Türkei – Russland - Westen

Strategische Ausrichtung der Türkei zwischen den Großmächten

von Daria Isachenko
Schwerpunkt
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Die Interessen der Türkei und des Westens gehen beharrlich weiter auseinander. Sowohl für die Europäische Union als auch für die NATO ist die Türkei in Streitfragen von Libyen und Syrien bis zu Verteilungskämpfen an den maritimen Grenzen im östlichen Mittelmeer ein schwieriger Partner geworden. Gleichzeitig unterhält die Türkei mit Russland eine intensive Zusammenarbeit nicht nur in Libyen und Syrien, sondern auch im militärisch-technischen Bereich. Insbesondere die Beschaffung des russischen Luftabwehrsystems seitens der Türkei von ihrem historischen Erzrivalen hat für viele die westliche Orientierung der Türkei in Frage gestellt. Doch bedeutet die Kooperation zwischen Russland und der Türkei unvermeidlich den Wendepunkt in der strategischen Ausrichtung der türkischen Außenpolitik?

Historisch gesehen war die strategische Orientierung der Türkei an den Westen durch Sicherheitsinteressen bedingt. Erinnert man sich daran, warum die Türkei 1952 ein NATO-Mitglied wurde, haben dabei zwei Faktoren eine maßgebliche Rolle gespielt. Zum einen waren es nach dem Zweiten Weltkrieg die sowjetischen Gebietsansprüche in der Türkei. Zum anderen war die NATO-Mitgliedschaft für die Türkei auch eine Identitätsfrage, sprich der Beweis für die Zugehörigkeit der Türkei zum Westen. Beide Faktoren - die Drohung seitens der Sowjetunion und die westliche Orientierung - folgten derselben Sicherheitslogik. Den Ursprung dieser Sicherheitslogik kann man sowohl im Osmanischen Reich im 19. Jahrhundert als auch bei der Gründung der Türkischen Republik durch Atatürk beobachten. Dabei war die westliche Orientierung eine Art „Sicherheitsstrategie“ der türkischen politischen Eliten. Diese Strategie basierte auf der Überlegung, dass wenn die Türkei ein Teil des Westens wird, sie nicht mehr als Europas Feind wahrgenommen wird, und somit die neue türkische Republik das Schicksal des osmanischen Reiches, nämlich ständige territoriale Verluste, vermeidet. (1)

Aus der Perspektive der Türkei besteht nun seit dem Ende des Kalten Kriegs ein wesentliches strukturelles Problem bei der Entwicklung der Sicherheits- und Verteidigungspolitik der NATO in der Abwesenheit des gemeinsamen Gegners. Das wurde beispielsweise bei dem NATO Gipfel in London im Dezember 2019 deutlich, als die Türkei den Verteidigungsplan für die Baltischen Staaten und Polen zu blockieren versuchte, mit der Forderung an die NATO-Mitglieder, die syrisch-kurdischen Selbstverteidigungseinheiten YPG als Terrorgruppe einzustufen.

Nicht nur zuletzt Syrien, sondern der Mittlere Osten im Allgemeinen wurde aus Sicht der Türkei seit Anfang der 1990er Jahre zum Testfall für die NATO-Solidarität. Die wichtigsten Ereignisse, die zum Zweifel der Türkei an der Solidarität unter den NATO-Mitgliedern geführt haben, waren der erste Golfkrieg 1991 sowie der Krieg im Irak 2003. Sowohl 1991 als auch 2003 hat sich die Türkei an die NATO gewandt, Frühwarnsysteme und Patriot-Raketen in der Türkei einzusetzen. Die zögernde Reaktion einiger NATO-Verbündeten hat schließlich zu der Wahrnehmung innerhalb der Türkei geführt, dass die türkischen Sicherheitsfragen von anderen NATO-Mitgliedern nicht geteilt werden. Es sind aber gerade die Sicherheitsinteressen, die die türkische Mitgliedschaft in der NATO und dadurch insbesondere auch die Beziehungen der Türkei mit den USA geprägt haben.

