THAAD, Patriot & Co

US-Raketenabwehr nach dem INF-Vertrag

von Regina Hagen
Schwerpunkt
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Seit September 1944, als die Nazi-Truppen mit der „Vergeltungswaffe“ V2 erstmals eine ballistische Rakete als Kriegswaffe nutzten, befasst sich das US-Militär mit dem Schutz vor diesen Geschossen. Die V2 war für die Flugabwehr viel zu schnell, also wurden nach dem Zweiten Weltkrieg Programme zur Raketenabwehr aufgesetzt. Heute ist US-Raketenabwehr in den USA, in Europa, im Nahen Osten und im pazifischen Raum stationiert, auf dem Meer ebenso wie auf dem Land, stützt sich auf zahlreiche Weltraumkomponenten und feuert das Wettrüsten weiter an.

Seit 1985 gaben die USA etwa 250 Mrd. US$ für Raketenabwehr aus; die aktuelle Haushaltsplanung sieht bis 2022 jährlich mehr als zehn Mrd. US$ für diese Aufgabe vor. Selbsterklärtes Ziel der Anstrengungen ist es, das Territorium der USA und alliierter sowie befreundeter Länder zu schützen. Der Schutz der im Ausland und auf Schiffen stationierten US-Truppen vor gegnerischen Raketenangriffen ist eine weitere Priorität; damit wollen sich die USA ‚Handlungsfreiheit‘ für ihre militärischen Operationen in aller Welt schaffen.
Angestrebt wird, sämtliche Phasen eines gegnerischen Raketenangriffs abzudecken, vom Start der Rakete (boost phase) über den freien Flug (midcourse phase) (1) bis zum Wiedereintritt in die Erdatmosphäre und den Anflug auf das Ziel (terminal phase). Die technischen Herausforderungen sind groß, und die Einsatzmöglichkeiten und Testerfolge der einzelnen Systeme variieren stark.

Nachfolgend werden zunächst drei Systeme für den taktischen Einsatz kurz beschrieben; ihre Rolle liegt im Schutz einer begrenzten Region, z.B. Teilen Europas oder des pazifischen Raumes, oder militärischen Einsatzgebiets. Die taktischen Systeme eignen sich vor allem zum Schutz vor Raketen im Mittelstreckenbereich, in dem nach Kündigung des INF-Vertrags ein Wettrüsten zu befürchten ist. Das vierte System soll das Festland der USA schützen und dient damit strategischen Zwecken.

Die verschiedenen Systeme
Das Luft- und Raketenabwehrsystem Patriot der US Army wurde seit den 1970er Jahren entwickelt, in den 1980er Jahren zum ersten Mal stationiert und kam 1991 mit sehr bescheidenem Erfolg im Golfkrieg zum Einsatz, um irakische Kurzstreckenraketen des Typs Scud abzuschießen, die gegen Israel und Saudi Arabien gerichtet waren.

Die weiterentwickelte Patriot Advanced Capability-3 (PAC-3), das bislang ausgefeilteste Raketenabwehrsystem der USA, dient der Abwehr von Flugzeugen, Marschflugkörpern und Raketen kürzerer Reichweite, wird von den USA bei ihren militärischen Einsätzen regelmäßig genutzt und wurde an zahlreiche Länder Europas und des Nahen Ostens sowie an Japan, Südkorea und Taiwan verkauft.

Aktuell kommen PAC-3-Systeme z.B. im Kontext des Jemen-Kriegs zum Einsatz, um Saudi-Arabien vor Raketenbeschuss zu schützen.

Terminal High Altitude Area Defense (THAAD) war ursprünglich ebenfalls ein Projekt der US Navy, wird inzwischen aber von der Missile Defense Agency betrieben. Es soll Kurz- und Mittelstreckenraketen in der letzten Flugphase, also beim Anflug auf das Ziel, abschießen und weist in Tests eine hohe Erfolgsquote aus. Die Abfangrakete wird von einer LKW-Lafette gestartet und kann die obere Atmosphäre sowie den niederen Weltraum erreichen.

Bislang wurden sieben THAAD-Batterien mit mehr als 200 Abfangraketen an die US Army ausgeliefert und in Israel, in Südkorea und auf Guam im Pazifik stationiert; zwei Batterien wurden an die in den Jemen-Krieg verwickelten Vereinigten Arabischen Emirate verkauft.
Mitte April 2019 teilte das in Stuttgart ansässige US European Command (EUCOM) mit, THAAD werde „vorübergehend“ in Rumänien stationiert und in die NATO-Raketenabwehr eingebunden.

Aegis ist von besonderer Brisanz. Die Abwehrraketen sind auf Kriegsschiffen stationiert und werden von der US Navy betrieben. Die Schiffe sind außer mit Startrampen und Abwehrraketen, in der Regel des Typs SAM-3, auch mit einem leistungsfähigen Radar- und -Leitsystem ausgerüstet. Für die Abwehr gegnerischer Raketen oder Sprengköpfe wird von der Abwehrrakete ein Abfangflugkörper freigesetzt, der das gegnerische System lokalisieren und durch den Aufprall zerstören soll. Aktuell sind 38 Kreuzer und Zerstörer der USA mit Aegis-Raketenabwehr ausgerüstet, bis 2024 sollen es 59 sein. Sie sind überwiegend im Pazifik und Atlantik unterwegs; einige Systeme wurden auch an Japan und Südkorea verkauft.

