Über die Zusammenarbeit von Friedens- und Gewerkschaftsbewegung in konkreten Kampagnen

von Ulrich Wohland

I. Vorbemerkung

Im Augenblick befindet sich der Sozialstaat in der Bundesrepublik in einem massiven Umbruch. Waren wir vor einigen Jahren, verglichen mit vielen anderen Ländern, noch in der leicht privilegierten Situation, einen noch weitgehend funktionierenden Sozialstaat zu verteidigen, so stehen wir nun vor dem Problem, uns der Angriffe auf soziale Errungensschaften und ArbeitnehmerInnenrechte von so vielen Seiten gleichzeitig erwehren zu müssen, dass wir häufig kaum wissen, wo wir am besten und erfolgversprechendsten ansetzen können.

Allerdings können wir auf viele Erfahrungen im Kampf um eine soziale Gesellschaft und im Widerstand gegen Sozialabbau und auf viele mögliche MitstreiterInnen zurückgreifen.Auch angesichts der aktuellen Tendenzen kapitalistischer Globalisierung ist alles andere als Ohnmacht angesagt. Handlungsoptionen und Perspektiven um gegen diese globalen Kräfte anzugehen, liegen vor allem auf der lokalen Ebene. Haben wir nicht schon immer - und zum Teil erfolgreich - gegen scheinbar übermächtige Tendenzen und globale Strukturen wie den Ost-West Gegensatz in unseren lokalen Handlungsräumen angekämpft? Eine grundlegende Anforderung an solche Kämpfe lautet: "Global denken und lokal organisieren!" Denn es fehlt uns an Gruppen, an Organisation und Institutionen, die in der Lage sind, richtige Einsichten in richtiges Handeln umzusetzen.

II. Von welchen Traditionen können wir lernen?
Eine Tradition, auf die wir uns beziehen können, ist die des gewaltfreien Handelns, mit ihrem großen Reichtum an Aktionen und Kampagnen. Die zweite Tradition ist die der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung. Hier stehen sozialpolitische Fragen, der Kampf für soziale Rechte und der Widerstand gegen drohenden Sozialabbau durch das Kapital oder von staatlicher Seite immer schon im Mittelpunkt. Hier existiert auch ein großer Fundus an Erfahrungen, wie z.B. Kampagnen zu organisieren und erfolgreich zu führen sind. Die dritte Tradition, in den USA und in England weit verbreitet, bei uns aber wenig bekannt, ist mit dem Namen des Bürgerrechtlers Saul Alinsky verbunden und nennt sich,community organizing".

Die Vorschläge und Konzepte im Kampf für soziale Rechte innerhalb dieser drei Traditionen sind weder identisch, noch sind die Traditionen in jeder Hinsicht miteinander kompatibel - es bestehen Widersprüche, so beim Verständnis von "Gewaltfreiheit" oder beim Begriff des "Gegners". Aber alle drei bergen einen reichen Erfahrungsschatz, aus dem wir schöpfen können.

Wie funktioniert sozialer Druck in Kampagnen?
Sozialer Druck wird überwiegend erzeugt, indem wir jemanden - einer Person, einer Institution, dem Kapital, dem Staat, kurz dem Gegner - androhen, bestimmte Ressourcen, sei es Geld, Legitimation, Arbeitskraft, soziale Anerkennung usw. zu entziehen. Eine, wenn nicht die wichtigste Möglichkeit in diesem Zusammenhang stellt der (Konsum-) Boykott dar. Bisher ist der Boykott als Handlungsmöglichkeit in den sozialen Bewegungen, zumindest in Deutschland, kaum ausgeschöpft worden. Die Friedensbewegung hat beispielsweise fast gar nicht mit der Möglichkeit des Boykotts gearbeitet. Die mit Boykottformen verbundene potenzielle Macht ist gleichwohl enorm. Martin Luther King hat bis Anfang der 60er Jahre praktisch alle seine Kampagnen Zivilen Ungehorsams gleichzeitig um einen oder mehrere Boykotts herum organisiert und auch die deutsche Arbeiterbewegung hat bis in die 20er Jahre hinein betriebliche Auseinandersetzungen häufig auch mit Boykottaktionen begleitet.

III. Zur Situation der Gewerkschaften
In vielen Branchen oder Handelsketten außerhalb der traditionellen Großindustrie besteht ein geringer gewerkschaftlicher Organisationsgrad, der durch den Trend zu "Mini"- oder "Midi"-Jobs, zu Leiharbeit und befristeten Arbeitsverhältnissen noch verstärkt wird. In solchen Betrieben lassen sich die traditionellen Formen gewerkschaftlicher Interessenvertretung über das Arbeitsrecht kaum umsetzen. Betriebsräte fehlen häufig, ihre Wahl muss gegen den Arbeitgeber durchgesetzt werden.

