Versöhnung mit der Sowjetunion

von Konrad Lübbert

In vielen Bereichen christlicher Friedensarbeit, in Gemeinden, in Friedensinitiativen und schließlich auch in den Amtskirchen, kommt dem Engagement für Versöhnung mit der Sowjetunion seit einiger Zeit ein hoher Stellenwert zu. Angestoßen durch den Tübinger Kampagnen-Aufruf stellen sich jetzt vermehrt auch andere Gruppen der Friedensbewegung dieser Aufgabe.

Die Verwendung des Wortes "Versöhnung" in diesem Zusammenhang ist allerdings mißverständlich. Es darf nicht mit "Versöhnlichkeit" unsrerseits verwechselt werden: Denn der Krieg, der 20 Millionen Tote von der Sowjetunion forderte, wurde nicht, wie man im Blick auf das rechtskonservative Stimmungsbarometer in unserem Land bisweilen annehmen könnte, von der Sowjetunion gegen unser Land, sondern er wurde von Deutschland gegen die Sowjetunion begonnen und zwar als geplanter Angriffs- und Vernichtungskrieg mit unvorstellbarer Grausamkeit.

Wenn von Versöhnung mit der Sowjetunion gesprochen wird, so ist dabei das biblische Verständnis dieses Wortes vorausgesetzt. Es beinhaltet die Veränderung der eigenen Lebensgrundlage, des eigenen Verhaltens, das zu Unrecht dem anderen gegenüber geführt hat. Es wird im Griechischen als "diallage" bezeichnet und heißt in der wörtlichen Übersetzung "durch Wechsel". Genau darum geht es in der Versöhnungsarbeit: die eigenen Verhältnisse zu ändern.

Versöhnung mit der Sowjetunion ist darum so wichtig, weil unser Land, das nach 1945 seine Identität von den Herkunftsländern der westlichen Besatzungstruppen und ihrer Gesellschaftsordnung übernommen hat, sein altes Feindbild gegenüber den "Russen" beibehalten und dieses sogar zur Rechtfertigung der Verbrechen des 2. Weltkrieges in der Sowjetunion benutzt hat. Der frühere Magdeburger Bischof Werner Krusche stellte 1984 in einer Rede in Kiel zu Recht fest: "Die Ausblendung der besonderen Schuld gegenüber dem zur Vernichtung bestimmt gewesenen Sowjetvolk ist der verhängnisvollste und folgenschwerste Vorgang in der deutschen Nachkriegsgeschichte." Antikommunismus und militärisches Denken dienen derzeitig zur Rechtfertigung einer Rüstung, die die Welt an den Rand der Totalvernichtung gebracht hat.

Aufgabe der Friedensarbeit ist es, der Rüstung ihre Rechtfertigung durch überholte und immer wieder indoktrinierte Feindbilder zu entziehen, aus dem militärischen Gegeneinander ein politisches Miteinander zu machen und über gesetzte Grenzen hinweg Verantwortung für das Überleben sowie ein künftiges Zusammenleben der Völker wahrzunehmen. Darum haben viele Gruppen die Versöhnung mit der Sowjetunion zum Schwerpunkt ihrer Arbeit gemacht.

Dies kann in der Praxis sehr unterschiedliche Aspekte haben.

