Ukraine

Waffenstillstand ?

von Bernhard Clasen
Krisen und Kriege
Krisen und Kriege
( c ) Netzwerk Friedenskooperative

585 Mal sei der Waffenstillstand in der Ostukraine am Tag zuvor verletzt worden, berichtet die OSZE-Beobachtermission am 5. November 2016 in einem mehrseitigen Bericht. Der 4. November scheint ein relativ ruhiger Tag an der Front in der Ostukraine gewesen zu sein. In der Woche zuvor, so OSZE-Sprecher Alexander Hug, habe die OSZE 8000 Verletzungen der Waffenstillstandsvereinbarungen registriert. Seit der letzten Waffenstillstandsvereinbarung vom 1. September beobachte man einen kontinuierlichen Anstieg der Waffenstillstandsverletzungen, so Hug gegenüber ukrainischen Medien. Auch die am 21. September vereinbarte Truppenentflechtung wird nur teilweise umgesetzt. Wäre sie umgesetzt worden, wären zwei Menschen am Tag zuvor nicht getötet worden, könnte ein 6-jähriges Mädchen weiter mit ihren Freundinnen spielen. „Doch nun wartet das Mädchen auf eine Operation am Kinn, wo sie von einem Geschoss verletzt worden ist. Das ist doch jemandes Kind, so wie Ihre Kinder und meine Kinder“, so Hug auf einer Pressekonferenz.

Spätestens seit dem „Minsk – 2“ genannten Waffenstillstandsabkommen, das Angela Merkel, Wladimir Putin, François Hollande und Petro Poroschenko am 12. Februar 2015 ausgehandelt hatten, müssten die Waffen in der Ostukraine ruhen. Mit dem Waffenstillstandsabkommen von Minsk konnte ein großer Krieg verhindert werden, doch ein wirklicher Waffenstillstand sieht anders aus.

In Kiew hat man sich an den bewaffneten Konflikt gewöhnt. Donezk ist weit. Es herrscht Winter, und deswegen zahlt man ein Drittel mehr an kommunalen Gebühren. Auch die Lebensmittelpreise sind seit November um ein weiteres Drittel gestiegen. Für RentnerInnen bedeutet dies, dass sie ihre gesamte Rente für ihre Wohnung aufwenden müssen. Wer nicht noch einen Job oder gut verdienende Kinder hat, hungert.

Aus dem Leben der Kiewer Rentnerin Elena
Die 70-jährige Elena hat ihr Leben lang gearbeitet, als Lehrerin, als Verkäuferin, als Erzieherin. Jetzt bekommt sie 70 Euro Rente. Eine Tasse Cappuccino in einem Kiewer Café kostet knapp einen Euro.

Sonntags steht Elena früh auf, zum Kirchgang. Vier Kirchengemeinden besucht sie. Überall ist sie eingetragen, und jede Gemeinde gibt ihr nach dem Gottesdienst ein kleines Essenspaket: Nudeln, Olivenöl, Reis und Zucker finden sich darin. All diese Lebensmittel bewahrt sie gut auf und schickt sie bei Gelegenheit an ihre Verwandten in der Provinz. Denn dort ist die Armut noch größer als in Kiew.

Unter der Woche geht Elena oft auf Demonstrationen. Sie hat sich in Listen eingetragen, wird immer angerufen, wenn man „wütende Rentner“ braucht. 5 Euro erhält sie für eine Demonstration. Doch ihre Wut ist nicht gespielt, wenn sie auf die Korruption der Politiker zu sprechen kommt.

Der Weinkeller des Innenministers
Über 20.000 Euro kostet eine Flasche Wein der Marke „Mouton Rothschild 1945“. Einer der glücklichen Besitzer dieses Weines ist der ukrainische Innenminister Arsen Awakow. Er hatte bei seiner Besitzerklärung einen Weinkeller mit erlesenen Weinen angegeben.

Mit der zunehmenden Verarmung wächst gleichzeitig die Wut auf die PolitikerInnen und StaatsbeamtInnen, die verlangen, den Gürtel enger zu schnallen, selbst aber in Saus und Braus leben. Man nimmt mit Zorn zur Kenntnis, dass Valeria Gontarewa, Chefin der Zentralbank, zwei Porsche fährt, die Abgeordnete und Maidan-Aktivistin Anna Gopko zehn Wohnungen besitzt, Igor Gryniw, Chef der Poroschenko-Fraktion im Parlament, zwei Lexus-Luxuswagen, einen Audi Q7 und einen BMW X1 besitzt. Und Oleg Ljaschko, Chef der Radikalen Fraktion im Parlament, hat sich mit seiner Deklaration gar als Dollar-Millionär entpuppt. In seiner Garage stehen ein Mercedes-Benz S500, ein Jeep und ein Toyota Land Cruiser.