Die Wende der Türkei nach Russland
Im Gegensatz zu den westlichen Verbündeten der Türkei präsentiert sich Russland unter Wladimir Putin als verständnisvoller gegenüber den türkischen Sicherheitsinteressen. Nachdem die türkische Luftwaffe im November 2015 den russischen Kampfjet im türkisch-syrischen Grenzgebiet abgeschossen hat, hat der russische Präsident dies zwar als „feindliche Handlung“ bezeichnet, zugleich  jedoch beklagt, dass Russland eigentlich bereit war, „mit der Türkei in den sensibelsten Fragen zusammenzuarbeiten“. (2) Der Entschuldigungsbrief des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan nach der  Kampfjet-Krise hat die Beziehungen mit Russland im Sommer 2016 wieder normalisiert. Vornehmlich für die jüngste enge Zusammenarbeit mit Russland und für die steigende Entfremdung gegenüber den Westen waren vor allem die Reaktionen auf den Putschversuch vom 15. Juli 2016 in der Türkei. Während Putin den türkischen Amtskollegen demonstrativ unterstützte, war die Reaktion der westlichen Partner gegenüber Erdoğan zurückhaltend. Folglich führte die erste Auslandsreise von Erdoğan seit dem gescheiterten Putsch im August 2016 nach Russland. Im Herbst 2016 intensivierte sich die Zusammenarbeit zwischen der Türkei und Russland nicht nur in Syrien, sondern auch bilateral in Verteidigungsfragen und im Energiesektor. 

Auch die Art der Beziehung ist von großer Bedeutung dafür, warum die Zusammenarbeit mit Russland für die Türkei anziehender ist als mit den westlichen Alliierten. Dem Westen steht die Türkei in einer hierarchisch untergeordneten Position gegenüber. Anstatt als Mitgestalter wahrgenommen zu werden, befindet sich die türkische politische Elite im ewigen Lehrling-Zustand, der verstärkend eine „Statusbesorgnis“ hervorruft. (3) Mit Russland hingegen handelt es sich um eine Beziehung unter Gleichgesinnten. Besonders fördernd für diesen Brüderbund sind weniger die innenpolitischen Regime mit autokratischer Ausrichtung oder persönliche Verhältnisse unter Präsidenten, sondern vielmehr geht es um die sich ähnelnde Einstellung, wie die internationale Ordnung funktioniert bzw. funktionieren soll. In diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, dass die gegenüber dem Westen kritische Rede vom Putin bei der Münchener Sicherheitskonferenz im Februar 2007 einen großen Zuspruch in der Türkei fand. So wurde die Rede als „historisch“ von der türkischen Presse zelebriert und der komplette Text auf der Webseite der türkischen Streitkräfte veröffentlicht. (4)

Strategische Orientierung ist kein Zweck, sondern ein Mittel
Sowohl im Westen aber auch im Osten wird die westliche Orientierung der Türkei oft als selbstverständlich und unveränderlich wahrgenommen. Sie gilt gewissermaßen als Selbstzweck. Aus der Perspektive der türkischen politischen Elite wird die Zugehörigkeit zum Westen jedoch letztlich als ein Mittel zum Zweck betrachtet. Dies wurde insbesondere in der Diskussion über den Kauf des russischen Abwehrsystems S-400 deutlich. Trotz der massivsten Kritik und den drohenden Sanktionen von den USA besteht die türkische Regierung auf der Aktivierung des russischen Abwehrsystems, zugleich betont sie jedoch das immer noch bestehende Interesse amKauf des amerikanischen Patriot-System. (5) Aus der türkischen Perspektive ist es also nicht die Frage „Entweder-Oder“, sondern „Sowohl-Als-Auch“, je nachdem welche geopolitische Orientierung mehr Nutzen für die Sicherung eigener Interessen bringt.

Anmerkungen
1 Vgl. Tarik Oğuzlu, “Turkey and the West: Geopolitical Shifts in the AK Party Era” in: Emre Erşen, Seçkin Köstem (Hrsg.) Turkey's Pivot to Eurasia: Geopolitics and Foreign Policy in a Changing World Order, Routledge, 2019, S. 15-30.
2 Große Pressekonferenz von Wladimir Putin, 17 Dezember 2015, http://kremlin.ru/events/president/news/50971
3 Galip Dalay, ‘Turkey and the West Need a New Framework’ in: “Turkey and the West: Keep the Flame Burning”, Galip Dalay, Ian Lesser, Valeria Talbot, und Kadri Tastan (Hrsg), GMF Policy Paper, No. 6, Juni 2020
4 „Putin'in tarihi çıkışı”, Milliyet, 11 Februar 2007, https://www.milliyet.com.tr/yazarlar/fikret-bila/putinin-tarihi-cikisi-1...
5 “Turkey says delivery of second S-400 battery complete”, 15. September 2019, https://www.reuters.com/article/us-turkey-security-usa-defense-russia/tu...

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Dr. Daria Isachenko ist Wissenschaftlerin am Centrum für angewandte Türkeistudien (CATS) bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).