Plädoyer gegen Leisetreterei und taktische Argumente im Umgang mit Washingtons hartnäckiger Kampagne gegen den IStGH

Warum die USA den Internationalen Strafgerichtshof fürchten müssen

von Andreas Zumach
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Im August haben sich die transatlantischen Auseinandersetzungen über den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) zugespitzt, dessen Statut am 1. Juli dieses Jahres in Kraft trat. Die Bush-Administration verschaffte ihrem Ansinnen, zum Schutz ihrer StaatsbürgerInnen vor dem IStGH bilaterale Abkommen mit rund 150 Staaten abzuschließen, durch Druck, Drohungen und Erpressung Nachdruck. Das Ansinnen stieß in zahlreichen europäischen Hauptstädten auf entschiedene Ablehnung. Allerdings gab es bis Mitte August in dieser Frage noch keine gemeinsame Haltung der EU. Bis zu einer informellen Sitzung der NATO-Verteidigungsminister Ende September in Warschau erwarten die USA die Zustimmung ihrer 18 NATO-Verbündeten zu bilateralen Immunitätsschutz-Abkommen. Der Entscheidung Deutschlands in dieser Angelegenheit wird in Washington ganz besonderes Gewicht beigemessen. Unter allen westlichen Verbündeten der USA hatte sich Deutschland Ende der 90er Jahre am stärksten engagiert für die Schaffung eines effektiven Strafgerichtshofs mit weitreichenden Kompetenzen und möglichst großer Unabhängigkeit vom UNO-Sicherheitsrat.

Nach der israelischen Regierung, die die BürgerInnen ihres Landes wie die Bush-Administration in "unakzeptabler Weise" durch den IStGH bedroht sieht, unterzeichnete Angang August auch die Regierung in Bukarest ein solches Immunitätsschutzabkommen mit Washington. Die rumänische Regierung wurde dabei von der Bush-Administration mit dem Versprechen geködert, dass die USA beim nächsten NATO-Gipfel Ende November in Prag den Aufnahmeantrag Rumäniens unterstützen wollen. Im Gegensatz zu Israel, das das Statut des IStGH nicht einmal unterschrieben hat, gehört Rumänien allerdings zu den bislang 77 Staaten (Stand 15. August), die dem IStGH durch Ratifikation des Statuts beigetreten sind. Deshalb (und weil Rumänien die EU-Mitgliedschaft anstrebt) stieß die Entscheidung Bukarests in Brüssel auf besonders starke Bedenken. In einer diplomatischen Note empfahl die EU-Kommission sämtlichen beitrittswilligen Ländern mit der Vereinbarung eines bilateralen Immunitätsschutzabkommens mit den USA zumindest so lange zu warten, bis die 15 EU-Staaten eine gemeinsame Haltung zu dem Ansinnen aus Washington formuliert haben. Das scheiterte zunächst in erster Linie an der Position der britischen Regierung, die den Wünschen der Bush-Administration erhebliches Verständnis entgegenbringt.
 

Mit Hilfe Großbritannies sowie durch Druck und Erpressung hatten die USA bereits Ende Juli im UNO-Sicherheitsrat einen Immunitätsschutz für alle US-Militärs und -Zivilpersonen durchgesetzt, die an UNO-Missionen teilnehmen. Diese Regelung ist ein Verstoß gegen Geist und Buchstaben des IStGH-Statuts. Sie ist zwar zunächst auf zwölf Monate (bis zum 30. Juni 2003) begrenzt. Der Sicherheitsrat will sie aber "solange um jeweils weitere zwölf Monate verlängern, wie dies erforderlich ist". Derartige Absichtsbekundungen aus früheren Ratsbeschlüssen sind immer auch Realität geworden.

