Besprechung eines Berichts der International Crisis Group

Zwischen Dayton und Europa

von Christine Schweitzer

„Bosniens unvollendeter Übergang- Zwischen Dayton und Europa“ ist der Titel eines im März erschienenen Papiers der International Crisis Group (ICG). Die ICG analysiert die Perspektiven Bosniens für eine Integration in die Europäische Union vierzehn Jahre nach dem Daytoner Friedensabkommen, das Ende 1995 den Krieg in Bosnien-Herzegowina beendete und das Land unter internationale Verwaltung stellte. Seitdem besteht Bosnien-Herzegowina aus zwei Teilen: einer Föderation der bosniakischen-muslimischen und kroatischen Gebiete und der Serbischen Republik (Srpska Republika-RS). Diese Einheiten, die jeweils ihre eigenen Regierungen haben, werden im Allgemeinen als besser funktionierend als die Zentralregierung angesehen, an der alle drei staatstragenden Völker anteilig beteiligt sind, obwohl zeitweilig es auch heftige Auseinandersetzungen innerhalb der Föderation ausgelöst von extremistischen kroatischen Parteien gab. Das Papier, das Optionen und Handlungsmöglichkeiten der internationalen Verwaltung aufzeigt, illustriert sehr eindrucksvoll, wie von quasi offiziell-staatlicher Seite die Rolle und Funktionen internationaler Protektorate gesehen werden und in welchem Maße sie einen Eingriff in die Selbstbestimmung von Ländern und Gemeinschaften darstellen. Anlass für den Bericht war ein Treffen des Peace Implementation Councils, auf dem darüber beraten werden sollte, ob das Amt des OHR Mitte 2009 auslaufen sollte. (Dieses Treffen hat inzwischen stattgefunden und es wurde, wie die ICG in ihrem Bericht auch empfahl, beschlossen, die Frage der Beendigung des Amtes des OHR offen zu lassen und im Sommer erneut zu überprüfen.)

Die internationale Verwaltung, geleitet von dem Büro des Hohen Repräsentanten (Office of the High Representative – OHR) und beaufsichtigt von dem sog. Peace Implementation Council, in dem Vertreter von 55 Staaten und internationalen Organisationen sitzen, hat weitgehende Rechte, in die Politik Bosniens einzugreifen. So durfte der OHR seit 1997 z. B. bosnische PolitikerInnen und Beamte entlassen, in die Medienberichterstattung eingreifen und Gesetze erlassen, die er für notwendig hält, sofern die bosnische Legislative dies nicht tut. Besonders bekannt und gern zitiert ist die Einführung landeseinheitlicher Nummernschilder für Autos, aus denen nicht mehr ersichtbar ist, aus welchem Landesteil jemand kommt und die Unterbindung von nationalistischen Hetzsendungen bei den Radio- und Fernsehstationen. (Diese Eingriffsmöglichkeiten werden im Englischen gerne als die „Bonn powers“ bezeichnet, nach dem Tagungsort auf dem Petersberg bei Bonn des PIC, auf dem diese Erweiterung der Kompetenzen des OHR beschlossen wurden.) In den letzten Jahren wurde versucht, die Rolle des OHR zurückzufahren und der bosnischen Zentralregierung mehr Macht zu überlassen.

Die ICG schreibt in ihrem Bericht, dass es jetzt die falsche Zeit sei, den Übergang von einem internationalen Protektorat zur vollen Selbständigkeit zu hastig zu vollziehen. Bosnien-Herzegowina würde niemals sicher sein und der EU beitreten, bis es „für die Folgen seiner eigenen Entscheidungen Verantwortung übernehme“: Die Spannungen in dem Land seien derzeit hoch und die Stabilität verschlechtere sich, während Bosniaken und Serben ein Nullsummenspiel betrieben, um den Daytoner Vertrag auszuhebeln.

2008 hatte der Peace Implementation Council fünf Ziele und zwei Bedingungen formuliert, die erfüllt sein müssten, bevor das Protektorat beendet werde. Dabei ging es um Regelung von Eigentums- und Steuerfragen, Verbesserungen in der Gesetzgebung und Lösung des Problems der ethnischen Enklave Brcko, sowie als Bedingungen volle Erfüllung und Gehorsam gegenüber dem Daytoner Friedensabkommen und den Forderungen des Peace Implementation Council.

