6x jährlich erscheint unsere Zeitschrift "FriedensForum" und informiert über Neuigkeiten aus der Friedensbewegung. Gerne schicken wir dir ein kostenfreies Probeheft zu!
Ein Beispiel praktischer Friedenserziehung in der Schule
"Wir sind Kinder eines Planeten!"
von
Der "Wille zur friedlichen Konfliktregelung, die Bereitschaft zur internationalen Solidarität und die Einsicht, daß es auf dieser Welt keine isolierten Wohlstandsinseln geben kann..." (Willy Brandt), wie sind diese Einsichten, Fähigkeiten und Bereitschaften bei SchülerInnen zu wecken? Wie ist Friedenserziehung in diesem Sinne realisierbar?
Konstruktive Antworten auf diese Fragen gibt eine Projektwoche, die im Mai 1992 an der Gesamtschule Havixbeck stattfand. Havixbeck ist eine kleine 10.000 Einwohner-Gemeinde im schwarzen Münsterland. Dort wurde vor drei Jahren auch mit den Stimmen der CDU eine 5-zügige Gesamtschule eingerichtet. Mittlerweile werden dort Schülerinnen und Schüler in den Jahrgängen 5,6 und 7 unterrichtet.
"Wir sind Kinder eines Planeten!" So lautete das Motto dieser Projektwoche. In einem schulinternen Diskussionsprozess hatten sich Lehrer und Schüler darauf verständigt. Die Idee dazu lieferte das Fach Gesellschaftslehre, in dem das Thema Unterentwicklung immer wieder eine Rolle spielt. In der Projektwoche nun hatten die Schüler zum ersten Mal die Gelegenheit, sich eine Woche lang in selbstgewählten Gruppen projektorientiert und klassenübergreifend intensiv mit dem Leben, der Arbeit und der Kultur der Menschen in anderen Ländern zu beschäftigen. Die Situation der Kinder in der Welt - und besonders der Kinder in den Entwicklungsländern - stand dabei im Vordergrund. Das Ziel der Projektaktivitäten formulierte der Schulleiter der Gesamtschule Hannes Niehaus gegenüber den örtlichen Zeitungen so: "Es soll der Versuch unternommen werden, bei den Schülern das Gefühl der Solidarität mit Menschen auch aus uns fremden Ländern zu stärken und bewusst zu machen, daß wir in der Tat alle Kinder eines Planeten sind." Besonders erfreut zeigten sich Lehrer und Schüler über die große Resonanz, die die Projektwoche auch bei außerschulischen Organisationen fand. Mit einem Brief hatte die Vorbereitungsgruppe die vielen Gruppen aus Havixbeck und der näheren Umgebung, die sich in der Friedens- und Dritte-Welt-Bewegung engagieren, eingeladen, sich in die Projektwoche einzubringen und ihre Kompetenz zur Verfügung zu stellen. Über 20 Vereine, Gruppen, aber auch Einzelpersonen und Eltern der Schüler folgten der Einladung. Sie boten Vorträge an, halfen in den Projektgruppen mit, bereiteten das internationale Fest zum Ende der Projektwoche mit vor oder boten eigenständig Gruppen an. Nicht zuletzt aus diesem Grund war es möglich, den Schülern ein breites Spektrum an Projektthemen zur Auswahl zu stellen. Der Überblick über die einzelnen Projektgruppen zeigt die Vielfalt: Kinder im Regenwald/ Straßenkinder in Brasilien/ Favelas in Südamerika/ Afrikanische und Lateinamerikanisch Musik/ Was essen Kinder in Asien?/ Afrikanisches Spielzeug/ Nordafrikanische Kleidung/ Die Ureinwohner Australiens/ Die Kinder von Tschernobyl/ Kinder im Krieg/ Ausländerfeindlichkeit gegen Kinder/ Gewalt gegen Kinder usw..
