Das Konzept des Szenarios und der aktuelle Stand der Entwicklung

Wir leben in Zeiten großer Transformation

von Ralf Becker
Schwerpunkt
Schwerpunkt

Alte Konzepte und Lebenswirklichkeiten ringen mit neuen Paradigmen, Hoffnungen und Notwendigkeiten. Zunehmende weltweite Krisen betreffen in immer kürzeren Abständen auch unsere Gesellschaft.

Wie üblich tendiert unsere Gesellschaft in der Krise zunächst zum Rückgriff auf vertraute Handlungsmuster. Dazu zählen aktuell immer noch auch militärische Aufrüstung und militärische Auslandseinsätze.

Gleichzeitig haben wir in den letzten Jahrzehnten im ökologischen, sozialen und wirtschaftlichen Bereich zahlreiche Innovationen entwickelt, die immer deutlicher zu einem gesellschaftlichen Paradigmenwechsel beitragen. Die neue SPD-Spitze lädt zum Innehalten beim „wahnwitzigen“ Rüstungswettlauf ein.

Die Entwicklung zu regenerativer Energie inklusive des Ausstiegs aus der Atom- und Kohleenergie ist ermöglicht worden durch Visionär*innen, die vor vierzig Jahren solch einen Ausstieg vorausgedacht haben. Dank ihrer Vision haben Akteur*innen dann konkrete Projekte zur Umsetzung dieser Vision begonnen – auch wenn sie lange Zeit als naiv bezeichnet wurden.

Im Bereich ziviler Krisenprävention und Konfliktbearbeitung haben wir seit den 1990er Jahren ebenfalls zahlreiche Alternativen entwickelt, die inzwischen gesellschaftlich anerkannt sind: Im Herbst 2019 haben wir das 20-jährige Bestehen des Zivilen Friedensdienstes gefeiert. Gewaltfreie Kommunikation boomt und lässt immer mehr Menschen in eine friedenslogische Haltung hineinwachsen. Mediation ist sowohl innerhalb unserer Gesellschaft als auch international weit verbreitet - unser gesamtes diplomatisches Personal nimmt an entsprechenden Ausbildungen teil, die Deutschland gemeinsam mit der Schweiz auch anderen europäischen Staaten anbietet.

Im Auswärtigen Amt gibt es eine starke Abteilung „Krisenprävention, Stabilisierung, Konfliktnachsorge und Humanitäre Hilfe“, die Bundesregierung hat dazu ressortübergreifende Leitlinien entwickelt, die auch die Bedeutung der Zivilgesellschaft betonen. Die Budgets des Auswärtigen Amtes und des BMZ wurden auf zusammen 16,5 Mrd. € deutlich ausgeweitet, ebenso die Beiträge Deutschlands für den internationalen Klimaschutz. Deutschland ist an 40 internationalen Mediationsprojekten beteiligt.

Den Glauben an die Wirksamkeit von Gewalt untergraben
All dies sind Zeichen, die das Szenario „Sicherheit neu denken – von der militärischen zur zivilen Sicherheitspolitik“ aufgreift und weiterentwickelt. Das Szenario ist in seiner radikalen Infragestellung militärischer Sicherheitspolitik ein Instrument, um in der gesellschaftspolitischen Debatte aus dem Reaktionsmodus in das Agenda Setting zu kommen.

Wenn wir den Glauben an die Wirksamkeit von Militärausgaben mittels bereits existierender wissenschaftlicher Studien untergraben und gleichzeitig eine real mögliche kooperative zivile Sicherheitspolitik aktiv in den Raum stellen, kommt die Lobby der Bundeswehr unter Rechtfertigungsdruck.

Wenn wir als Friedensbewegung gemeinsam die militärische Sicherheitslogik insgesamt in Frage stellen und zugleich die friedenslogischen Projekte weiter konsequent ausbauen, ist ein gesellschaftspolitischer Paradigmenwechsel bis zum Jahr 2030 möglich.