Minsk-Verhandlungen: Auf die Reihenfolge kommt es an
Unterdessen gehen die Verhandlungen um eine Regelung des Konfliktes weiter. Regelmäßig trifft sich in Minsk unter dem Dach der OSZE die aus der Ukraine, der OSZE und Russland bestehende trilaterale Kontaktgruppe. Im Oktober trafen sich in Berlin die Staatschefs von Deutschland, Frankreich, der Ukraine und Russland, um erneut über einen Waffenstillstand zu sprechen.

Eigentlich herrscht Einigkeit über die Regelung des Konfliktes. Am 5. September 2014 und am 12. Februar 2015 hatten sich die Konfliktparteien auf konkrete Punkte eines Waffenstillstandsabkommens geeinigt. Dazu gehören ein Waffenstillstand, eine Entflechtung der schweren Waffen und ein politischer Prozess. Dieser Prozess sieht vor, dass die Ukraine ihre Grenze kontrollieren kann, im Donbass Regionalwahlen stattfinden werden, der Donbass einen Sonderstatus erhalten wird und Kämpfer amnestiert werden.

Doch es gibt einen Dissens: die Reihenfolge der Umsetzung. Für die ukrainische Seite ist die Sicherheit vorrangig. Damit meint sie, dass die Ukraine ihre gesamte Grenze kontrollieren kann. Erst dann könne ein politischer Prozess in Gang gesetzt werden. Sobald die Grenze von der Ukraine kontrolliert wird, werden die Aufständischen auf die militärische Unterstützung aus Russland verzichten müssen.

Die Aufständischen und das mit ihnen verbündete Russland wollen eine umgekehrte Reihenfolge: zuerst der politische Prozess und dann die Grenze, so deren Sichtweise.  

Die unterschiedlichen Vorstellungen von der Reihenfolge der Umsetzung sind von entscheidender Bedeutung. Beide Seiten wollen bei den Regionalwahlen Herr im Haus sein. Wichtig ist nicht, wer wählt, sondern wer zählt.

Hass auf beiden Seiten – Am Anfang war das Wort
Zwei Wörter sind vor allem Indikatoren des Hasses auf beiden Seiten: „Faschisten“ und „Terroristen“. Für diese Personengruppen ist das allgemeine Tötungsverbot aufgehoben. „Faschisten“ darf man töten, „Terroristen“ auch. Indem ganze Bevölkerungsgruppen zu „Faschisten“ oder „Terroristen“ erklärt werden, gibt man ganze Schichten der ukrainischen Gesellschaft zum Abschuss frei, auch Kinder, Frauen und Rentnerinnen.

In einer Rede anlässlich des Jahrestages zur Befreiung der Ukraine vom Hitler-Faschismus bezeichnete Igor Plotnizkij, Chef der „Volksrepublik Lugansk“, die Kiewer Regierung als „nazistisch“. „All die Hitlers und Poroschenkos kommen und gehen, besser gesagt, sie rennen davon. Doch die russische Welt ist ewig“ so Plotnizkij, der gleichzeitig eröffnete, dass man in der „Volksrepublik Lugansk“ an Plänen einer Befreiung der Ukraine arbeite. Diese Befreiung, so Plotnizkij, werde mit „nur wenig Blutvergießen“ verbunden sein.

Am 17. Oktober kündigte ein Feldkommandeur der Aufständischen, Michail Tolstych, nach dem tödlichen Anschlag auf Feldkommandeur „Motorola“ einen Rachefeldzug an. Man werde, „ganze Städte in der Ukraine dem Erdboden gleich machen“.

Hass gibt es auch auf der anderen Seite. Immer wieder sind rechtsradikale Gruppen in den vergangenen Jahren mit Sprechchören wie „Tod dem Feind“ und „Hängt die Kommunisten“ („Kommunijaki na guljaki“) über den Kiewer Maidan marschiert. Und die Rechtsradikalen sind inzwischen in die herrschenden Strukturen integriert. So ist ein ehemaliger Kommandeur des rechtsradikalen Freiwilligencorps „Asow“, Wadim Trojan, derzeit Polizeichef der Ukraine.

Anfang November erklärte Patriarch Filaret in Kiew, der Donbass müsse mit Blut seine Schuld reinigen, die er mit den Volksabstimmungen auf sich genommen habe.

Referenden
„Ich habe 2014 beim Referendum für die Unabhängigkeit von Donezk gestimmt“, erklärte mir eine Bewohnerin von Donezk. „Nicht weil ich wirklich für die Unabhängigkeit von Donezk bin, sondern weil ich gesehen habe, wie die Machtverhältnisse sind. Ich will vor allem Stabilität und deswegen habe ich so abgestimmt, wie es die Machthaber empfohlen haben.“ Diese Äußerung zeigt: Viele stimmen gerne so ab, wie es die Herrschenden wünschen.

Auf der Krim hatte es seit den 1990-er Jahren drei Referenden gegeben.