Seit 2014 sind im Rahmen der ‚European Phased Adaptive Approach‘ (EPAA) sowie der ‚NATO Ballistic Missile Defense Architecture‘ vier Aegis-Schiffe im Hafen des spanischen Rota stationiert. Ihr Operationsraum ist das Mittelmeer, potentiell auch das Schwarze Meer. Außerdem wurde für Europa eine Aegis-Version für die Stationierung an Land gebaut. Aegis Ashore ist seit 2016 auf dem Militärflugplatz Develesu in Rumänien einsatzbereit; eine Stationierung im polnischen Redzikowo ist für 2020 oder 2021 vorgesehen. Sowohl zu Wasser als auch zu Land ist Aegis also sehr nahe an Russland herangerückt.

Die russische Regierung wirft den USA die Verletzung des inzwischen gekündigten INF-Vertrags vor, konkret geht es dabei um die Startvorrichtung Mk 41 der Aegis-Ashore-Basis in Develesu. Mk 41 ist für den Start der SAM-3-Abwehrraketen konfiguriert, wird auf Aegis-Schiffen, aber auch für den Start von Marschflugkörpern des Typs Tomahawk eingesetzt. Tomahawk kann mit einem konventionellen oder nuklearen Sprengkopf ausgerüstet werden und zählt zu den Mittelstreckenwaffen im US-Arsenal, deren Stationierung auf Land gemäß dem INF-Vertrag verboten war. Aktuelle Pläne der USA, eine landgestützte Tomahawk-Variante in Europa zu stationieren, untermauern die russischen Befürchtungen zusätzlich.

Hohe Bedeutung hat Aegis nicht nur für die Abwehr von Raketen, sondern auch für die Kriegsführung im Weltraum. Im Februar 2008 demonstrierten die USA die Fähigkeit des Systems, nach kleineren Änderungen der Systemsoftware einen Satelliten abzuschießen. 2008 war es ein nicht mehr steuerbarer US-Satellit, kaum vorstellbar wären aber die Implikationen, sollten in Europa stationierte Aegis-Systeme im Kontext einer Weltraumkriegsführung als Anti-Satellitenwaffe Verwendung finden.

Für den Schutz vor einem interkontinentalen Angriff auf US-Territorium wurde in der Regierungszeit von Präsident George W. Bush im Jahr 2003 mit der Stationierung der strategischen Ground-Based Midcourse Defense (GMD) begonnen (das System hieß ursprünglich National Missile Defense/NMD). Momentan sind 44 Abfangraketen in Alaska und Kalifornien stationiert; dafür wurden 70 Mrd. US$ ausgegeben.

Seit 1999 wurden 11 der 20 Systemtests als Erfolg deklariert, allerdings wurde kein einziger unter realistischen Bedingungen durchgeführt: Die Testzeiten wurden so ausgewählt, dass die abzuschießende Sprengkopfattrappe für den Abfangflugkörper optimal zu erkennen war; überdies waren der Zeitpunkt und die Flugbahn der Attrappe vorab bekannt. Dennoch möchte die Regierung von Donald Trump 20 weitere GMD-Systeme in Alaska aufstellen.

Und was bedeutet das alles?
Der US-Präsident kündigte im Januar 2019 an, er wolle Raketenabwehr auch im Weltraum stationieren, denn man müsse „anerkennen, dass der Weltraum eine neue Domäne der Kriegsführung ist“. Auch seine übrigen Raketenabwehrpläne, darunter Hochleistungslaser, Strahlenwaffen, elektromagnetische Schienenkanonen (Railguns), Überschallprojektile und Flugzeug-gestützte Abwehrraketen, sind ambitioniert, technische fraglich und unbezahlbar.

Aber bereits heute sind, wie oben beschrieben, mehrere Abwehrsysteme mit Hunderten Abfangraketen im Einsatz – irgendetwas davon wird im Ernstfall schon funktionieren. Diese Hoffnung könnte die politische Führung der USA dazu verleiten, auf weitere Aufrüstung im offensiven und defensiven Bereich zu setzen und bei einem Angriff auf die vermeintlichen Abwehrfähigkeiten zu vertrauen. Länder wie Russland und China werden darauf reagieren – und die Rüstungsspirale wird sich weiterdrehen. Daher ist es fatal, dass Deutschland weiterhin auf die nukleare Teilhabe in der NATO und auf Mitwirkung an der EPAA und der NATO-Raketenabwehr setzt. Die Möglichkeit, mäßigend auf den Rüstungswettlauf zu wirken, gibt die Bundesregierung so aus der Hand. (2)

Anmerkungen
1 Weiterreichende Raketen setzen nach Verlassen der Erdatmosphäre in der Regel einen Sprengkopf frei, der auf einer ballistischen Bahn durch den Weltraum fliegt, bevor er die Erdatmosphäre durchbricht und sich dem Ziel nähert. In diesem Fall soll Raketenabwehr nicht die Rakete selbst, sondern den Sprengkopf zerstören.
2 Weitere Informationen:
Center for Arms Control and Non-Proliferation; armscontrolcenter.org.
Missile Defense Agency (MDA); mda.mil.
NATO Ballistic Missile Defense; nato.int.
U.S. Department of Defense: Missile Defense Review. 17.1.2019; defense.gov.
Nicholas Fiorenza: THAAD to be deployed to Europe for first time. Jane’s Defence Weekly, 15.4.2019; janes.com.

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Sprecherin der Kampagne "Büchel ist überall – atomwaffenfrei.jetzt“ und ehemals verantwortliche Redakteurin der Quartalszeitschrift "Wissenschaft & Frieden".