Allgemein lässt sich eine Tendenz zur Auflösung der Flächentarife beobachten. Das bedeutet z.B., dass es immer schwieriger wird gemeinsame Kampfaktionen durchzuführen. Immer häufiger besteht ein Betrieb tatsächlich aus vielen Betrieben, die zwar noch mit dem gleichen Firmennamen auftreten, intern aber fast ebenso in Konkurrenz stehen wie nach außen. Das alte Prinzip "ein Betrieb, eine Gewerkschaft, ein Tarifvertrag" wird aufgelöst. Die Kampfkraft sinkt, Solidarität wird abgebaut.

Probleme gibt es auch innerhalb der Gewerkschaften. Die vielen Jahre der, wenn nicht einvernehmlichen, so doch hoch formalisierten Konfliktregelung zwischen Kapital und Arbeit haben dazu geführt, dass in zugespitzten Situationen Konflikte eher sozialpartnerschaftlich geregeltwerden. Es ist erstaunlich, in welchem Ausmaß abrufbereites Wissen über die Möglichkeiten von Sozialplänen in den Köpfen aktiver GewerkschafterInnen bereitliegt. Was hingegen oftmals fehlt, sind die Telefon- und Faxnummern der örtlichen Zeitungen und JournalistInnen, die man anrufen könnte, wenn eine Betriebsschließung droht und Öffentlichkeit hergestellt werden müsste. Bislang waren Gewerkschaften auch eine gesellschaftliche Institution zur Co-Verwaltung des sozial-staatlichen Kompromisses. In dieser Funktion könnten Gewerkschaften zukünftig überflüssig werden.

Eine gängige Reaktion darauf ist die Gewerkschaft als "ADAC für ArbeitnehmerInnen", die Rechtsbeistand bietet, Tarifverträge und notfalls Sozialpläneaushandelt. Gewerkschaften, so verstanden, sind keine politisch kämpfenden Organisationen.

Ein anderer Weg besteht darin, sich verstärkt als Bewegungsgewerkschaft zu verstehen, in Verbindung mit einem gesellschaftspolitischen Projekt, dasüber die Tarifpolitik hinausgeht. Diese Position ist innerhalb der Gewerkschaften in der Minderheit, dennoch existiert sie.

Ausgehend davon werden gemeinsame lokale Kampagnen mit anderen gesellschaftlichen Kräften wie den Kirchen, GlobalisierungskritikerInnen und Friedensgruppen denkbar.

Ein konkretes Beispiel dafür, wie ein solches Bündnis erfolgreich handeln kann, ist die Auseinandersetzung um die Arbeitsbedingungen bei Schlecker in den 90er Jahren. Sie bietet uns auch heute noch Anregungen, wenn es zum Beispiel um die Gründung von Betriebsräten in Discount-Ketten wie Lidl, Penny und Aldi oder bei Mc Donalds geht. Auch an vielen anderen Punkten lassen sich aktuell ähnliche Kampagnen denken: Arbeitsplatzabbau bei der Post zum Beispiel betrifft nicht nur die MitarbeiterInnen, sondern alle, die auf eine zuverlässige und flächendeckende Postzustellung Wert legen, Erhöhung der Pflichtstundenzahl für LehrerInnen verschlechtert nicht nur deren Arbeitsbedingungen sondern auch die Bildungschancen der Schülerinnen und Schüler, Läden, die Geiz für "geil" halten, zeigen sich auch ihren MitarbeiterInnen gegenüber nur selten großzügig...

IV. Zum Beispiel "Für soziale Mindeststandards bei der Drogeriekette-Schlecker"

1993 hatte Schlecker 3500 Filialen, zwei Jahre später waren es schon 5000 Filialen. Schlecker machte 1994 einen Umsatz von 5,6 Milliarden DM bei 25 000 ArbeitnehmerInnen, überwiegend Frauen. Im Sommer 1994 kamen Schlecker-Beschäftigte zur Gewerkschaft HBV in Mannheim in der Vermutung, etwas stimme mit ihren Löhnen nicht. Diese wurden vom zuständigen Gewerkschaftssekretär nachgerechnet, der deutliche Abweichungen vom Tarifvertrag feststellte. Obendrein gab es ein ausgeklügeltes System zur Überwachung und Schikane der Beschäftigten. Häufig war nur eine Verkäuferin anwesend, von der aber erwartet wurde, gleichzeitig bei der Kasse und bei der Ware zu sein. Ein Telefon, etwa, um zu Hause bei kranken Kindern oder bei der Kollegin anzurufen, ob sie nicht früher zum Schichtwechsel kommen könne, gab es nicht. Immer wieder wurden Überprüfungen durchgeführt von so genannten Revisoren, die abgelaufene Ware in die Regale stellten, dann die Beschäftigten zur Rechenschaft zogen und einen Eintrag in die Akte machten: "Ach, Frau Meyer, da haben sie irgendwie schlecht sortiert, also da machen wir ihnen einen kleinen Abzug, so geht das ja nicht". Mobbing, organisiert vonder Geschäftsleitung.

