Erinnerungskultur als Teil von „Vergangenheitsarbeit“

Erinnern für die Gegenwart – ein Ansatz der Friedens- und Versöhnungsarbeit?

von Sylvia Servaes

Bujumbura, Burundi, im April 2017, drei Tage im Zeichen des Gedenkens an hunderttausende Toter der Massaker von 1972/73: Ein Schweigemarsch, eine Gedenkmesse mit Aussagen Überlebender, Grundsteinlegung für ein Mahnmal zum Gedenken an die Opfer der Massaker. Alles organisiert von dem „Kollektiv der Überlebenden und Opfer des Völkermordes an den Hutu in Burundi 1972“, einer in Kanada eingetragenen Nichtregierungsorganisation. Die Vertreter der Organisation fordern zudem die offizielle Anerkennung des Völkermords an den Hutu 1972 und einen Gedenktag.

In derselben Woche in Bujumbura: Drei weitere Gedenkmärsche für andere Massaker mit anderen Opfergruppen, die zu unterschiedlichen Zeiten in Burundi stattgefunden haben.

Gleichzeitig ermahnt der Vorsitzende der Wahrheitskommission, Monsignore Nahimana, seine Landsleute, das Leid der jeweils anderen anzuerkennen und sich gegen jedwede Instrumentalisierung des Gedenkens zur Wehr zu setzen. Anstatt sich wie bisher auf die Geschichte der eigenen Gruppe zu konzentrieren, müssten sich die Opfer aller Seiten im Kampf gegen Leid und Verbrechen, die Burundi seit Jahrzehnten immer wieder heimsuchten, zusammentun (vgl Radio france international (rfi) vom 29.04.17/ 30.04.2017).

Damit sind wir bei Kernherausforderungen von „Erinnerungskultur“: Wer gedenkt wessen wann und in welcher Form? Wer sorgt dafür, dass gedacht wird und wie gedacht wird? Und welche Wirkung haben die verschiedenen Formen von Erinnerungskultur für wen? Welche Form trägt bei zu Frieden und Wiederherstellung sozialer Beziehungen nach Gewalt und Diktatur? (Wie) lassen sich die unterschiedlichen Erinnerungen der verschiedenen Konfliktgruppen zusammenbringen? (Wie) lässt sich über Konfliktgrenzen hinweg ein gemeinsames Verständnis von Verbrechen und Leid finden, um weiteren Verbrechen und Gewalt vorzubeugen? Bietet „Transitional Justice“, ein Konzept, das in den letzten Jahren zur Bewältigung von Krieg und Gewalt entwickelt wurde, einen Rahmen dafür?

„Transitional Justice“/ Vergangenheitsarbeit
Für gewöhnlich unterliegen Straftaten wie Mord und Totschlag juristischer Verfolgung und Bestrafung der Täter. In Situationen generalisierter Gewalt sind formaljuristische Prozesse jedoch nur bedingt anwendbar, zumal in Situationen mit begrenzt funktionierendem Gerichtssystem. Zudem konzentrieren sich Strafprozesse in erster Linie auf mutmaßliche TäterInnen und den Aspekt der Bestrafung als Mittel der Bewältigung gewaltsamer Vergangenheit. Opfer von Krieg und Verbrechen geraten dabei kaum in den Blick; ebenso wenig wie weitere Dimensionen von Gerechtigkeit, die jedoch unerlässlich sind, um in Nachkonfliktgesellschaften den Weg für eine gemeinsame, gewaltfreie Zukunft zu bereiten.

Vor diesem Hintergrund wurden Anfang der 1990er Jahre verschiedene Maßnahmen und Ansätze unter dem Begriff „Transitional Justice“ zu einem Konzept zusammengeführt: Die Strafverfolgung von Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen, Wahrheitskommissionen, Reparationsprogramme für Opfer und institutionelle Reformen sind zentrale Elemente solcher Aufarbeitungsprozesse. Grundlegend ist hier die Vorstellung einer zeitlich begrenzten Übergangsphase nach Krieg und Gewalt zu Frieden und demokratischen Verhältnissen.
Der ebenfalls in diesem Zusammenhang verwendete Begriff Vergangenheitsarbeit bzw. „Dealing with the past“ geht von einem längeren Zeithorizont aus und lenkt den Blick auf generationenübergreifende Prozesse. In der internationalen Praxis hat sich der Begriff „Transitional Justice“ durchgesetzt, der für viele Akteure auch langfristige, nicht unbedingt geradlinig verlaufende Prozesse impliziert. Grundlage des Konzepts bilden die Joinet-Prinzipien von 1997, die ein universelles „Recht auf Wahrheit, Gerechtigkeit, Wiedergutmachung und Nichtwiederholung“ postulieren. Dabei sind Initiativen unterschiedlicher Akteure, staatlicher wie zivilgesellschaftlicher, lokaler wie internationaler, zentral.