Diese (vom Sicherheitsrat schließlich einstimmig beschlossene) erste Beschädigung des IStGH wurde möglich, weil Deutschland und andere EU-Regierungen bei den Verhandlungen in New York einem (mit dem IStGH-Statut vereinbaren) Resolutionsantrag Frankreichs die Unterstützung versagten. Nach diesem Einknicken der Europäer verließ auch die nichteuropäischen Ratsmitglieder, die das Immunitätsbegehren der USA zunächst abgelehnt hatten, der Mut zur Gegenstimme. Durch die jetzt von der Bush-Administration angestrebten bilateralen Abkommen mit rund 150 Staaten soll der Immunitätsschutz für US-Bürger über die Teilnahme an UNO-Missionen hinaus auf sämtliche militärischen oder zivilen Einsätze außerhalb der Staatsgrenzen der USA ausgedehnt werden. Das Bemühen um Immunitätsschutz für ihre BürgerInnen ist die dritte Phase einer nun schon vier Jahre währenden hartnäckigen Kampagne der USA gegen einen effektiven, vom UNO-Sicherheitsrat unabhängigen IStGH mit weitreichenden Kompetenzen. Während der Verhandlungen über das IStGH-Statut im Sommer 1998 in Rom bemühte sich Washington um möglichst viele Verwässerungen. Das gelang nur sehr bedingt. Am Ende der Verhandlungen waren die USA weitgehend isoliert. In der zweiten Phase versuchte Washington, die für ein Inkraftreten des Statuts erforderliche Ratifikation durch 60 Staaten zu verhindern. Dies misslang trotz massiven Drucks der USA auf zahlreiche Regierungen.

In den vier Jahren seit der Romkonferenz haben Politiker, Juristen und Kommentatoren aus Deutschland und anderen Ländern immer wieder "Unverständnis" über die Bedenken der USA geäußert. Angesichts einer "funktionierenden unabhängigen Justiz" in den USA sei es "höchst unwahrscheinlich", dass sich jemals einE US-BürgerIn vor dem IStGH verantworten müsse. Soweit dieses Argument taktisch eingesetzt wurde, um die IStGH-Kritiker in den USA zu beschwichtigen und zu einer Änderung ihrer Haltung zu bewegen, ist es gänzlich gescheitert. Es musste auch deshalb scheitern, weil es im Kern falsch ist. Zudem verschleiert und verharmlost dieses Argument die grundsätzliche Bedeutung der Auseinandersetzung um den IStGH für die weitere Entwicklung des Völkerrechts.

Entgegen allen Beschwichtigungen haben die USA durchaus Anlass zur Sorge, der IStGH könne eines Tages auch gegen BürgerInnen ihres Landes ermitteln. Das zeigt ein Blick in die Vergangenheit. Was wäre gewesen, wenn der IStGH schon in den 60er Jahren existiert hätte? Während des Vietnam-Krieges begingen die US-Streitkräfte in My Lai und 30 weiteren Orten Massaker an der Zivilbevölkerung, die größtenteils ungeahndet blieben. So steht es im Peers-Untersuchungsbericht der US-Regierung, der 1974 in Teilen veröffentlicht wurde. Die Verbrechen amerikanischer GI`s, denen tausende von Zivilisten zum Opfer fielen, gehören zu den heute vom IStGH-Statut erfassten Straftatbeständen. Doch vor ein US-Gericht kam seinerzeit lediglich Lieutenant William Calley, der Hauptverantwortliche des Massakers von My Lai. Obwohl wegen Mordes verurteilt, wurde Calley bereits nach kurzer Haft entlassen.

Auch die Verbrechen in Laos, Kambodscha und beim Militärputsch in Chile, für die seit einiger Zeit Staatsanwälte und Ermittlungsrichter verschiedener Länder dem ehemaligen US-Außenminister Henry Kissinger strafrechtliche Verantwortung vorhalten, gehören zu den vom IStGH-Statut erfassten Straftatbeständen.

Denkbar wäre künftig auch, dass die Verwendung bestimmter Munitionsarten wie z.B. Splitterbomben oder mit abgereichertem Uran versetzte Munition, die die USA gegen Ziele im Irak, in Serbien und in Afghanistan einsetzten wegen ihrer verheerenden Wirkung für die Zivilbevölkerung zu schweren Verstößen gegen die Genfer Konventionen erklärt werden. Diese Verstöße könnten dann vom IStGH als Kriegsverbrechen verfolgt werden. Die Tatsache, dass die Chefanklägerin des Internationalen Jugoslawientribunals in Den Haag eine gegen die USA und ihre NATO-Verbündeten gerichtete Klage wegen der Kriegsführung gegen Jugoslawien nicht sofort verworfen, sondern sie zumindest einer Vorprüfung unterzogen hat, verstärkte in Washington die Ahnung, dass knapp 60 Jahre nach den wesentlich von den USA bestimmten Kriegsverbrechertribunalen von Nürnberg und Tokio Verfahren gegen US-Bürger vor Institutionen internationaler Justiz nicht völlig undenkbar sind.