Zwei dieser Ziele, nämlich die Lösung des Problems der umstrittenen ethnischen Enklave Brcko, und Lösung der Frage des Staatseigentums und die Bedingung der vollen Umsetzung und Einhaltung des Daytoner Vertrages sind bislang nicht erfolgt.

Der OHR, so die ICG, sei nicht länger der Motor, der Bosnien vorwärts treibe, und es sei zu spät, um ihm diese Rolle wieder zu geben. Als der Peace Implementation Council 2006 beschloss, seine Rolle auslaufen zu lassen und in Zukunft auf die EU zu bauen, da glaubte man, dass dies ein Antrieb für Bosnien sein könne, sich schneller für Mitgliedschaft in der EU zu qualifizieren. Doch das Gegenteil trat ein: Die bosnischen Politiker blockieren sich gegenseitig und einige Reformen sind dabei, rückgängig gemacht zu werden. In den Wahlen 2006 gewannen auf bosniakischer und serbischer Seite mit Silajdžić und Dodik eher die radikalen Kräfte, die nationalistische Agendas verfolgen. Seitdem befände sich das Land in „völliger politischer Stagnation“. Es gebe keine gemeinsame Zielvorgabe für die Zukunft des Landes, und selbst gut gemeinte Vorschläge würden als List interpretiert. Einmal erreichte Übereinkommen brächen angesichts nichtiger Fragen zusammen und selbst rein technische Fragen würden durch die nationale Brille gesehen.

Der politische Hickhack verstellt leicht die Sicht auf die wirklichen Fortschritte, die das Land gemacht hat. So gibt es inzwischen ein einheitliches Militär, nicht mehr drei ethnische Armeen und die – ebenfalls vereinigte – Polizei, die „einst Rückkehrer terrorisierte und Kriegsverbrecher schützte, wird jetzt von den internationalen Strafverfolgern gelobt und ist eine der Institutionen, denen im ganzen Land am meisten Vertrauen entgegengebracht wird.“ Die Gerichte funktionieren ohne nationalistische Auseinandersetzungen. Steuereintreibung, Grenzschutz und Suche nach Vermissten werden als gemeinsame Aufgaben wahrgenommen. Flüchtlinge aus Srebrenica durften bei den Gemeindewahlen in Srebrenica wählen, auch falls sie dort nicht mehr lebten, und auch die Festnahme von Karadjic führte nicht zu ethnischen Unruhen.

Dennoch könnten verschiedene von einander unabhängige Ereignisse Bosnien leicht 2009 in eine schwere Krise stürzen. Im Februar wurden Dodik und weitere führende Persönlichkeiten der Republika Sprska (RS) wegen Betrugs und Unterschlagung von den internationalen Anklägern, die im Lande tätig sind (und deren Amt im Dezember 2009 ausläuft) angeklagt. Die Reaktion war, das Dodik damit drohte, dass die RS ihre Repräsentanten aus allen Institutionen des Staates zurückziehen werde. Dabei griff er auch die – seit 1995 eigentlich ständig präsente – Forderung nach einer Loslösung der RS von Bosnien wieder auf.

Ein weiterer Gefahrenherd hängt mit der globalen Wirtschaftskrise zusammen, die Bosnien-Herzegowinas sowie sehr schwache Wirtschaft hart getroffen hat.

Vier Argumente sprechen in den Augen der ICG gegen ein schnelles Ende des Mandats des OHR, wobei sie sich hier mit einem Teil der bosnischen Politiker einig sehen, während andere ein rasches Ende des internationalen Protektorates wünschen:

1. Die internationale Glaubwürdigkeit habe großen Schaden erlitten, als die EU 2007 ein Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen mit Bosnien-Herzegowina unterzeichnete – ein wichtiger Schritt in dem Beitrittsprozess – obwohl eine spezifische Polizeigesetzgebung, die man zuvor zur Bedingung gemacht hatte, nicht erfolgt war und drei der Ziele und Bedingungen (s. oben) noch nicht erfüllt waren.

2. Es gibt ein paar positive politische Entwicklungen der Kooperation der drei ethnischen Gemeinschaften, die durch einen vorzeitigen Abzug des OHR gefährdet werden könnten. Diese Kooperationsbemühungen sind dadurch gefährdet, dass die Kompromisswilligen in diesen Gemeinschaften Angriffen von Hardlinern ausgesetzt sind.

