Welche Konsequenzen hat der "Bündnisfall"?

von Günter Werner
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Seit den Anschlägen in der USA am 11. September 2001 ist in der Öffentlichkeit wiederholt die Frage des "Bündnisfalles" erörtert worden. Am 2. Oktober 2001 wurde in den Medien berichtet, der NATO-Rat habe nunmehr förmlich den Eintritt des Bündnisfalles festgestellt, nachdem die USA den NATO-Partnern Belege dafür vorgelegt haben, dass der Anschlag vom 11. September 2001 "von außen" gesteuert gewesen sei.

Gem. Art. 5 des NATO-Vertrages kann der Bündnisfall festgestellt werden, wenn ein Mitglied der NATO von außen angegriffen wurde. Die Konsequenz einer solchen Feststellung ist, dass alle anderen Mitgliedsstaaten zum Beistand verpflichtet sind.

Unbestritten wurden die USA durch die Anschläge vom 11. September 2001 nicht von einem fremden Staat angegriffen. Bis zum Jahre 1999 wurde allgemein davon ausgegangen, dass unter "Angriff" iSd Art. 5 NATO-Vertrag ein staatlicher Angriff gemeint ist. Erst auf dem NATO-Gipfeltreffen im April 1999 in Washington wurde im Zusammenhang mit dem neu verabschiedeten Strategischen Konzept als neue Aufgabe der "Schutz vor terroristischen Angriffen" festgehalten mit der Konsequenz, dass auch solche Angriffe unter Art. 5 des NATO-Vertrages fallen sollen. Faktisch bedeutet dies eine Erweiterung des Art. 5 des Vertrages, ohne dass es zu einer Änderung des Wortlautes des Vertrages gekommen ist. Entsprechend wurde auch keine Änderung des Vertrages ratifiziert, Es sind also Zweifel angebracht, ob die Erweiterung des Art. 5 völkerrechtlich verbindlich festgestellt worden ist.

Welcher Art der Beistand ist, den die Mitgliedstaaten im Falle des Art. 5 dem angegriffenen Staat zu leisten haben, entscheiden die einzelnen Staaten grundsätzlich selbst. Art. 5 NATO-Vertrag normiert also keine automatische militärische Beistandsleistung.

Zunächst ist die Frage zu klären, in welcher Weise der Bündnisfall nach den Regeln des Grundgesetzes in der Bundesrepublik Deutschland selbst festzustellen ist.

Maßgeblich für die Beurteilung der rechtlichen Bedeutung des Bündnisfalles ist Art. 80 a Abs. 3 GG. Nach dieser Vorschrift ist der Eintritt des Bündnisfalles förmlich von der Bundesregierung festzustellen und im Bundesgesetzblatt zu verkünden. Der Grund für diese förmliche Verfahrensweise liegt auf der Hand: der Bündnisfall erlaubt der Regierung, Notstandsmaßnahmen in Kraft zu setzen, die tiefgreifende Auswirkungen auf das innere Gefüge der Bundesrepublik Deutschland haben können.

Gem. § 1 des Gesetzes über vereinfachte Verkündungen und Bekanntgaben vom 18.07.1975 (BGBl. I S.1919) kann die Bekanntgabe durch Verlautbarungen in der Presse erfolgen, wenn die Bekanntgabe im Bundesgesetzblatt "nicht oder nicht rechtzeitig möglich ist."

Gem. Art. 80 a Abs. 1 GG sind die meisten Notstandsmaßnahmen grundsätzlich nur nach Feststellung des Spannungsfalles zulässig, der wiederum einer 2/3 Mehrheit des Bundestages bedarf.

Nach Art. 80a Abs. 3 GG sind solche Maßnahmen (Inkraftsetzung von Notstandsgesetzen) "auch auf der Grundlage und nach Maßgabe eines Beschlusses zulässig, der von einem internationalen Organ im Rahmen eines Bündnisvertrages mit Zustimmung der Bundesregierung gefasst wird."