  1. Die Aufarbeitung der Vergangenheit unseres Volkes ist wichtig. Was hat zum Nationalsozialismus geführt, und wie ist der Antikommunismus entstanden? Was hat sich abgespielt, daß in den Kirchen und in unserem Volk von der begangenen Schuld abgelenkt werden konnte, daß sie privatisiert oder einfach ausgeblendet werden konnte? Besuche in Stukenbrock oder in anderen Orten, an denen Abertausende von Sowjetmenschen umgebracht worden sind, geben vielen Gruppen hierzulande Anschaulichkeit über die Verbrechen der Vergangenheit.
  1. Arbeit im Sinne der Versöhnung heißt, sich mit den Augen des anderen sehen lernen. Dazu gehört es, den anderen besser zu verstehen: seine Geschichte, seine Kultur, sein Denken, seine Gesellschaft. Unsere Wahrnehmung von dem, was in der Sowjetunion geschieht und sich entwickelt hat, ist vielfach getrübt, und viele Gruppen führen Seminare durch, um sich besser über die Geschichte und Kultur Russlands und der Sowjetunion, über den Kommunismus und seine Gesellschaftsvorstellungen zu informieren.
  2. Zahlreiche Besuche von Gruppen haben die Kenntnisse über das Leben in der Sowjetunion vertieft und zu unmittelbaren menschlichen Kontakten und Verbindungen geführt. Eine Gruppe von 150 kirchlichen Mitarbeitern/innen sowie Pastorinnen und Pastoren, die in den Tagen um den 8. Mai Minsk, Chatyn und Moskau besuchte, verstand ihre Reise als "Politische Pilgerfahrt", die der im deutschen Namen begangenen Verbrechen gedachte, ihre Betroffenheit darüber zeigte, und mit den Partnern in der Sowjetunion über Neues Denken diskutierte. Der Eindruck am Gedenkmal von Chatyn ist ebenso nachhaltig wie der Eindruck, den viele Besucher aus unserem Land früher schon auf dem Massenfriedhof Piskarjow bei Leningrad oder beim Besuch des ehemaligen Stalingrad erhalten haben.
  3. Zu Seminaren in unserem Land wurden Schriftsteller, Politiker oder Abrüstungsexperten aus der Sowjetunion eingeladen. Die Diskussionen verdeutlichten, daß wir miteinander Verantwortung in dieser einen Welt haben, daß wir uns gegenseitig vielfältige Anregungen geben können und daß der fruchtbare Dialog miteinander nicht nur möglich, sondern notwendig ist. Begegnungen dieser und anderer Art können mit Hilfe des sowjetischen Friedenskomitees, des Kriegsveteranenkomitees, des Frauenkomitees, des Komitees der Jugendorganisationen, des Schriftstellerverbandes oder anderer Verbände, wenn auch meist nur langfristig geplant, so doch ohne Schwierigkeiten ermöglicht werden.
  1. Im vergangenen Jahr veranstaltete der Versöhnungsbund mit anderen Gruppen zusammen ein Seminar in Mutlangen vor den Toren des Raketendepots, an dem Vertreter der sowjetischen, der US-amerikanischen und der bundesdeutschen Friedensbewegung teilnahmen. Über. die strukturelle Unterschiedlichkeit der Friedensarbeit und die verschiedenen Ansätze in Arbeit und Denken wurde ebenso diskutiert wie über·Glasnost, Perestroika und Neues Denken, kurz: über die Herausforderungen, die sich uns gemeinsam für die Zukunft stellen" und die damit. verbundenen Aufgaben innerhalb unserer jeweiligen Gesellschaft. Begegnungen solcher Gruppen oder die vielen Begegnungen von Einzelpersonen in der Friedensarbeit haben in der Vergangenheit nicht nur das Verständnis füreinander verbessert, sondern auch das Gemeinsame der an uns gerichteten Herausforderung verdeutlicht.
  1. Zahlreiche Arbeitsmaterialien sind im Laufe der letzten Jahre veröffentlicht worden. Besondere Bedeutung hatten dabei für die Arbeit innerhalb der Kirchen die von den Arbeitsgemeinschaften Solidarische Kirche in Westfalen und Lippe veröffentlichten acht Thesen zu "Versöhnung und Frieden mit den Völkern der Sowjetunion". "Der Antikommunismus in Kirche und Gesellschaft", so heißt es darin, „ist eine Wurzel der Unversöhnlichkeit und ein Haupthindernis für Frieden und Verständigung mit der Sowjetunion". Dieses Übel zu überwinden, helfen nicht nur Begegnungen mit Menschen aus der Sowjetunion, sondern auch Begegnungen. mit Kommunisten in unserem Land. Denn sie sind nicht nur besser als viele andere bei uns über die Sowjetunion und ihre Geschichte informiert, sondern auch jetzt noch durch Vorurteile und Ausgrenzungen belastet. Das offene Gespräch zwischen Christen und Marxisten in unserem Land ist auf der Tagesordnung, steht jedoch noch sehr an den Anfängen.

 

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Konrad Lübbert ist Pfarrer und Vorsitzender des Versöhnungsbundes.