Der IStGH ist von grundsätzlicher Bedeutung für die USA und damit auch für die künftige Entwicklung des Völkerrechts und seiner Umsetzung. Er ist erst die zweite multilaterale Institution seit Gründung der UNO im Jahre 1945, die auch für die USA verbindliche Beschlüsse fassen kann, in der die US-Regierung nicht zugleich aber auch mit dem Mittel ihrer Vetomacht im UNO-Sicherheitsrat den Gang der Dinge bestimmen und für sie unliebsame Entscheidungen verhindern kann. Die erste solche Institution war die 1994 (ganz wesentlich auch auf Betreiben der USA) geschaffene Welthandelsorganisation (WTO). In der WTO sind die USA einer von inzwischen 142 formell gleichberechtigten Mitgliedsstaaten. Eine Einrichung mit formalen Privilegien für einzelne Mitglieder (ähnlich dem Sicherheitsrat in der UNO) gibt es in der WTO nicht. Die USA können in der Plenarversammlung der WTO von einer Mehrheit sehr viel kleinerer und "unwichtigerer" Länder überstimmt werden, und sie haben gegen Beschlüsse der Plenarversammlung keine Vetomöglichkeit. Eben aus diesem Grund votierten Anfang der 90er Jahre nicht nur extrem konservative Politiker, wie der damalige Vorsitzende des Senats-Ausschusses für außenpolitische Angelegenheiten, Jesse Helms, entschieden gegen einen Beitritt der USA zur WTO. In der inneramerikanischen Debatte obsiegten schließlich die "Realisten", die darauf vertrauten, dass die USA ihre Interessen innerhalb der WTO dank ihrer immensen Wirtschaftsmacht auch ohne formale Privilegien würden durchsetzen können. Diese Erwartung hat sich in den ersten acht WTO-Jahren voll bestätigt. Doch ihre Wirtschaftsmacht nützt den USA wenig gegen unliebsame Ermittlungen oder Urteile des IStGH gegen US-BürgerInnen. Urteile nachträglich nicht anzuerkennen (wie 1988, als die Reagan-Administration eine Verurteilung der USA durch den Internationalen Gerichtshof wegen der Verminung der nicaraguanischen Häfen nicht anerkannte und die Zahlung der vom Gericht festgesetzten Schadenersatzsumme von zwölf Milliarden Dollar verweigerte), wären im Fall des IStGH wirkungslos. Zumal sich die verurteilten US-BürgerInnen bereits im Gewahrsam des IStGH in Den Haag befinden würden (laut IStGH-Statut sind nur Verfahren gegen Angeklagte möglich, die anwesend sind). Eine Umsetzung der im Juni in einem Kongressbeschluss formulierten Drohung, in Den Haag (also auf dem Territorium des NATO-Partners Niederlande) inhaftierte US-BürgerInnen notfalls mit militärischer Gewalt zu befreien, wäre extrem unpopulär und würde wohl das Ende der NATO bedeuten. Die USA waren federführend beteiligt an der Entwicklung des seit 1945 gültigen Völkerrechts und seiner Institutionen. Natürlich gemäß ihrer nationalstaatlichen Interessen, aber auch zum Wohl anderer Staaten und der ganzen Menschheit. Eine Unterstützung der USA für den IStGH und ihre aktive Beteiligung an dieser neuen Institution bedeuteten in der Tat die Zustimmung zu einer Weiterentwicklung des Völkerrechts unter einer entscheidend veränderten Bedingung: erstmals seit 1945 wäre mit dieser Zustimmung ein - zumindest kleiner - Souveränitätsverzicht der USA verbunden. Viele Menschen in den USA sind - unbeschadet der Entwicklungen seit dem 11. September - durchaus bereit zu diesem Schritt. Ihr Einfluss auf die Politik Washingtons lässt sich von außen - wenn überhaupt - nur stärken, wenn die Gründe für die derzeitige Haltung der USA sowie die überragende Bedeutung der Auseinandersetzung um den IStGH für die weitere Entwicklung des Völkerrechts deutlich benannt werden. Leisetreterei und noch so gut gemeinte taktische Argumente führen nicht weiter.

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