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Kurdische Flüchtlinge:
Versagen der türkischen und deutschen Politik
von
FriedensForum 1/1998
Kurdische Flüchtlinge:
Versagen der türkischen und deutschen Politik
Mehmet Sahin
Der Grundstein der Türkei ist gelegt auf dem Fundament "jeder, der in der Türkei lebt, ist Türke". Die Säulen dieses Fundaments, die aus einem multiethnischen und multireligiösen Vielvölkerstaat einen unitaristischen Staat mit einer Einheitsnation, Einheitssprache, Einheitsfahne und Einheitsreligion schaffen sollten, können nach siebzig Jahren die Türkei nicht mehr tragen.
Die Türkei und ihre kurzsichtigen Machthaber haben mit ihrer Politik das bis vor 15-20 Jahren fast in den Grenzen der Kurdengebiete "eingesperrte und festgehaltene" Kurdenproblem türkeiweit verbreitet und internationalisiert. Nun erlebt man nicht nur in Kurdistan, sondern überall in der Türkei und sogar in Europa die Folgen des ungelösten Kurdenproblems und des Krieges.
Kriegsfolgen in Gotteshäusern
Der evangelische Pfarrer Joachim Knab aus Linkenheim (Kreis Karlsruhe) ist bei der Abschiebung eines Kurden vorübergehend von der Polizei in Handschellen festgehalten worden. (...) Die Polizei will gegen den Pfarrer Strafanzeige wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte erstatten. Knab beabsichtigt seinerseits, die Polizeibeamten wegen Freiheitsberaubung, Körperverletzung sowie gesetzwidrigem Verhalten anzuzeigen. (FR, taz vom 23. August 1997)
Einen Tag vorher konnte man in "Das Parlament" Nr. 35 vom 22.8.97 lesen: "Rund 2500 Ausländer haben sich - nach Schätzungen der Arbeitsgemeinschaft `Asyl in der Kirche` - seit 1993 in der Bundesrepublik in kirchliche Räume geflüchtet, um auf diese Weise einer drohenden Abschiebung in ihre Heimatländer zu entgehen. (...) In etwa 70 Prozent dieser Fälle wurde schließlich von einer Abschiebung Abstand genommen. (...) An Aktualität gewonnen hat die Diskussion um das Kirchenasyl spätestens seit den Brandanschlägen auf die Lübecker St.-Vicelin-Kirche sowie auf das Gemeindehaus von St. Augustin, ebenfalls in Lübeck. (...) Der Parlamentarische Geschäftsführer der CSU-Landesgruppe im Bundestag, meint, daß `das Kirchenasyl die Grundlagen des Rechtstaates in Frage stellt.` (...) Nicht der Rechtsstaat werde durch das `Kirchenasyl in Frage gestellt`, heißt es im `Gemeinsamen Wort der Kirchen`, sondern im Gegenteil wird von den Kirchengemeinden, die sich auf diese Weise für die Verwirklichung von Menschen- und Grundrechten einsetzen, `ein Beitrag zum Erhalt des Rechtfriedens und der Grundwerte unserer Gesellschaft geleistet`."
Und am darauffolgenden Montag, dem 25.8.97 liest man in der "taz" die Meldung: "Grüne und Scheinasylanten raus, rufen sie. (...) Wie zwei feindliche Lager stehen sie sich am Samstag in Plettenberg im Sauerland gegenüber: Hier die Gruppe kurdischer Asylbewerber mit ihren zwei Dutzend deutscher Sympathisanten, dort, nur zehn Meter entfernt, die gut hundert vor Wut rasenden, zumeist älteren Männer und Frauen, die jedem ins Ohr brüllen, daß 90 Prozent in Plettenberg so denken wie wir. Mit Bravo-Rufen lassen sie die Stadtverwaltung hochleben, weil die sich nun seit fast vier Wochen gegenüber den kurdischen Hungerstreikenden stahlhart zeigt."
Das sind keine gezielt gesuchten Zeitungsausschnitte. Sie sind hintereinander am Freitag, Samstag und Montag aus verschiedenen Zeitungen entnommen. Dies zeigt einige Folgen des ungelösten Kurdenproblems einige tausend Kilometern entfernt.
Kurdische Flüchtlinge in Deutschland
Als Gegenleistung für die gelieferten oder verschenkten Waffen im Wert von über 15 Milliarden DM in den letzten 30 Jahren und für die politische und wirtschaftliche Unterstützung der türkischen Regierung in ihrem Vernichtungskrieg importiert die Bundesrepublik Deutschland kurdische Flüchtlinge. Die jährlich nach Deutschland kommenden Zehntausende von kurdischen Flüchtlingen sind ein Produkt des Krieges in dem NATO-Partnerland Türkei.
