Kein Asyl:

Die Kapitulation des Bundesverfassungsgerichts vor der Bundesregierung

von Martin Singe
Hintergrund
Hintergrund

Am 14. Mai 1996 hat das BVerfG die lange erwartete Grundsatzent­scheidung in Sachen Asylrecht verkündet. 5 Verfassungsklagen wurden exemplarisch geprüft und in 3 Urteilen behandelt. Das Ergebnis ist grund- und menschenrechtlich gesehen eine Katastrophe. Im Wesentlichen segnet das höchste Gericht die Asylrechtsänderung von 1993 ab. Bis auf kleine Korrekturen beim Flughafenverfahren wird sich also an der derzeitigen Asyl-Verweigerungspraxis der Bundesrepublik vorerst nichts mehr ändern.

In den drei Urteilen setzt sich das BVerfG mit den einzelnen Artikeln des neu geschaffenen Art. 16a Abs. 1-5 aus­einander. Zur Erinnerung: Während Abs. 1 noch den Wortlaut des alten Asylrechts beinhaltet, bemühen sich die Abs. 2-5 den Gehalt des Grundrechts zu zerstören, indem ganze Gruppen Betrof­fener vom Grundrecht ausgeschlossen werden oder Asyl Suchenden der Rechtsweg versperrt wird. Nun erklärt das BVerfG, daß alle diese Artikel ver­fassungskonform seien.

Das erste Urteil geht auf die Drittstaa­tenregelung (Art. 16a Abs. 2) ein, der gemäß alle über "sichere" Drittstaaten Eingereiste vom Asylrecht ausgenom­men werden. Die Klagenden, eine Irake­rin und ein Iraner, hatten geltend ge­macht, daß durch diese Regelung gegen die Rechtswegegarantie (Art. 19 Abs. 4 GG) und die Unabänderlichkeitsgarantie der Grundrechte (Art. 1 und 20 GG) verstoßen werde. Die über Österreich eingereisten Asyl Suchenden machten außerdem deutlich, daß Österreich z.B. nach Ungarn abschiebe, dort aber keine Asylregelung für Nichteuropäer bestehe. So könne es zu Kettenabschiebungen bis in das verfolgende Heimatland kommen, was gegen das Refoulement-Verbot der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) verstoße. Damit sei die Drittstaatenre­gelung "Teil eines europäischen Sy­stems organisierter Verantwortungslo­sigkeit" - so die Beschwerdeführer.