Transitional Justice ist heute ein zentraler Bestandteil internationaler Friedens- und Menschenrechtspolitik. Zahlreiche ad-hoc Tribunale, die Etablierung des Internationalen Strafgerichtshofes, Wahrheitskommissionen, Entschädigungsprogramme, die Stärkung der Rechte von Opfern und die Ernennung eines VN Sondergesandten für die Förderung von Wahrheit, Gerechtigkeit, Reparationen und Garantien der Nichtwiederholung, dessen Mandat auf den Joinet-Prinzipien basiert, machen dies deutlich. Die Anwendung der Mechanismen seitens verschiedener, staatlicher wie nicht-staatlicher Akteure, gibt es jedoch schon wesentlich länger, in Deutschland z.B. mit den Nürnberg Tribunalen, Reparationen für Opfer der Shoa und – sehr viel später – der Zwangsarbeit, Deutsch-französischem Jugendwerk und -austausch, verschiedenen bilateralen Schulbuchkommissionen, Erzählcafés und zahlreichen Erinnerungsstätten, von Mahnmalen über Museen zu den Stolpersteinen. Sie sind über einen langen Zeitraum eingesetzt worden, waren jedoch kaum systematisch miteinander verknüpft wie es das Konzept von Transitional Justice impliziert.

Dealing with the Past und Erinnerungskultur
Erinnerungskultur in Form beispielsweise von Gedenkstätten, Museen oder Mahnmalen ist Teil dieser Maßnahmen und wird meist unter „Wiedergutmachung“/Reparationen gefasst. Mit diesen Einrichtungen wird gesellschaftliche Anerkennung und Wiedergutmachung erlebten Leids ausgedrückt. Gleichzeitig sind sie Erinnerungsstätten für begangene Verbrechen und dadurch zugefügtes Leid. Damit wird privates Erinnern auch anderen zugänglich gemacht und ermöglicht es ihnen – oder verlangt von ihnen, sich dazu zu verhalten.
Dabei ist Erinnern und Erinnerung letztendlich die Basis aller Felder von Vergangenheitsarbeit/ Transitional Justice  – geht es doch immer darum, die Vergangenheit zu rekonstruieren und die Wahrheit zu ermitteln: Ob juristische Verfahren, Wahrheitskommissionen, Reparationen oder auch institutionelle Reformen – alle hängen sie ab von den Erinnerungen an Hergänge, Verantwortliche, Verluste, Retter, jedoch auch von deren Verifikation: Wie vollständig sind die persönlichen Erinnerungen, zumal unter Bedingungen generalisierter Gewalt, wie geprägt von Emotionen, Vorurteilen, eigenen Überzeugungen …, wie weit geteilt von anderen oder umstritten?

Zentral für gerichtliche Verfahren ist die objektive Wahrheitsfindung: Es gilt die Unschuldsvermutung mutmaßlicher Täter, bis „über jeden Zweifel erhaben“ die Hergänge und Verantwortlichkeiten bewiesen sind. So kommt es zu Freisprüchen „aus Mangel an Beweisen“, obwohl ZeugInnen meinen, sich sicher zu erinnern, dass die angeklagte Person die für bestimmte Verbrechen verantwortliche ist.

Bei Wahrheitsfindungsprozessen wie Wahrheitskommissionen liegt der Akzent auf den Erfahrungen der Opfer. Auch hier ist die Feststellung von Wahrheit wichtig. Die Integrität der Kommissäre soll die Wahrheitsfindung garantieren; sie stellen Aussagen gegeneinander, ordnen sie ein, stellen Zusammenhänge her, vertiefen sie durch weitere Aussagen und erstellen so ein Gesamtbild. Hier geht es nicht in erster Linie darum, Täter zu bestrafen, sondern das Leid der Opfer anzuerkennen durch Zuhören und Ernstnehmen ihrer Geschichte, ihrer Erinnerungen. Gewissermaßen auch dies ein Akt des Gedenkens an die Toten.

Erinnerungskultur und gesellschaftlicher Frieden
Wie wird aus privaten Erinnerungen offizielles Gedenken, das zu Friedensprozessen nach Krieg und Gewalt beiträgt?