In der Konsequenz bedeutet dies, dass Notstandsmaßnahmen ohne vorherige Beschlussfassung durch den Bundestag möglich sind. Der Bundestag hat lediglich die Möglichkeit, die getroffenen Maßnahmen mit Mehrheit nachträglich aufzuheben.

Roman Herzog hat im Kommentar zum GG von Maunz/Dürig diese Vorschrift als "eine der bedenklichsten Bestimmungen" der Notstandsverfassung von 1968 bezeichnet. Er spricht von der Möglichkeit einer "Umgehung" des Parlaments.

Die Bundesregierung hat sich in der Zeit seit dem 11. September nur in unklaren und teilweise verwirrenden Äußerungen mit der Frage befasst, ob eigentlich davon auszugehen ist, dass der Bündnisfall nunmehr eingetreten ist. Die immer wieder besonders betonte Feststellung, die Bundesrepublik Deutschland stehe in "uneingeschränkter Solidarität" zu den USA legt den Verdacht nahe, dass hier auch die Konsequenzen gemeint sein können, die sich aus dem Bündnisfall ergeben können.

In der öffentlichen Diskussion und der Berichterstattung in den Medien in der letzten Woche ist ganz überwiegend über die Frage spekuliert worden, ob und ggf. in welcher Weise die Bundeswehr an militärischen Vergeltungsmaßnahmen der USA teilnehmen kann, darf oder sogar muss.

Kaum diskutiert wurde die Frage, welche innerstaatlichen Konsequenzen sich aus der Feststellung des Bündnisfalles ergeben können. Die folgenden Ausführungen befassen sich vor allem mit dieser Frage.

Die Feststellung des Bündnisfalles gem. Art. 80a Abs. 3 GG kann eine Vielzahl von gesetzlichen Beschränkungen zur Folge haben, die nur schwer zu übersehen sind. Es handelt sich im wesentlichen um Sicherstellungsgesetze wie z.B.:
 

  • das Zivilschutzgesetz
  • das Arbeitssicherstellungsgesetz
  • das Ernährungssicherstellungsgesetz
  • das Wirtschaftssicherstellungsgesetz
  • das Wassersicherstellungsgesetz
  • das Verkehrssicherstellungsgesetz
  • das Schutzbereichsgesetz
  • das Energiesicherungsgeset
  • das Post- und Telekommunikationssicherstellungsgesetz
  • das Bundesleistungsgesetz

Die Aufzählung ist nicht abschließend. Allen diesen Gesetzen ist gemeinsam, dass sie "für Zwecke der Verteidigung" oder "nach Maßgabe des Art. 80 a GG" einschränkende Maßnahmen vielfältiger Art erlauben.

So enthält § 10 ZivilschutzG eine "Aufenthaltsregelung", durch die für Zwecke der Verteidigung Aufenthaltsverbote und -gebote erlassen werden können.

In § 2 ArbeitssicherstellungsG ist für Zwecke der Verteidigung die Dienstverpflichtung praktisch der gesamten erwachsenen Bevölkerung vorgesehen. Dies gilt zwar gem. § 3 des Gesetzes nur für den Verteidigungsfall (Art. 115a GG). Ausbildungsveranstaltungen, also quasi die Vorbereitung für solche Dienstverpflichtungen sind aber bereits vorher möglich.

Das SchutzbereichsG erlaubt dem Bundesminister der Verteidigung, Gebiete zum militärischen Schutzbereich zu erklären und ggf. Wohnungen zu militärischen Zwecken räumen zu lassen.

Der Einsatz der Bundeswehr im Inneren soll zwar gem. Art. 87a Abs. 3 GG nur im Verteidigungsfall und im - vom Bundestag mit 2/3 Mehrheit festgestellten Spannungsfall möglich sein. Die derzeitige Diskussion über den Einsatz der Bundeswehr etwa zum Zweck der Bekämpfung des Terrorismus zeigt aber deutlich, dass auch hier die bisherigen Prinzipien zur Debatte stehen.

Schwerwiegende Folgen kann die Feststellung des Bündnisfalles für Kriegsdienstverweigerer haben.

