Fluchnetzwerke

Underground Railroad - Fluchtnetzwerk gegen Sklaverei

von Eberhard Jungfer

Die Erinnerung an die Geschichte der Underground Railroad, einem Netzwerk, das in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, besonders in den Jahren 1850 – 1860, von afroamerikanischen SklavInnen benutzt wurde, um nach Mexiko, in die Nordstaaten der USA oder nach Kanada zu fliehen, erscheint aus mehreren Gründen interessant. Als erstes natürlich allein deshalb, weil viele tausend Menschen aufgrund dieses Netzwerks den Weg in die Freiheit fanden. Zweitens, weil der oftmals heroische Einsatz der Agents genannten UnterstützerInnen in besonderer Weise dazu beitrug, dass sich in den Jahren vor den Sezessionskriegen in den USA ein Unrechtsbewusstsein gegenüber der Sklaverei verbreitete. Diese Tradition verlängerte sich bis in das Sanctuary Movement der 1970er Jahre. (1) Und drittens, weil Underground Railroad inzwischen zu einem Topos der Fluchthilfe par excellence geworden ist –  mehr dazu weiter unten.

Seit Ende des 18. Jahrhunderts bildeten SklavInnenn und FluchthelferInnen in den USA ein informelles Netzwerk mit geheimen Fluchtrouten, sicheren Häusern und klandestinen Kommunikationswegen. Die US-amerikanischen Südstaaten hielten bis zum Ende des Sezessionskriegs an der Sklaverei fest, während sich in den Nordstaaten eher industriell geprägte Arbeitsverhältnisse durchgesetzt hatten. Die Abolitionisten in den Nordstaaten und in Kanada fanden eine zunehmend breite Zustimmung. Andererseits übersteigerten sich die SklavenbesitzerInnen der Südstaaten bei der Verfolgung entlaufener SklavInnen. In den Jahren vor den Sezessionskriegen erreichte die Zahl der Flüchtige mit fast 1000 pro Jahr ihren Höhepunkt. (2) Während all der Jahre blieb diese Zahl allerdings weit unter der Zahl der neu in die Sklaverei geborenen Kinder, und die Zahl der versklavten Bevölkerung stieg bis zum Jahr 1862 auf vier Millionen.

Eine im Jahre 2008 erschienene Enzyklopädie zur Underground Railroad (3) beschreibt die heroischen Einsätze der FluchthelferInnen, die unter Einsatz ihres Vermögens und ihres Lebens taten, was sie für richtig hielten – oft aus religiöser Überzeugung, aber auch aus politischen Gründen und aus persönlicher Betroffenheit. Seit den 1850er Jahren benutzte das Netzwerk einen Code aus der Welt der Eisenbahn, um verschlüsselte Botschaften an die Runaways, die zur Flucht entschlossenen Sklaven, zu übermitteln. So war ein conductor ein Fluchthelfer, station hieß eine Unterkunft für Flüchtlinge auf dem Weg, die Flüchtenden wurden als passengers bezeichnet.

Wer waren die Runaways?
Die Möglichkeiten des Widerstands in der Sklaverei waren begrenzt. Ein Aufstand erschien nach dem Scheitern der Net Turner's Rebellion 1832 nahezu ausgeschlossen. Es blieben die Arbeitsverweigerung, vorgetäuschte Krankheit, und die Flucht. (4) Die Flucht in die Freiheit war der stärkste Widerstand, den ein versklavter Mensch gegen das Regime der Sklavenhaltung aufbieten konnte. (5) Viele Sklaven (und nur wenige versklavte Frauen) flohen für kurze Zeit in die Wälder und Sümpfe, aus Angst vor der Peitsche oder im Zorn, bevor sie, von Hunger und Erschöpfung getrieben, wieder zu ihren Peinigern, aber eben auch in ihre Community, zurückkehrten. Auf den langen Weg in die Freiheit machten sich nur wenige, überwiegend junge Männer zwischen 16 und 35, und ein Drittel dieser jungen Männer hatte in der Sklaverei eine Ausbildung und gewisse Privilegien genossen. Auf ihrer Flucht bauten sie zumeist auf verwandtschaftliche Beziehungen oder auf die Solidarität unter AfroamerikanerInnen – nur eine Minderheit erfuhr Hilfe durch das Underground Network.