An zwei Beispielen soll deutlich gemacht werden, wie die einzelnen Projektgruppen arbeiteten:
In der Gruppe "Favelas in Südamerika" informierten sich die Schüler zunächst mit Filmen und Dias über die Situation in den Slums der südamerikanischen Großstädte. Der Franziskaner Pater Beda, der seit 30 Jahren in Brasilien als Missionar tätig ist, führte ihnen dann am zweiten Projekttag in einem eindrucksvollen Gespräch das oft erbärmliche Leben der Straßenkinder in Südamerika vor Augen. Die Projektgruppe beschloß, für die nächsten zwei Tage einmal in die Situation dieser Kinder einzutauchen. Einige Schüler besorgten sich alte Kisten und begannen in den Straßen von Havixbeck für einen lächerlichen Betrag Schuhputzdienste anzupreisen. Einige andere verkauften Tageszeitungen. Eine dritte Gruppe stöberte mit Karren und Kartons die Baustellen und Müllhalden der Umgebung auf. In liebevoller Kleinarbeit bauten sie aus Schutt und Abfällen eine Hütte nach, wie sie vielen Familien in Brasilien als Wohnung dient. Eine Notiz am Rande: In der Nacht vor dem Abschlussfest wurde diese Hütte von Unbekannten niedergebrannt - auch in den Ländern Südamerikas bittere Wirklichkeit.
Die Projektgruppe "Was essen Kinder in Asien?" beschäftigte sich am ersten Tag mit einem Spiel: "Genug Reis für alle?". Die Kinder erfuhren, daß die Welt eigentlich genug Nahrungsmittel für alle Menschen produzieren könnte. An den kommenden Tagen stiegen die Schüler in die alltägliche Ernährungspraxis ein. Ein indisches Picknick wurde vorbereitet. Dabei lernten die Kinder auch die "Rationen" kennen, mit denen viele Kinder dieser Welt täglich auskommen müssen. Am letzten Tag dann wurde das "Eine-Welt-Café" für das Abschlussfest vorbereitet.
Dieses Abschlussfest entwickelte sich zum Höhepunkt der Projektwoche. Da stellten nicht nur die einzelnen Projektgruppen ihre Arbeitsergebnisse vor. Auch die außerschulischen Organisationen informierten über ihre Arbeit. Ein afrikanischer Gottesdienst, von einer Projektgruppe zusammen mit afrikanischen Priestern vorbereitet, eröffnete das Fest. Neben der Darstellung der Arbeitsergebnisse standen auch an diesem Tag Aktionen im Vordergrund. Da wurde afrikanisch getanzt, gesungen und gespielt. Afrikanische Spezialitäten fanden reißenden Absatz. Die Schuhputzer waren unterwegs. Eine Gruppe sammelte DM 1500,-- um eine Ferienfreizeit für Tschernobyl-Kinder zu unterstützen.
Zwei wichtige Aspekte entwicklungspolitischer Arbeit in der Schule wurden in dieser Projektwoche deutlich:
1. Emotionale Betroffenheit der Schüler bezüglich der Probleme in der sog. Dritten Welt ist sehr wichtig. Sie reicht jedoch nicht aus.
Entwicklungspolitische Bildungsarbeit, die auf einer emotionalen Stufe stehenbleibt, ist wie ein Strohfeuer, das sehr schnell wieder erlischt. Notwendig ist es, auch Ursachen zu analysieren und Perspektiven zu entwickeln und vor allem den Bezug zur eigenen Erfahrungswelt herzustellen.
2. Von großer Bedeutung ist die pragmatische Dimension von Erfahrung. Durch ein Aufzeigen von Handlungsmöglichkeiten können die Schüler selbst aktiv werden. In der politischen Aktion wird politisches Lernen realisiert, wird Bewußtsein geschaffen und gefördert. Die politische Apathie kann aufgebrochen werden, Begeisterung und Engagement für Entwicklungspolitik entwickelt sich.
"Kinder in der Welt viel besser verstehen" - So überschrieb die örtliche Zeitung ihren Bericht über das Abschlussfest der Projektwoche an der Gesamtschule Havixbeck. Und in der Tat dürfte diese Projektwoche - wie intendiert - bei den Schülern das Gefühl der Solidarität mit den Menschen in den Entwicklungsländern gestärkt haben. Die Schüler, die einmal als Schuputzer für ein geringes Entgeld durch Havixbeck zogen, die Schüler, die einmal in Kleinstarbeit eine erbärmliche Favela-Hütte bauten (und sie dann niedergebrannt sahen), die Schüler, die für strahlenverseuchte Kinder betteln gingen, sind der Wahrheit ein Stück nähergekommen - nämlich, daß wir alle Kinder eines Planeten sind, Gleichheit und Gerechtigkeit jedoch nur zu erreichen sind, wenn wir uns dafür engagiert einsetzen.
Friedenserziehung hat hier stattgefunden.