Gem. § 8 KDVG fällt im Spannungsfall (verwiesen wird auf Art 80a GG insgesamt, nicht etwa nur auf Art. 80 a Abs. 1) das schriftliche Anerkennungsverfahren weg, die Gewissensprüfung durch Ausschüsse und Kammern wird wieder die Regel. Was noch schwerer wiegt: ein Antrag auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer hat keine aufschiebende Wirkung und hindert daher nicht die Einberufung zur Bundeswehr.

Möglich sind des weiteren Maßnahmen, die die Bundesregierung allein ohne Feststellung des Spannungs- oder Bündnisfalles ergreifen kann:

z.B. können gem. § 6 Abs. 6 WPflG Wehrübungen als Bereitschaftsdienst angeordnet werden mit der Folge, dass sie zeitlich unbefristet sind.

Der Charakter des Art. 80 a GG wird unterschiedlich beurteilt. Manche Kommentatoren meinen, der Bündnisfall des Art. 80 a Abs. 3 sei ein "Sonderfall" des Spannungsfalles des Art. 80 a Abs. 1 (so wohl im Ergebnis Herzog, MD GG, Art. 80a).

Andere vertreten die Ansicht, der Bündnisfall sei ein eigenständiger, vom Spannungsfall abgesetzter Tatbestand (so u.a. Stern a.a.O.).

Ipsen (AöR s.u.) weist darauf hin, dass der Bündnisfall die Möglichkeit eröffnet, "spektakuläre Parlamentsdebatten" zu vermeiden. Es seien Situationen denkbar, in denen wegen der Zusammensetzung des Bundestages eine 2/3 Mehrheit gem. Art. 80a Abs. 1 unsicher sei, der Weg über die Bündnisklausel dagegen ohne Schwierigkeiten in Anspruch genommen werden könne.

Es mag auch juristische Diskussionen darüber geben, ob und ggf. welche der Notstandsmaßnahmen "nur" im von Bundestag festgestellten Spannungsfall (Art 80a Abs. 1 GG) in Betracht kommen und welche auch im Bündnisfall gem. Art. 80a Abs. 3 GG. Die genannten Kommentatoren sind sich auch in dieser Hinsicht nicht ganz einig.

Ein Blick in die einschlägigen Gesetze und erst recht auf die derzeitigen Diskussionen zeigt, dass die Übergänge fließend sind und bisher als verbindlich angesehene Prinzipien zur Debatte stehen. Die wiederholten Äußerungen von Bundeskanzler Schröder über die "uneingeschränkte" Solidarität mit den USA lässt erkennen, dass im Zweifel gesetzliche Einschränkungen und Bestimmungen so ausgelegt werden, dass sie für eine solche uneingeschränkte Solidarität taugen.

Das immer wiederkehrende Argument, man habe es heute mit einem "völlig neuartigen Konflikt" zu tun, für den auch "neue Antworten" gefordert seien, lässt ahnen, dass die herkömmlichen Vorschriften des Grundgesetzes nur noch begrenzt für verbindlich gehalten werden.

Insbesondere ergibt sich hier der Verdacht, dass bislang als verbindlich angesehene völkerrechtliche und auch verfassungsrechtliche Grundsätze nun zur Disposition stehen können.

Von ganz besonderer Bedeutung dürften die Regierungsabkommen mit den USA, Großbritannien und Kanada sein, die die Bundesregierung in den Jahren 1982, 1983 und 1989 abgeschlossen hat. Maßgeblich ist das Abkommen mit den USA vom 15.04.1982 (Deutsch-amerikanisches Regierungsabkommen über Unterstützung durch den Aufnahmestaat in Krise und Krieg, Wartime Host Nation Support/WHNS), das weitreichende Unterstützungsleistungen durch die Bundesrepublik Deutschland für die Streitkräfte der USA vorsieht. Diese Unterstützung soll im Falle von "Krise oder Krieg" gelten, Begriffe, die in den einschlägigen Bestimmungen des GG nicht zu finden sind. Es sind also gerade nicht die Kriterien des GG, die erkennen lassen, ob das Abkommen zur Anwendung kommt. Die Vertragsparteien stellen vielmehr "gemeinsam fest, wann eine Krise oder ein Krieg besteht." Vor diesem Hintergrund bekommt die Erklärung der US-Regierung, man befinde sich im Krieg, Bedeutung.