Am 20. Januar 1991 haben 93 Prozent der Krim-Bewohner für einen Verbleib in der Sowjetunion, und damit für Moskau gestimmt.

Am 1. Dezember 1991 haben sich 54 Prozent der Bewohner der Krim für einen Verbleib in der kurz davor gegründeten unabhängigen Ukraine und damit für Kiew ausgesprochen.

Bei einem von Russland organisierten Referendum über den Status der Krim haben sich am 16. März 2014 über 95 Prozent für eine Zugehörigkeit zu Russland, und damit für Moskau, ausgesprochen.

Die Ergebnisse der Referenden zeigen: Stimmungen über die Zugehörigkeit zu Moskau oder Kiew ändern sich.

Grenzänderungen können immer einen Krieg auslösen. Deswegen dürfen Grenzen nicht beliebig und nach Stimmungslage geändert werden. Acht Kriege hat es seit dem Zusammenruch der Sowjetunion gegeben. Bei allen ging es um das „Selbstbestimmungsrecht“.

Ich bin der Überzeugung, dass das Recht aller Länder auf Unverletzlichkeit ihrer Grenzen Vorrang vor dem Selbstbestimmungsrecht der Völker hat.

Grenzen sind in der Regel durch Ungerechtigkeiten entstanden. Historische Ungerechtigkeiten geben jedoch nicht das Recht, Grenzen zu verändern. In Afrika sind die meisten Grenzen von den früheren Kolonialherren gemacht. Trotzdem werden diese Grenzen heute anerkannt. Andernfalls würde ein ganzer Kontinent brennen.

Wie weiter?
Mit Gesprächen und vertrauensbildenden Maßnahmen kann der Hass, der die Ursache der Waffenstillstandsverletzungen ist, aufgebrochen werden. Nadeschda Savchenko, Berufssoldatin, ehemalige Gefangene in einem russischen Gefängnis und Abgeordnete im ukrainischen Parlament, fordert direkte Gespräche zwischen Kiew und Donezk. In Odessa bemühen sich PsychologInnen im Rehabilitationszentrum St. Paul in Zusammenarbeit mit „Brot für die Welt“ um einen Dialog zwischen verfeindeten Gruppen: Lange waren in Odessa prorussisch gesinnte Binnenflüchtlinge aus dem Donbass und Angehörige von rechtsradikalen Freiwilligeneinheiten nicht bereit zu einem Gespräch. Den PsychologInnen von St. Paul ist es in Odessa gelungen, diese beiden Gruppen miteinander in einen Dialog zu bringen.

Soziale Gerechtigkeit: Klassenkampf oder Zivilgesellschaft?
Es gibt keine soziale Gerechtigkeit in der Ukraine. Einer verarmten Bevölkerungsmehrheit steht eine kleine Zahl von MillionärInnen und Oligarchen gegenüber, die Medien, Politik, Wirtschaft und Freiwilligenbataillone kontrollieren. Solange RentnerInnen nicht wissen, wie sie ihre Miete bezahlen können und gleichzeitig ein Innenminister einen teuren Weinkeller besitzt und die Notenbankchefin zwei Porsche fährt, kann es erneut zu Auseinandersetzungen mit Blutvergießen kommen. Eine Ukraine, die von einer derart schreienden sozialen Ungerechtigkeit geprägt ist, hat keine Ausstrahlungskraft auf die Menschen in den von Kiew nicht kontrollierten Gebieten.

Deswegen braucht die Ukraine gerade jetzt auch sozialistische Impulse. Wenn diese sozialen Ungerechtigkeiten nicht mit Steuerreformen und gewaltfrei angegangen werden, ist zu befürchten, dass es eines Tages zu Hungeraufständen kommt.

Das rechtsradikale Erbe
Am 22. Juli 2015 hatte das polnische Unterhaus, der Sejm, die Massaker von 1943 in Wolhynien in der nordwestlichen Ukraine, denen nach polnischen Angaben über hunderttausend Menschen zum Opfer gefallen waren, einstimmig als „Genozid“ bezeichnet. Verantwortlich für diese Massaker, so der Sejm, seien die Nationalistenorganisationen UPA (Ukrainische Aufständische Armee) und OUN (Organisation Ukrainischer Nationalisten).

Im September 2016 machte der israelische Präsident Reuven Rivlin bei seinem Besuch an der Kiewer Gedenkstätte des Massenmordes in der Schlucht von Baby Jar ukrainische Nationalisten, insbesondere die Kämpfer der OUN, als Helfershelfer der Morde der Nazis verantwortlich.

Die Ukraine täte gut daran, die staatlich angeordnete Heldenverehrung von UPA und OUN zu überdenken. Das wäre die beste Werbung für das Land, nicht nur in Polen und Israel.

Und für die Bevölkerung von Donezk, Lugansk und der Krim käme ein Ende dieser Heldenverehrung einem Neubeginn des Verhältnisses zu Kiew gleich.

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