Das BVerfG allerdings gibt der Bundes­regierung im Verfahren in vollem Um­fang recht. So heißt es in einem Leitsatz des Urteils: "Das Grundgesetz gibt der Befugnis und Verantwortung des ver­fassungsändernden Gesetzgebers auch hinsichtlich der Gestaltung und Verän­derung von Grundrechten weiten Raum. Er ist, soweit nicht die Grenzen des Art. 79 Abs. 3 GG berührt sind, rechtlich frei und gibt dem Bundesverfassungsgericht den Maßstab vor." Weiterhin heißt es: "Ist mithin der verfassungsändernde Ge­setzgeber nicht gehindert, das Asyl­grundrecht als solches aufzuheben, er­gibt sich ohne weiteres, daß die Rege­lung des Art. 16a GG ... sich innerhalb der Grenzen einer zulässigen Verfas­sungsänderung hält." Diese beiden Sätze berühren den Kern-Skandal des ganzen Urteils. Indem dem Gesetzgeber völlige Freiheit zur Zerstörung von Grundrech­ten eingeräumt wird, werden der Boden des Grundgesetzes und der ganze Sinn der Grundrechte zerstört. In Art. 79 Abs. 3 GG werden zwar nur die Art. 1 und 20 GG als unabänderliche Artikel genannt. Es heißt jedoch genau in Art. 79 Abs. 3 GG: "Eine Änderung dieses Grundge­setzes, durch welche ... die in den Arti­keln 1 und 20 niedergelegten Grund­sätze berührt werden (Hv.M.S.), ist un­zulässig." Die Schranke für eine Grund­rechtsänderung liegt also nicht nur beim Wortlaut von Art. 1 und 20, sondern bei den dort "niedergelegten Grundsätzen". Art. 1 und 20 enthalten zentrale, auf die weiteren Grundrechte bezogene Aussa­gen, die also nicht einfach übergangen werden dürfen. Zum einen sind alle Grundrechte Ausfluß der von Art. 1 Abs. 1 GG geschützten Menschen­würde, das Asylrecht in besonderem Maße. Das BVerfG leugnet dies einfach. Des Weiteren lautet Art. 1 Abs. 3 GG: "Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar gelten­des Recht." Darüber hinaus ist in Art. 19 GG bzgl. der Einschränkung von Grund­rechten eine Wesensgehaltsgarantie de­finiert: "In keinem Fall darf ein Grund­recht in seinem Wesensgehalt angetastet werden." Wenn das BVerfG nun be­hauptet, der Gesetzgeber habe großen Spielraum bei der Umgestaltung von Grundrechten, werden damit die Verfas­sungsgrundsätze auf den Kopf gestellt. Was bedeutet denn noch die Bindung des Gesetzgebers an die Grundrechte, wenn diese beliebig allesamt ausgehe­belt werden könnten!? Damit ist zugleich die zentrale Kritik an diesem Urteil gesagt. Das BVerfG hat es unter­lassen, eine wirkliche Prüfung des neuen Asylrechts vorzunehmen. Statt das neue Recht am ehemaligen Grund­recht zu messen und zu prüfen, ob eine Wesensgehalts-Änderung vorgenommen worden ist, wird ständig nur immanent innerhalb der neuen Absätze 1-5 des Art. 16a argumentiert. Wenn man na­türlich voraussetzt, daß der Gesetzgeber Grundrechte abschaffen kann, dann verwundert auch der Rest des Urteils nicht mehr. Zu diesem Grund-Skandal gibt es leider auch keine abweichende Meinung der RichterInnen, die zu ande­ren Teilen des Urteils sehr wohl Beden­ken vortragen.

Das BVerfG gesteht dem Gesetzgeber bei der Bestimmung sicherer Drittstaa­ten einen "Einschätzungs- und Ent­scheidungsspielraum" zu, ebenso habe er einen "Spielraum bei der Auswahl seiner Erkenntnismittel". Die Entschei­dung des Gesetzgebers müsse lediglich "vertretbar" sein! Solche "Spielräume" haben eigentlich in einem Rechtsstaat nichts zu suchen. Mit der Einführung des Kriteriums der "Vertretbarkeit" der Entscheidung werden ohnehin von un­bestimmten Rechtsbegriffen definierte Ermächtigungen des Gesetzgebers durch noch unbestimmtere Rechtsbegriffe ins Uferlose ausgedehnt.

Auch sieht das BVerfG die Rechtswe­gegarantie nicht angetastet. Sie sei le­diglich "modifiziert" worden, der Rechtsschutz sei ja im Drittstaat ge­währleistet. Mit dem Drittstaaten-Kon­zept habe der Gesetzgeber sich für eine "normative Vergewisserung" über die Zustände in diesen Ländern entschieden, durch die eine weitere Prüfung von Ein­zelfällen ausgeschlossen wird.