Das Abkommen sieht vor, dass die Bundeswehr die US-Streitkräfte in einer Stärke von 90.000 Mann unterstützt, und zwar in folgenden Bereichen:
 

  •  Sicherung von Einrichtungen der US-Luftwaffe (13.376 Mann)
     
  •  Unterstützung von US-Luftwaffenteilen auf gemeinsamen Einsatzflughäfen (8.617 Mann)
     
  •  Flugplatzinstandsetzung (6.074 Mann)
     
  •  Sicherung von US-Heereseinrichtungen (3.941 Mann)
     
  •  Transport, Umschlag und Nachschubleistungen (ca. 26.000 Mann)
     
  •  Abtransport von "maximal 1725" Verwundeten (3.935 Mann)
     
  •  Übernahme von Kriegsgefangenen (täglich bis zu 200)
     
  •  Dekontamination von Personal und Material (bis zu 34.000 Personen und 2.700 Kfz.),
     

dazu
 

  •  Transport von Personal, Material, Munition und Betriebsstoffen auf Schiene, Straße, Binnenwasserstraßen
     
  •  Instandhaltungs- und Instandsetzungsleistungen sowie weitere Leistungen einschl. Materialumschlag
     
  •  Fernschreib- und Fernsprechteilnehmereinrichtungen
     
  •  Objekte für die Kriegsstationierung
     
  •  Verbrauchsmaterial und Verpflegung
     
  •  Mitwirkung bei der Deckung des Bedarfs an zivilen Arbeitskräften
     
  •  Freistellung vom Wehrdienst für Zivilbedienstete der US-Streitkräfte und der Vertragsfirmen, die für die US-Streitkräfte arbeiten
     
  •  materielle Mobilmachungsergänzung (Kraftfahrzeuge, Bau- und Depotgerät)
     

Das Abkommen ist lediglich von den Regierungen (für die Bundesrepublik Deutschland die Schmidt/Genscher-Regierung) unterzeichnet worden und niemals Gegenstand parlamentarischer Beratung gewesen. Erst recht hat es keine Ratifizierung durch den Bundestag gegeben.

Keine der genannten Notstandsmaßnahmen (innerhalb oder außerhalb einer Anwendung des Art. 80 a GG tritt automatisch ein. In jedem Falle kann die Regierung nach politischer Opportunität entscheiden, ob und ggf. welche Maßnahmen sie ergreift.

Die letzten Wochen haben gezeigt, dass vieles, was als verfassungsmäßig abgesichert galt, innerhalb von Stunden zur Disposition stehen kann. Jeden Tag sind neue Vorschläge zur Verbesserung der inneren Sicherheit (Ausbau von Polizei und Geheimdiensten, Ausbau von Überwachung und Kontrolle etc.) zu hören, wobei es offensichtlich kaum noch ein "Tabu" rechtsstaatlicher Art gibt.

Der von US-Präsident Bush propagierte Krieg gegen den Terrorismus kann Auswirkungen auch auf die Verhältnisse innerhalb der Bundesrepublik Deutschland haben, die bisher noch kaum beachtet wurden.

Literatur:

  • Stern, Die Grundrechte der BRD Band II § 55
  • Ipsen, Bündnisfall und Verteidigungsfall, DÖV 1971 S. 583 ff.
  • Ipsen, Die Bündnisklausel der Notstandsverfassung, AöR Bd. 94, S. 554 ff.
  • Herzog, Maunz-Dürig, GG, Art. 80a
  • Maaß, Das deutsch-amerikanische Abkommen vom 15. April 1982 ..., NZWehrR 1989, S. 9 ff.

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Günter Werner ist Rechtsanwalt in Bremen.