Dazu bietet die Initiative „Sicherheit neu denken“ eine Plattform, die seit Juni 2019 von 16 Bundessprecher*innen, Vorsitzenden, Geschäftsführer*innen und anderen Vertreter*innen von pax christi, der DFG-VK, ippnw Deutschland und Europa, Church and Peace, ORL, BSV, der badischen, berlin-brandenburgischen, rheinischen und württembergischen Landeskirche sowie der Martin-Niemöller-Stiftung gemeinsam auf- und ausgebaut wird. Elf regionale Koordinator*innen verstärken dieses bundesweite Team in der Fläche.

Die Säulen ziviler Sicherheitspolitik
Mit der Säule 1 „Gerechte Außenbeziehungen“, betont das Konzept die Notwendigkeit einer nachhaltigen Transformation unserer Lebens- und Wirtschaftskultur als Voraussetzung und Ausdruck kooperativer Sicherheitspolitik. Real ist inzwischen ein Kohleausstieg spätestens 2038 gesellschaftlicher Konsens. Und der Deutsche Bundestag hat im März 2020 ein erstes Lieferkettengesetz verabschiedet - weitere sind in Aussicht.

Säule 2, „Nachhaltige Entwicklung der EU-Anrainerstaaten“, greift bestehende Ansätze konstruktiver Regierungspolitik zur Unterstützung der Nachhaltigkeitsziele der Afrikanischen Union auf. Als entscheidend für eine Zivile Sicherheitspolitik sieht das Szenario die Überwindung des wieder gewachsenen Feindbildes Russland. Die beschriebene Wirtschafts- und Sicherheitspartnerschaft mit Russland/der EAWU unterstützt seit 2019 öffentlichkeitswirksam u.a. der französische Präsident Macron.

Um die Mehrheit der deutschen Bevölkerung und ihrer Vertreter*innen im Bundestag zum Wagnis eines echten Paradigmenwechsels zu bewegen, schlägt Säule 3 die weitere Teilhabe Deutschlands an der bestehenden internationalen Sicherheitsarchitektur mit EU, OSZE, NATO und UNO vor. Allerdings mit der Perspektive einer rein zivilen Teilhabe - und entsprechenden Transformation der NATO.

Säule 4, „Resiliente Demokratie“, betont den notwendigen Ausbau der Friedenserziehung und friedenslogischen Ausbildung im In- und Ausland, der sich auf eine gewachsene gesellschaftliche Friedenskultur stützen kann. Dazu gehört auch die flächendeckende Schulung im sozialen Widerstand.
Das Konzept Sozialer Verteidigung ist zum Konzept Resiliente Demokratie weiterentwickelt, um auf die reale Gefahr für unsere freiheitliche Gesellschaftsordnung auch aus unserer eigenen Gesellschaft heraus hinzuweisen.

Die Überwindung des Mythos der Wirksamkeit von Gewalt thematisiert schließlich Säule 5 als weitere Voraussetzung einer kompletten „Konversion der Bundeswehr und der Rüstungsindustrie“. Hier stützt die Initiative sich wesentlich auf die weltweiten Studien von Erica Chenoweth und Maria Stephan zur Wirksamkeit zivilen Widerstands im Vergleich zu gewaltsamen Mitteln.

Die Zusammenfassung internationaler Studien zur sehr begrenzten Wirksamkeit militärischer Auslandseinsätze zur Erreichung politischer Ziele im Lesebuch zur EKD-Synode 2019 ermöglicht der Initiative inzwischen eine wirksame Untergrabung des Mythos der Wirksamkeit von Gewalt. Ebenso die Veröffentlichung US-interner Berichte zur Wirkungs- und Ahnungslosigkeit des US-Militäreinsatzes in Afghanistan vom Dezember 2019.

Begeisterung und Bedenken
Mit bisher 140 Veranstaltungen erfährt das Szenario bundesweit große Resonanz. Neben vereinzelter Kritik erleben wir bei den Friedensinitiativen vor Ort flächendeckend Dankbarkeit und Zustimmung, ja Begeisterung zum positiven Ansatz des Szenarios und unserer Initiative. Das Szenario beantwortet offenbar ein verbreitetes Bedürfnis nach Neuorientierung.