Ziviler Widerstand
Die größte Wirkung hatte die Underground Railroad sicherlich bei den UnterstützerInnen selbst und in der öffentlichen Stimmung in den nördlichen Free States. Das Netzwerk bot AbolitionistInnen die Möglichkeit, selbst aktiv tätig zu werden. Der Fugitive Slave Act von 1793 bestimmte, dass alle Amtspersonen der Nordstaaten den Sklavenfängern bei Fang und Rückführung entflohener SklavInnen Hilfe zu leisten hatten. Im Angesicht dieses offenkundigen Unrechts wurde Widerstand für viele Menschen zur Pflicht. Auch eine Reihe von Behörden und Regierungen der Free States weigerten sich. Es entwickelte sich eine Konstellation, welche der heutigen in den USA frappierend ähnlich war: Trump und die Bundespolizei agieren heute gegen die Sanctuary Cities, die der Auslieferung ihrer migrantischen Bevölkerung heftigen Widerstand entgegenstellen. (6)

Underground Railroads in Europa
Auch die Europäische Geschichte weist eine Reihe von Underground Railroads auf, wiewohl diese nicht diesen Namen trugen. Erinnert sein an die Fluchtroute über die Pyrenäen bis zum Frühjahr 1943, an die Flüchtlingsboote, die nach Palästina fuhren und an die Rettung der dänischen Juden im Dezember 1943. (7)

Nicht mit dem Tod bedroht, aber doch konsequent seinem Gewissen folgend, setzt sich gegenwärtig eine Gruppe in der Umgebung von Ventimiglia in Frankreich über das staatliche Unrecht hinweg. Der Staat breche die Gesetze, nicht er, sagt der Flüchtlingshelfer Cédric Hérrou. Er will sein Engagement für Asylbewerber fortsetzen, auch wenn ihm Gefängnis droht: „Cédric Herrou ist der Fahnenträger der Flüchtlingshelfer in Frankreich. Der 38-jährige Biobauer lebt im Roya-Tal an der italienischen Grenze auf einem abgelegenen Landgut mit 800 Olivenbäumen. Weit über die Landesgrenzen hinaus ist er schon bekannt, weil er – zusammen mit andern – Hunderten von Migranten aus Afrika geholfen hat, nach Frankreich zu gelangen und im Land zu bleiben. Er hat ihnen Unterkunft und Verpflegung geboten, auch bei der Weiterfahrt und bei Behördenkontakten geholfen. Allerdings hat er dabei die Grenzen der französischen Gesetze gebrochen, wie ein neues Gerichtsurteil bestätigt. Vier Monate Gefängnis drohen ihm, falls er seine Hilfe nicht sofort einstellt.“ (8)

An dieser Stelle möchte ich auch die Arbeit einer Gruppe junger AktivistInnen aus Norddeutschland erwähnen. Als die „Balkanroute“ am 18. November 2015 für alle „Non-SIA-Flüchtigen“ (9) geschlossen wurde, verteilte diese Gruppe in Idomeni Informationen unter den ausgeschlossenen Flüchtigen und legte Depots an, um sie auf der Strecke durch Mazedonien hindurch nach Serbien mit dem Nötigsten zu versorgen. Sie knüpften damit an eine Traditionslinie an, die mehr als 200 Jahre zuvor in den USA begründet worden war.

Solidarity Cities
In den USA verläuft eine Traditionslinie von der Underground Railroad über das Sanctuary Movement bis zu den Sanctuary Cities, in denen es darum geht, die BewohnerInnen der Städte vor Abschiebung zu schützen. In Europa versuchen einige Initiativgruppen, diesen Faden aufzunehmen und Solidarische Städte zu begründen. (10) Die Deportation von Flüchtigen, welche es unter Aufbietung all ihrer Kräfte bis nach Europa geschafft haben, soll mit Witz und Zivilem Ungehorsam verhindert werden. In nur wenigen Jahren werden uns die heutigen Abschiebungsgesetze anmuten wie ein Fugitive Sclave Act, kaum mehr vorstellbar.

Anmerkungen

1 https://en.wikipedia.org/wiki/Sanctuary_movement

2 https://en.wikipedia.org/wiki/Underground_Railroad

3 Mary Ellen Snodgrass (2008): The Underground Railroad. An Encyclopedia of People, Places, and Operations, Armok (Sharpe)

4 Lisa Vox, 3 Major Ways Sklaves resisted to Slavery, https://www.thoughtco.com/ways-slaves-showed-resistance-to-slavery-45401

5 Zum Folgenden siehe Eugene D. Genovese, Roll, Jordan, Roll. The World the Slaves Made, New York (Pantheon Books) 1972, 648 ff

6 http://ffm-online.org/2017/03/28/kalifornien-bietet-trump-die-stirn/

7 Michael R. Marrus (1999): Die Unerwünschten. Europäische Flüchtlinge im 20. Jahrhundert, Berlin (Schwarze Risse)

8 http://ffm-online.org/2017/08/09/fluechtlingshelfer-in-suedfrankreich-tr...

9 http://moving-europe.org/winter-in-idomeni/

10 https://solidarity-city.eu/de/

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Eberhard Jungfer, geb. 1952, Mitarbeit bei FFM Berlin und Moving Europe, Aktivist im Netzwerk Solidarity City.