämpfen. Organisation heißt, die Menschen in diesem Kampf zusammenzubringen. Die erfolgreichsten gewaltfreien Kampagnen finden Wege für die Menschen, die sich betroffen fühlen, ihre Macht auszuüben.

Die Herausforderung
Howard Richards, Professor am Earlham College, formulierte in einem Brief an seine Hochschulabsolventen diese Herausforderung:

"Ich hoffe, Sie, als Absolventen der Friedensstudien, sind nicht in der Versuchung, sich zu sehr auf das zu konzentrieren, was die Menschen am ehesten bereit sind zu hören, sondern dass Sie das, was die Menschen bereit sind zu hören, als Scharniere nutzen, Türen für Veränderungen zu öffnen. Die Menschen sind bereit zu hören, dass der Krieg falsch geführt wurde. Sie sind bereit zu hören, dass einige Menschen privaten Profit aus dem Tod anderer ziehen. Als akademischer Idealist, hoffe ich, dass die Absolventen der Friedensstudien 2004 der Versuchung widerstehen, sich ausschließlich auf Beschwerden, wie diese zu konzentrieren. Sie können leicht innerhalb der Paradigmen, die keine Lösungen bringen, verstanden werden."

Unsere Herausforderung ist es, diese Scharniere zu finden.

Übersetzerin: Mareike Winter
 

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Joanne Sheehan, Vorsitzende der War Resisters` International, arbeitet mit bei der War Resisters` League in New England. Der Beitrag wurde redaktionell mit Einverständnis der Autorin gekürzt.