Frieden entsteht dadurch nicht automatisch. Es ist vielmehr ein gesellschaftlicher und eminent politischer Prozess der Auseinandersetzung um unterschiedliche Sichtweisen auf das Geschehene, um Auswahl von Teilen der Vergangenheit für die Gegenwart, dem sehr unterschiedliche Interessen zugrunde liegen. Ist dies mit Prozessen der Wahrheitsfindung – z.B. in Form von Wahrheitskommissionen oder auch juristischen Prozessen – verknüpft, die Abläufe und Verantwortlichkeiten eindeutig benennen, so kann das den Prozess der gesellschaftlichen Anerkennung und Aneignung erleichtern.
Aber ebenso bestimmen politische Ideologie und gesellschaftliche Vorurteile die Auswahl der zu gedenkenden Teile der Geschichte: So wurde in der Bundesrepublik über lange Jahre weder der von den Nazis in KZs verbrachten und ermordeten KommunistInnen gedacht, noch der Sinti und Roma oder der Angehörigen der LGBTI Gruppe. Aber es kann auch zu Widerstand und Ablehnung kommen, wenn verschiedene Versionen aufeinandertreffen: Die öffentliche Auseinandersetzungen um die Wehrmachtsausstellung in den 1990er Jahren machen deutlich, wie weit hier persönliche Erinnerung und Gedenken entfernt sind von Wahrheitsfindung durch Forschungsarbeit.

Eine gemeinsame Schau auf die Geschichte, das gemeinsame Erinnern und Gedenken, das ein gewaltloses, friedliches Nebeneinander, wenn nicht Miteinander ermöglicht, erfordert besondere Schritte: Die Einrichtung von Schulbuchkommissionen, Historikerkommissionen auf der staatlichen Ebene, Erzählcafés als zivilgesellschaftliche Initiativen oder auch Initiativen in Gemeinden wie in Burundi, um miteinander ins Gespräch über die Geschichte zu kommen und das jeweilige Gedenken anzuerkennen, ohne von einer Seite als „revanchistisch“ oder als Lügner oder Verräter qualifiziert zu werden. In Burundi gab es über Jahre eine Radiosendung „Wenn ich mich recht erinnere“, in der Erinnerungen zu Themen des täglichen Lebens in früheren Zeiten ausgetauscht wurden. So wurde nicht nur über Krieg und Gewalt gesprochen, sondern auch über Gemeinsamkeiten, die heute unter dem Eindruck mehrerer Zyklen von  Krieg und Gewalt nicht mehr allen gegenwärtig sind.

Erinnerungskultur, Transitional Justice und Frieden – Erinnern für die Zukunft?
Es gibt keine Blaupause für eine erfolgreiche Erinnerungskultur, die den Opfern und Überlebenden ihre Würde zurückgibt, die Abläufe von Krieg und Gewalt und die (Ab-) Gründe von Diktatur als mahnendes Beispiel für die Gegenwart deutlich werden lässt. Eine Verknüpfung mit den weiteren Feldern von Vergangenheitsarbeit/ Transitional Justice stellt die Arbeit jedoch auf eine breitere Basis.

Dabei gibt es zentrale Elemente: eine genaue Analyse der Situation und der Akteure und ihrer Bedarfe und Beziehungen zueinander, einschließlich der Machtstrukturen, ist der Schlüssel; alle am Konflikt beteiligten Akteure müssen berücksichtigt und angemessen einbezogen werden, auf der lokalen wie der nationalen Ebene. Es müssen TäterInnen wie Opfer in den Blick genommen werden, um zentrale Fragen von Verantwortung und Reparationen angehen zu können. Letztendliches Ziel im Hinblick auf eine Transformation der Konflikte ist die Überwindung der Opfer-Täter-Kategorien als Hauptmerkmal persönlicher Identität. Wichtig ist zudem die Unterstützung von Prozessen anstelle von Einzelinitiativen: Die einzelnen Mechanismen erfüllen unterschiedliche Bedarfe bzw. dienen verschiedenen Zielsetzungen. Sie können ihre Wirkung nur in Kombination entfalten. Der Bezug zueinander muss durch die jeweils involvierten Akteure hergestellt werden, die aus sehr unterschiedlichen Zusammenhängen kommen (staatlich/ nicht-staatlich …). Zeitpunkt, Reihenfolge und Mandat der einzelnen Mechanismen hängen dabei sowohl von den Bedarfen als auch von den politischen und gesellschaftlichen Möglichkeiten ab und müssen im Einzelnen geprüft werden.

Dabei ist die Erinnerungskultur ein Stiefkind der Transitional Justice Maßnahmen. Es ist Zeit, auch hier Erfahrungen systematisch aufzuarbeiten und nutzbar zu machen für Friedens- und Versöhnungsprozesse.

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Sylvia Servaes ist Referentin bei Misereor für Beratung zu Friedens- und Menschenrechtsarbeit und vertritt Misereor im Team der Arbeitsgemeinschaft Frieden und Entwicklung (FriEnt). Dort befasst sie sich u.a. mit dem Thema Transitional Justice/ Vergangenheitsarbeit.