3. Der OHR hat immer noch die Möglichkeit, Sanktionen zu verhängen, darunter auch die Entlassung von Beamten und Politikern im Falle von Verletzungen des Daytoner Vertrages, und diese Sanktionen werden gefürchtet. Auch Möglichkeiten wie das Einfrieren von Gehältern, ein Instrument, das er kürzlich gegen Mitglieder des Gemeinderates von Brcko einsetzte, um diese zum Handeln zu bewegen, zeigen Wirkung.

4. könne die EU ein Weiterfunktionieren des OHR zum Beispiel bis Ende 2009 dafür nutzen, sich selbst besser vorzubereiten.

Die EU-Erweiterung ist für die EU das traditionelle Instrument gewesen, um Frieden und Sicherheit an den östlichen Rändern einschließlich des westlichen Balkans zu schaffen. Aber Bosnien sei anders als die anderen Beitrittskandidaten. Der Krieg wirke immer noch politisch, sozial und ökonomisch nach. Lokale Entscheidungsmacher legen unterschiedlichen Wert auf eine Integration in Europa und die Schritte, die hierzu unternommen werden müssen. Sie verwenden diese Unterschiede gegeneinander und blockieren den Fortschritt zu einem Beitritt. Die Hardliner auf allen Seiten wissen, dass ein Sich-Zubewegen auf Europa heißt, ihre Idealvorstellungen aufzugeben: Die Serben wissen, dass es für sie schwieriger sein wird, sich von Bosnien zu trennen; die Bosniaken fürchten, dass eine Einschränkung der Autonomie der Serbischen Republik unmöglich sein wird. Das gibt beiden einen Grund, sich zurückzuhalten, und beide hoffen heimlich, die EU und die USA auf ihre Seite ziehen zu können.

Mit dem Auslaufen der internationalen Verwaltung würde auch die militärische internationale Präsenz zumindest in der gegenwärtigen Form einer Peacekeeping-Mission zu Ende kommen. Zur Erinnerung: Nach Dayton wurden zunächst 60.000 internationale Soldaten im Rahmen der NATO-geführten IFOR bzw. SFOR-Mission in Bosnien und Herzegowina stationiert, um die miltärische Umsetzung des Dayton-Abkommens sicher zu stellen. Im Laufe der Jahre wurde die Truppenstärke auf 7.000 Mann reduziert. Auch nach Übernahme des NATO-Mandats durch die EU-geführte Mission ALTHEA im Dezember 2004 verringerte sich die Zahl der Soldaten weiter; derzeit sind nur noch ca. 2.500 SoldatInnen im Land stationiert. Die ICG empfiehlt, dass ‚ALTHEA’ fortgeführt werden solle, aber nur zum Zwecke der Ausbildung bosnischer Truppen. Die europäische Polizeimission EUPM, die ebenfalls im Lande tätig ist, sollte hingegen in jedem Falle beendet werden.

International Crisis Group, BOSNIA’S INCOMPLETE TRANSITION:BETWEEN DAYTON AND EUROPE. Europe Report N°198 – 9 March 2009. Online verfügbar bei http://www.crisisgroup.org/. Die Zusammenfassung wurde geschrieben von Christine Schweitzer.

Die International Crisis Group (ICG), gegründet 1995 von hochrangigen Persönlichkeiten aus der Politik, ist eine Organisation der Politikberatung, die Analysen über Konflikte erstellt. Ihre Empfehlungen richten sich stets sowohl an die lokal handelnden Akteure wie an die internationale Gemeinschaft als ganzer und gelten als einflussreich. Ihre Analysen (rund 90 pro Jahr) können aus dem Internet herunter geladen werden; ein kostenlos abonnierbarer Informationsdienst unterrichtet über die jeweils jüngsten Publikationen. Während die ICG sicherlich als regierungsnah angesehen werden muss und bei ihren Lösungsvorschlägen auch schnell militärische Optionen ins Spiel bringt, gehören ihre Länderanalysen fast immer zu dem Besten, was man zur aktuellen Situation bestimmter Konflikte und Länder finden kann.

Ausgabe

Rubrik

Schwerpunkt
Christine Schweitzer ist Co-Geschäftsführerin beim Bund für Soziale Verteidigung und Redakteurin des Friedensforums.