Das 2. Urteil betrifft die "sicheren Her­kunftsländer", die gemäß Art. 16a Abs. 3 festgelegt werden. Nach Art. 16a Abs. 4 GG können aufenthaltsbendende Maßnahmen (also Abschiebungen) nur dann ausgesetzt werden, wenn im be­sonderen Einzelfall Tatsachen vorgetra­gen werden, die beim Gericht "ernstliche Zweifel" entstehen lassen. 2 Personen aus Ghana hatten gegen diese Regelung Verfassungsbeschwerde erho­ben. Das BVerfG beschloß (hier mit 5:3 Stimmen!), daß Ghana zu Recht als si­cheres Herkunftsland eingeschätzt wer­den dürfte. Erneut gesteht es dem Ge­setzgeber einen weiten "Einschätzungs- und Wertungsspielraum" zu. Die Ent­scheidung müsse "vertretbar" sein, Un­vertretbarkeit wäre erst dann gegeben, wenn "eine Gesamtwürdigung ergibt, daß der Gesetzgeber sich bei seiner Ent­scheidung nicht von guten Gründen hat leiten lassen"(!). Ein Kommentar erüb­rigt sich.

Weiterhin macht das BVerfG Ausfüh­rungen zur Situation in Ghana selbst. In Gegensatz zum abweichenden Votum von 3 RichterInnen betont die Mehrheit des Senats, daß auch die Existenz der Todesstrafe im Rechtssystem Ghanas keine Rolle spiele. Wenn diese nur für besonders schwere Verbrechen und nicht besonders grausam vollstreckt werde, sei alles gar nicht so schlimm. Ghana sei in einer Umbruchsituation, der bestimmte Unsicherheiten über die weitere Entwicklung typischerweise in­newohnten. Daher müsse der Gesetzge­ber bei der Prognose wiederum seinen Einschätzungsspielraum nutzen.

Das 3. Urteil bezieht sich auf das Flug­hafenverfahren (geregelt in _ 18a Asyl­verfahrensgesetz/AsylVfG) und die Fra­gen des effektiven Rechtsschutzes. Ge­mäß der Flughafenregelung wird das Asylgesuch bei per Flugzeug Einreisen­den im Eilverfahren im Transitbereich durchgeführt, um eine Einreise zu ver­hindern, nach der eine Abschiebung nicht mehr so problemlos möglich wäre. Art. 16a Abs. 4 bestimmt, daß Flücht­linge aus sicheren Herkunftsstaaten so­fort abgeschoben werden können, wenn keine "ernstlichen Zweifel" an der Rechtmäßigkeit der Maßnahme beste­hen. Dies gilt auch für alle anderen Fälle, die "offensichtlich unbegründet sind oder als offensichtlich unbegründet gelten". Die __ 18a und 36 AsylVfG re­geln, daß Verwaltungsgerichtsentschei­dungen zu Anträgen auf Aussetzung von Abschiebungen im schriftlichen Schnell-Verfahren erledigt werden. Nur die Entscheidungsformel, nicht einmal die Begründung muß vorliegen, um die Abschiebung vollziehbar zu machen. Gegen diese Regelungen richtete sich die Verfassungsklage eines Mannes aus Togo, dessen Antrag als offensichtlich unbegründet abgelehnt worden war.

Das BVerfG führt aus, daß der Gesetz­geber mit Art. 16a Abs. 4 den verfah­rensrechtlichen Schutzbereich der Asyl­gewährleistung begrenzen wollte. Der Artikel nehme das Recht des Asylbe­werbers, bis zu einer bestandskräftigen Entscheidung vorläufig bleiben zu dür­fen "ein Stück weit zurück" (!) Das In­teresse des Asylbewerbers müsse ge­genüber den Interessen des Staates ab­gewogen werden! Der neue Artikel nehme die Garantie des effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG auf "und gestaltet sie wegen des mas­senhaften Zustroms asylbegehrender Aualänder um" (!). Der Gesetzgeber wollte die Asylverfahren verkürzen: "Folge dieser verfassungsrechtlichen Beschleunigungsmaxime ist notwendig eine Modifizierung des fachgerichtli­chen Rechtsschutzes". Auch der Maß­stab der "ernstlichen Zweifel" wird vom BVerfG bestätigt. Nach Aussagen der Bundesregierung im Verfahren bestün­den ernsthafte Zweifel erst dann, wenn "Erfolg und Misserfolg des Rechtsbe­helfs gleichermaßen wahrscheinlich seien". Das bedeutet im Klartext, wenn ein Richter mit 49% Wahrscheinlichkeit befürchtet, daß die Abschiebung un­rechtmäßig sein könnte, reicht das nicht für ernsthafte Zweifel!