Der EKD-Auslandsbischof a.D. Martin Schindehütte bezeichnet das Szenario als „den fundiertesten Beitrag“, den er zum Internationalen Pilgerweg der Gerechtigkeit und des Friedens der christlichen Kirchen kenne. Auch der Ehrenpräsident des Club of Rome, Ernst Ulrich von Weizsäcker, unterstützt unsere Initiative begeistert. Die niederländische Friedensbewegung verfasst ein eigenes ähnliches Szenario.

Sowohl linke Friedensaktivist*innen als auch konservative Synodenvertreter*innen und CDU-Abgeordnete lassen sich täglich neu von unseren Antworten auf kritische Fragen überzeugen.

So heißt es, wir könnten das Militär nur gemeinsam mit dem Kapitalismus überwinden. Ja - und wir erleben mit Nullzinsen und Billionen-Geldspritzen der Zentralbanken tatsächlich bereits das Ende der Knappheit des Geldes. Dieser Weg zur Postwachstumsökonomie ist der herausforderndste Teil auf dem Weg zu Ziviler Sicherheitspolitik. Erst wenn wir unseren Lebens- und Wirtschaftsstil tatsächlich ändern, können und werden wir auf die Bundeswehr verzichten.

Eine andere Kritik lautet, Sicherheit neu denken fokussiere zu stark auf staatliches Handeln. Ein Militärdekan wiederum prophezeit in seinem Buch den Weg in die Anarchie, sollte es zur Zivilen Sicherheitspolitik kommen, da das Szenario in Säule 4 die Relevanz einer widerstandsfähigen Zivilgesellschaft sowie den Abbau staatlicher Gewalt beschreibt.

Schließlich ist das Szenario um Aspekte der Abrüstungsverträge und der Cyber-Sicherheit zu ergänzen – wie auch um die Beschreibung regionaler Wirtschaftskreisläufe als notwendige Ergänzung zu einem einheitlichen Wirtschaftsraum von Lissabon bis Wladiwostok.

2021 wird die Initiative einen Sammelband mit Kritik, Ergänzungen und Weiterführungen des Szenarios erstellen. Sowohl eine Fachgruppe zur Konzeption Internationaler Polizei als auch eine Fachgruppe Bildung haben ihre Arbeit aufgenommen. Nach drei Studientagen 2019 wird sich am 21.11.2020 ein Studientag unter anderem mit der Partnerschaftsentwicklung mit Russland beschäftigen.

Gemeinsam wirksam werden
Neben der von Fridays for Future, den bestehenden friedenspolitischen Kampagnen und anderen vorangetriebenen notwendigen gesellschaftlichen Transformation sehen wir die Initiative „Sicherheit neu denken“ als einen von vielen Bausteinen zukünftiger Entwicklung. Wir gehen davon aus, dass wie beim Atom- und Kohleausstieg größere gesellschaftliche Krisenereignisse zu notwendigen politischen Weichenstellungen für eine nachhaltige rein zivile Sicherheitspolitik in Deutschland beitragen werden.

Dass wir inzwischen eingeladen werden, unser Konzept der Geschäftsführung der Münchner Sicherheitskonferenz sowie bundesweit auf Tagungen regelmäßig hochrangigen Vertreter*innen der Bundeswehr und der Sicherheits-Forschungsinstitute vorzustellen und mit diesen diskutieren und dass die FAZ unsere Initiative als einen der beiden Diskussionspole innerhalb der EKD vor der Friedenssynode 2019 ausgemacht hat, zeigt die politische Wirksamkeit unseres Konzepts.

Wir laden dazu ein, die bereits spürbare Kraft unserer Initiative gemeinsam weiter zu verstärken und aktiv in die Zivilgesellschaft und die Politik zu tragen. Im Verbund können wir einen grundlegenden Paradigmenwechsel hin zu einer kooperativen Sicherheitspolitik wirksam befördern.

Ausgabe

Rubrik

Schwerpunkt