Um zu glauben, daß der seit 13 Jahren vor den Toren Europas stattfindende Krieg angesichts von über 2 Millionen Türken und Kurden, die in Deutschland leben, keine Niederschläge auf die Bundesrepublik Deutschland haben könnte, mußte man blauäugig und sehr naiv sein.
Obwohl das so ist und der Krieg in Kurdistan zum Gegenstand aktueller deutscher Außen- und Innenpolitik geworden ist, sind dennoch keine nennenswerten Reaktionen seitens der Bundesregierung und der internationalen Institutionen, wie NATO, EU, OSZE und UN zu verzeichnen. Die politischen, militärischen und wirtschaftlichen Beziehungen mit der Türkei werden beibehalten und fortgesetzt.
Die Zahl der nach Deutschland gekommenen kurdischen Flüchtlinge beträgt von 1980 bis 1996 insgesamt 298.007. Ein Fünftel von diesen Menschen ist im letzten Quartal 1980 in die Bundesrepublik geflohen, als das türkische Militär mit Einverständnis der NATO und ihren führenden Mitgliedsstaaten gegen die kurdische Bewegung und gegen die Linke putschte. Über 700.000 Menschen wurden in den ersten Tagen, Wochen und Monaten des Putsches festgenommen, verhaftet, gefoltert und mißhandelt. Ca. 60.000 Menschen sind zwischen Oktober und Dezember 1980 in die Bundesrepublik geflohen. 15.000 wurden gleich nach dem Putsch ausgebürgert. Von Zehntausenden wurden die Pässe eingezogen und beschlagnahmt.
Danach sinkt die Kurve der Statistik der Flüchtlinge rapide runter. Mit dem bewaffneten Widerstand der PKK und dem Krieg in Kurdistan seit 1984 nimmt diese Zahl wieder stetig zu:
Zeitraum Zahl der Flüchtlinge
aus der Türkei
1980 57.913
1981 6.302
1982 3.688
1983 1.548
1984 4.180
1985 7.528
1986 8.693
1987 11.426
1988 14.873
1989 20.020
1990 22.082
1991 23.877
1992 28.327
1993 19.104
1994 19.118
1995 25.514
1996 23.814
insgesamt: 298.007
Ein Teil dieser 300.000 Menschen wurde nach einem mehrjährigen Aufenthalt abgeschoben, ein Teil ist freiwillig zurückgekehrt. Der große Teil aber ist hier in Deutschland geblieben.
Sicher sind darunter auch Menschen, die nicht politisch verfolgt sind. Aber solange dieser blutige Krieg fortgesetzt wird, werden auch solche Menschen nach Deutschland kommen und um politisches Asyl bitten. Es ist sehr schwierig, sie von den wahren Verfolgten und vom Kriege betroffenen Menschen zu unterscheiden. Ihr Gebrauch des Asyl- und Flüchtlingsrechts gibt den rechten Kräften Munition, um die erkämpften Menschen- und Sozialrechte wieder abzubauen. Diese Menschenrechte brauchen aber die politisch Verfolgten überall in der Welt.
Bundesinnenminister Kanther und die Innenminister der Länder müssen endlich anfangen, die Ursachen des Flüchtlingsstroms in der Türkei zu bekämpfen; die Türkei zu einer Umkehr von der bisher geführten Politik bewegen, um eine friedliche und gerechte Lösung des Krieges herbeizuführen. Bis aber der Krieg aufhört, müssen die kurdischen Flüchtlinge als Kriegsflüchtlinge behandelt und Abschiebeschutz gewährt werden.
Visumzwang im eigenem Land
"Um auf die Weideplätze zu gehen, müssen dem Militär enorme Summen bezahlt werden. Öfters reichen auch diese Geldzahlungen nicht, um diese Erlaubnisse zu holen." Das Oberhaupt des letzten Nomadenstammes - Beritan - in Kurdistan, Ali Yazici, sagte, daß sie im eigenen Land zum Visumszwang verurteilt worden sind. (24.8.97, Özgür Politika) Von einer Million Viehbeständen haben sie jetzt infolge des Krieges nur noch 60-70.000.
Nicht nur Flüchtlinge und nicht nur Beritans und ihre Viehbestände gehören zur Bilanz des Krieges. Nach 10 Jahren Ausnahmezustand berichten fast alle türkische Zeitungen vom Erfolg des türkischen Militärs.
Die Kurden haben 2/3 der letzten 70 Jahre entweder unter Kriegsrecht oder Ausnahmezustand verbracht. Zuletzt war Kurdistan von 1978 bis 1987 unter Kriegsrecht. Danach bis heute unter Ausnahmezustand unter Regie eines Supergouverneurs für die kurdischen Gebiete. Das heißt, daß eine ganze Generation in Kurdistan im Ausnahme- und Kriegsrechtszustand aufgezogen wurde. Eine verlorene Generation? Oder eine mit Haß und Wut gefüllte Generation? Die Türkei erntet, was sie gesät hat.