Zum Flughafenverfahren wird des Weiteren ausgeführt, daß die Einzwängung in knastähnliche Gebäude auf dem Flughafengelände keine Freiheitsberau­bung sei, weil die Bewegungsfreiheit ja nicht in jede Richtung hin (!) aufgeho­ben sei. Wenn der Flüchtling nicht zu­rückfliegen will, könne man dies nicht der deutschen Staatsgewalt anlasten. Lediglich zum Schnellverfahren selbst macht das BVerfG einige kritische An­merkungen und fordert zwei kleine Ver­besserungen, nämlich die kostenlose Gewährleistung einer asylrechtskundi­gen Beratung sowie die Verlängerung der Begründungsfrist des Antrags um 4 Tage.

Empörend sind bei diesem Urteil nun noch die Ausführungen zu den Mög­lichkeiten einer Verfassungsbe­schwerde. Der Antragsteller könne ab­geschoben werden, ohne daß er die Be­gründung des Verwaltungsgerichtes kennt, da ihm sowieso kein weiterer or­dentlicher Rechtsbehelf zur Verfügung stehe (verkürztes Verfahren nach _ 80 AsylVfG). Verfassungsbeschwerden seien außerordentliche Rechtsbehelfe, die die Rechtskraft ergangener Urteile nicht hemmten. Es sei gerade Sinn des fachgerichtlichen Rechtsweges, endgül­tige Grundlagen für die Durchsetzung von Hoheitsakten zu schaffen. Die Möglichkeit, im Einzelfall nach _ 32 Bundesverfassungsgerichtsgesetz, vor­läufigen Rechtsschutz zu gewähren, sei nicht als Regelfall gedacht. Die "erheblichen wirtschaftlichen und poli­tischen Lasten" müssten berücksichtigt werden, auch wenn Eingriffe in Grund­rechte drohten, die nicht wieder rück­gängig gemacht werden könnten. Mit der GG-Änderung werde "dem öffentli­chen Interesse an dem Sofortvollzug der behördlichen Entscheidungen von Ver­fassungs wegen" der Vorrang vor dem Individualinteresse eingeräumt.

Gegen diese Ausführungen zum Rechts­schutz haben Richterin Limbach und die Richter Böckenförde und Sommer im­merhin scharfe Kritik in ihrem Minder­heitenvotum vorgetragen. Es widerspre­che der Gewaltenteilung, wenn die Exe­kutive die Möglichkeit erhalte, BVerfG-Entscheidungen praktisch ins Leere lau­fen zu lassen. Der Rechtsbehelf der Ver­fassungsbeschwerde müsse im Falle möglicherweise irreversibler Folgen auch einen Schutz gegen vollendete Tat­sachen umfassen. Das Schutzziel des einzelnen dürfe nicht auf nachträgliche Genugtuung beschränkt werden, son­dern müsse effektiv erreicht werden können. Der Senat nehme "das Risiko einer verfassungsrechtlich nicht tragfä­higen Überstellung eines tatsächlich po­litisch Verfolgten an seinen Verfolger­staat (...) als 'Kosten' einer Beschleuni­gungsmaßnahme in Kauf'". Damit ver­kehrten sich die verfassungsrechtlichen Maßstäbe "in ihr exaktes Gegenteil". Das BVerfG werde so "seiner grund­rechtsgewährleistenden Funktion be­raubt"!

Das Urteil ist gesprochen. Der men­schenrechtlich motivierte Kampf um ein unverkürztes Asylrecht muß weiter ge­führt werden, nun unter noch er­schwerteren Bedingungen.

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Martin Singe ist Redakteur des FriedensForums und aktiv im Sprecher*innenteam der Kampagne "Büchel ist überall! atomwaffenfrei.jetzt".