Zu Beginn der Kampagne wurden Forderungen formuliert: Einhaltung der Tarifverträge, mehr Sicherheit für die Beschäftigten durch Telefone in den Filialen und ständig zwei Beschäftige im Laden. Auch sollte generell dieMissachtung der Menschenwürde aufgehoben werden, wie sie sich z.B. in den schikanösen Überprüfungen ausdrückte und last not least sollten Betriebsratswahlen durchgeführt werden.

Vorbereitet wurde die Kampagne auf drei Ebenen: Zum einen mit Seminaren, in denen per Rollen- und Planspiel Elemente einer möglichen Kampagne durchgespielt wurden. Zum zweiten wurde ein soziales Netzwerk für die Kampagne aufgebaut. Dazu zählten Frauenverbände, Friedensgruppierungen in der Region, andere Gewerkschafter, Prominente von Parteien und Kirchen. Als drittes wurde überlegt, welche Aktionsformen von welcher Gruppe durchgeführt werden könnten, und zu welchem Zeitpunkt dies am sinnvollsten sein würde.

Im Herbst 1994 begann die Kampagne. Es gab viel Material über die Missstände, ein Teil davon wurde auf einer ersten Pressekonferenz vorgestellt. Da insgesamt vier Pressekonferenzen geplant waren, wurde das Material durch vier geteilt, so dass die Schweinereien eskalierend aufgedeckt wurden. Im Betrieb wurden Wahlvorstände für die Betriebsratswahlen bestimmt. Alle Missstände wurden nach und nach öffentlich gemacht und auf diese Weise der Konflikt allmählich hochgefahren.

Das soziale Netzwerk wurde begleitend aktiv. Bei Pressekonferenzen waren z.B. immer die Industriepfarrer der Kirchen anwesend. Als es zu Kündigungen kam, traten Prominente aus der Politik auf den Plan und machten mit öffentlichen Erklärungen und Telefonaten und Faxen Druck auf Schlecker - mit Erfolg. Bei Aktivitäten vor und in den Filialen waren verschiedene Frauen- und Friedensgruppen aktiv. Ein großer Teil des Drucks der Kampagne kam aus dem sozialen Netzwerk und nicht direkt aus der Belegschaft. Erst in der Kombination von Belegschaftsaktivitäten, gewerkschaftlicher Kampagnenplanung und Aktionen des sozialen Netzwerkes wurde ein Erfolg denkbar. Ein Zusammenspiel, das für die Zukunft sozialer Kämpfe eine gar nicht zu unterschätzende Bedeutung gewinnen wird!

Anfang März 1995 kam es dann zu einem Tarifabschluss, der alle Forderungen erfüllte. Noch viele Aktionsformen waren vorbereitet gewesen, brauchten aber nicht mehr ausgeführt zu werden.

Nicht nur für die Gewerkschaft haben sich die Aktivitäten gelohnt. Auch für die Werkstatt für Gewaltfreie Aktion als eine der Netzwerk-Gruppen war es ein großer Erfolg, der sich in Spenden und Mitgliederzahlen ausgedrückt hat. Was für die Gewerkschaften gilt, gilt ebenso für die sozialen Bewegungen: Sie leben nicht in Organisationen " sondern in Aktionen und Kampagnen. Dort, wo die Bewegung lebendig ist, lassen sich auch Menschen zu Aktivitäten und zum Engagement gewinnen.

Der Artikel basiert auf dem Text "Gewaltfrei gegen Sozialabbau: Erfahrungen - Konzepte - Beispiele" aus dem Hintergrund- und Diskussionspapier "Soziales Verteidigen!", herausgegeben vom BSV, Minden 2001. Gekürzt und aktualisiert von Kathrin Vogler
 

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Ulrich Wohland arbeitet ehrenamtlich bei der Werkstatt für Gewaltfreie Aktion Baden und ist Initiator der Ausbildung "Campapeace". Er ist Moderator, Coach, Campaigner und Kommunikationstrainer.