"In 10 Jahren 29.000 Tote" hieß der Titel der türkischen Tageszeitung Hürriyet am 10. Juli dieses Jahres, als sich der 10. Jahrestag des alle 4 Monate verlängerten Ausnahmezustandes näherte. Die Verluste der PKK wurden mit 21.000 angegeben. Ob der Rest bei 8.000 lag und liegt, ist umstritten, da die türkischen Offiziellen Erfolgsmeldungen brauchen, um den Krieg fortzusetzen. Ob die Zahl der Opfer 30.000 oder mehr ist: das sind Menschen, die gestorben sind. Sie hatten Familien, Verwandte. Sie hatten noch ein ganzes Leben vor sich. Sie sind verloren gegangen und haben auch, wenn es so weiter geht, die gemeinsame Zukunft der beiden Völker mit sich ins Grab getragen.
Die Türkei hatte im Befreiungskrieg gegen die Siegermächte des 1. Weltkrieges zwischen 1919 bis 1923 insgesamt 9167 Menschen verloren. Dreifach oder vierfach ist die Zahl der Opfer in einem nicht erklärten Krieg, alle Staatsbürger der Türkei...
Dazu die zerstörten und dem Erdboden gleich gemachten oder in Brand gesetzten 3.200 Dörfer und Siedlungen. (Hürriyet, 8.8.97) Wieviele Menschen haben in diesen verwüsteten Dörfern gelebt? Wieviele von denen waren Kinder, oder Frauen und ältere Menschen? Wo sind sie jetzt? Haben sie ein Dach über dem Kopf? Oder haben sie was auf dem Teller, was sie essen können? Wie und in welcher Sprache verständigen sie sich mit den neuen Nachbarn in der Cukurova (Adana und Mersin), in Izmir oder Istanbul? Haben überhaupt noch die Väter und Mütter Reste von der so oft beschworenen kurdischen Ehre und ihrem Stolz?
Die gleiche Zeitung meldete am 10. Juli, daß täglich 9.000 Menschen vom Osten in die Großstädten umziehen. Sie hat diese Zahl von einer Studie der DIE (Staatliches Statistikinstitut) entnommen und berechnet: Täglich 8.748, monatlich 262.444 und jährlich 3.194.000. Bis zur Jahrtausendwende werden über 9 Millionen Menschen ihre angestammten Siedlungen im "Osten" verlassen. Kurdistan ohne Kurden! Das war doch der große Traum, oder?
"3.223 Schulen mußten geschlossen bleiben" hat Hürriyet am 13.8.97 berichtet. Wieviele SchülerInnen waren in diesen Schulen? Hatten sie denn überhaupt Türkisch beigebracht bekommen, bevor sie ihre Dörfer und Schulen in Richtung Westen verlassen mußten? Hatten sie denn überhaupt Gelegenheit gefunden, die Reste der notdürftigen Hefte und Stifte mitzunehmen? Oder haben sie jetzt eine neue Schule, wo sie unterrichtet werden?
Der Bilanz des Krieges muß noch hinzugefügt werden, daß die Hälfte der 800.000 Mann starken Armee in Kurdistan stationiert ist, daß sie je nach Lust und Laune die Grenzen der Nachbarstaaten verletzt, mit 50.000 Soldateska z.B. in die UN-Schutzzone in Irakisch-Kurdistan eindringt, ohne irgendwelche Proteste der Wertegemeinschaften (!), wie es zuletzt am 14. Mai 1997 geschah, einmarschiert, die Dörfer zerstört und ihre Bewohner vertreibt. Die 70.000 kurdischen Dorfschützer, die Kollaborateure müssen nicht vergessen werden. Die zehntausenden Angehörigen der Todesschwadronen und Spezialteams müssen auch erwähnt werden. Erwähnt werden muß, daß die von Deutschland gelieferten 250.000 Kalaschnikows voll im Einsatz sind, daß sie sich bewährt haben!
Innenminister Kanther und seine Kollegen möchten die Signale nicht hören und behaupten, daß es eine sichere Fluchtalternative für Kurden in der Türkei gäbe. Das stimmt. Es gibt eine sichere Fluchtalternative für Kurden. Als sicherer Fluchtort kommt aber nicht der Westen der Türkei in Frage sondern die Friedhöfe. Da können die Kurden sich ungestört von der jahrzehntelangen Müdigkeit erholen.
Mehmet Sahin, selbst kurdischer Herkunft, engagiert sich im "Dialogkreis" wie mit Hilfsaktionen und türkisch-kurdischen Friedensinitiativen für eine politische Lösung des Krieges in der Türkei