Wider den hektischen Aktionismus

von Gert Samuel

Um es gleich zu sagen: Auch wenn 1989 das Ende des „Kalten Krieges" verkündet wurde, auch wenn die Nachkriegsordnung sich aufzulösen beginnt, auch wenn die Begründung für Rüstungsmaßnahmen immer schwerer fällt, radikale Abrüstung bleibt auf der politischen Tagesordnung. Noch können wir uns nicht bequem zurücklehnen und uns am Werden einer neuen und besseren Welt erfreuen. Soll von Europa Frieden ausgehen, soll die internationale Politik entmilitarisiert werden, soll wirtschaftliche Zusammenarbeit zum Nutzen der Völker erfolgen, soll die natürliche Umwelt gesichert werden, sollen die demokratischen und Menschenrechte sowie soziale Gerechtigkeit die Politik in der einen Welt dominieren – dann ist unser eigenes Handeln unverzichtbar.

Wie sieht es in der kleiner gewordenen Schar der aktiven FriedensfreundInnen und Friedensfreunde aus? Eine neu- und eigenartige Mischung aus Ungeduld, Trotz, Mutlosigkeit und Verunsicherung beherrscht oftmals die derzeitigen Treffen der Friedensbündnisse. Auch wenn die Entwicklung in den osteuropäischen Ländern - vor allem die in der DDR seit Herbst 1989 - nicht direkt thematisiert wird, sie schwebt dort wie ein Geist über fast allen Köpfen. Außerdem wirkt ein nicht unbeträchtlicher Druck: Jetzt dürfen wir nicht versagen, dürfen wir auf keinen Fall den Gang der Dinge nur beifallklatschend oder ablehnend bepfeifend aus einer Zuschauerposition begleiten. Nein, wir müssen sofort und unbedingt etwas tun, wir müssen Flagge zeigen, wenn es andere nicht tun! Unter solchen Bedingungen finden wohl nicht wenige Friedensversammlungen statt, auf denen darüber diskutiert wird, ob und wenn ja, unter welchem Motto und wie die Aktionen zu Ostern 1990 gestaltet werden können.

Neue Befindlichkeit?

Je intensiver diese Debatte geführt wird, desto höher türmt sich der Berg der Fragen. Das ist normal, kaum anders denkbar angesichts der rasanten Veränderungen der letzten Monate. über die Medien dröhnen Parolen wie die vom "Sieg im Kalten Krieg" und von der "Wieder"vereinigung der Deutschen. Zudem haben nicht nur die Feindbilder der offiziellen Politik rapide an Überzeugungskraft verloren, zugleich sind auch wesentliche Analysen der Friedensbewegung aus den 80er Jahren - beschönigend gesprochen - ins Strudeln geraten. Die Verunsicherung wächst und Trotz läßt sich nicht lange bitten: Es kann doch nicht alles falsch gewesen sein, für das wir jahrelang auf die Straße gegangen sind! Schließlich meldet sich noch Angst, Angst davor, vom Gang der Dinge überrollt sowie politisch bedeutungs- und wirkungslos zu werden. Die in der Friedensbewegung Engagierten reagieren - natürlich - sehr unterschiedlich. Vom trotzigen "Jetzt erst recht!" bis hin zum resignierenden "Was können wir da noch machen?" reicht die Palette. Was mir zu kurz kommt, ist die gespannte Souveränität, der Drang, sich auch Zeit und Ruhe für die Analyse der neuen Wirklichkeiten zu nehmen. Was mich stört, ist der hektische Aktionismus, der sich umgehend breitmachen will.

Konsens oder Zuspitzung?

Bei der Suche nach den politischen Antworten der Friedensbewegung auf die veränderte Welt läßt sich Konsens leicht herstellen für die Forderung:

Jetzt radikal abrüsten! Doch danach wird es kontrovers. Was heißt denn radikal: Den Rüstungshaushalt halbieren? Die Bundeswehr abschaffen? Den Umfang der Bundeswehr halbieren? Den "Jäger 90" verhindern? Noch konträrer knallen die Meinungen aufeinander, wird die aktuelle politische Lage eingeschätzt und wird versucht, Schlußfolgerungen für die Strategie der Friedensbewegung zu entwickeln. Ist Abrüstung jetzt eher möglich, eher wahrscheinlich als in den Vorjahren? Bröckeln die Feindbilder vollends? Oder entstehen gar neue, schwerer angreifbare? Müssen wir uns jetzt aufschwingen zum Verteidiger zweier souveräner deutscher Staaten? Können wir den "Jäger 90", die Verringerung der Stärke der Bundeswehr sowie die Reduzierung der Wehrdienstdauer schon als Erfolge für den Prozeß der Abrüstung verbuchen? Überhaupt:

Wen wollen wir zum Mitmachen gewinnen? Fragen über Fragen, die das Formulieren von Aufrufen und Appellen für die Osteraktionen 1990 schwieriger denn je gestalten. Allerdings sieht es manchmal so aus, als kümmern diese Kontroversen einige Aktive wenig. Eine neue, peppige Aktionsform müsse her und eine radikal klingende Forderung (z.B. "Bundesrepublik ohne Armee!") sei nötig. Diese seien Voraussetzungen, um die Friedensarbeit zu beleben. Denn ähnlich wie zu Beginn der 80er Jahre komme es heute für die Friedensbewegung darauf an, aus einer Minderheitenposition heraus die Regierenden mit einer radikalen, aber nun auch umfassenden Forderung in die Defensive zu drängen. Ich bin nicht gegen die "Bundesrepublik ohne Armee" als wichtige Teilforderung weiterer Friedensarbeit. Ich halte jedoch den implizierten strategischen Ansatz für falsch. Er ist ein Aufguß einer ehemals politisch angemessenen Orientierung. Die heutigen politischen Rahmenbedingungen sind nicht vergleichbar mit denen vor zehn Jahren. Das Postulieren der "umfassenden Forderung" nach Abschaffung der Armee quasi als neues Dach für die weitere Friedensarbeit kann ebenso wenig wie noch so peppige Aktionen allein die anstrengende gemeinsame Suche nach einer neuen Strategie der Friedensbewegung ersetzen. Der Weg in die politische Sackgasse kann auf diese Weise nicht umgangen werden. Andererseits bin ich dafür, überall dort, wo es Friedensbündnisse für realisierbar halten, den Ausspruch der Regierung und der PolitikerInnen, jetzt laufe die Abrüstung in guten Bahnen, mit den lokalen und regionalen Aufrüstungsvorhaben und Militarisierungstendenzen zu konfrontieren und die vorhandene Kritik und Betroffenheit von Menschen in attraktive Aktionsformen zu kleiden. Dazu ist Ostern 1990 gewiß ein geeigneter Termin.

Gert Samuel ist Mitarbeiter im Komitee für Frieden, Abrüstung und Zusammenarbeit.

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Mitarbeiter des Komitees für Fruieden, Abrüstung und Zusammenarbeit