Wer über Bosnien empört ist, darf zum Krieg in der Türkei nicht schweigen

von Andreas Buro
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Der Krieg in Bosnien bewegt sehr viele Menschen zu Recht. Dort offenbart sich die ganze Scheußlichkeit und Menschenverachtung des militärischen Konfliktaustrages. Im Krieg in der Türkei ist es jedoch nicht anders. Ethnische Vertreibung in großem Ausmaß, die Zerstörung von über 2000 kurdischen Dörfern, Mord und Folter gehören zum Alltag. Trotzdem wird von diesem Krieg in Deutschland und in der internationalen Öffentlichkeit nur am Rande Kenntnis genommen. Aber nicht nur dies. Überall wird den Versuchen, Kriege durch eine politische Lösung zu beenden, große Aufmerksamkeit und viel Beifall gespendet. Nach dem Mord am israelischen Premierminister Yitzhak Rabin haben sich noch einmal sehr viele Staatsmänner und Politiker für dessen Friedenspolitik und sein Bemühen, den gewaltsamen Konfliktaustrag zu überwinden, ausgesprochen.

Die gleichen Staatsmänner und Mächte, welche sie repräsentieren, sind jedoch zur selben Zeit kaum bereit, die Türkei - Ankara - zu drängen, endlich konstruktive Schritte in Richtung auf eine Beendigung des Krieges und zur Suche nach einer politischen Lösung zu tun. Vielmehr werden Ankara nach wie vor Waffen geliefert, die selbstverständlich im Krieg gegen die kurdische Guerilla eingesetzt werden, und der Krieg wird durch finanzielle Hilfen gefördert. Obwohl dieser furchtbare Krieg voller Menschenrechtsverletzungen, unter Missachtung eingegangener internationaler Verpflichtungen durch Ankara und unter ständigen Verstößen gegen bürgerrechtliche und demokratische Normen fortgeführt wird, beabsichtigt der Ministerrat der Europäischen Union zum 1.1.1996 die Türkei in eine Zollunion mit der EU aufzunehmen. Dabei geben sich die EU-Staaten - erfreulicherweise und hoffentlich nicht das Europäische Parlament - mit kosmetischen Verfassungs- und Rechtsreformen in der Türkei zufrieden, durch die berüchtigte Verfolgungs- und Maulkorbparagraphen zwar abgeschafft, aber die gleichen Tatbestände durch andere Gesetze weiterhin verfolgt werden können. Folter und politischer Mord bleiben darüber hinaus auf der Tagesordnung.

Ein so gleichgültig-fahrlässiges Verhalten der NATO-Staaten ist kaum verständlich und macht die gängige Argumentation, man müsse weiter rüsten, um für Friedenssicherung militärisch-humanitär intervenieren zu können, gänzlich unglaubwürdig. Die NATO-Staaten betonen immer wieder, sie wollten die Türkei als stabilen Pfeiler ihres Militärbündnisses sichern. Stabiler Pfeiler mit Bürgerkrieg im eigenen Lande? Die Kriegskosten des hochverschuldeten Landes gehen zu Lasten von Gesellschaft und Ökonomie. Die Wirtschaft kann sich nicht entwickeln. Nationalistische Propaganda und Verhetzung sollen die Misere überspielen. Zur Bündelung der Kräfte für den Krieg, werden diejenigen vorrangig bekämpft, die vermitteln wollen. Das soziale Elend begünstigt rechtsextreme und fundamentalistische Strömungen. Die ohnehin schwach ausgebildete türkische Demokratie wird weiter unterhöhlt. Die einzig mögliche Stabilisierung der türkisch-kurdischen Gesellschaft liegt in der sofortigen Beendigung des Krieges und in einer politischen Lösung für den Konflikt.

Nun wird der Forderung nach einer politischen Lösung entgegengehalten, erst müsse der 'Terror der PKK', also der kurdischen Guerilla, gebrochen sein. Dies ist, wie wir aus vielen historischen Beispielen wissen, eine unrealistische Forderung, die in Wirklichkeit nur der Verlängerung des Krieges dient. Vielmehr führen erst die Aufnahme des Dialogs und durchaus auch einseitige vertrauensbildende Schritte dazu, Verfeindung zu überwinden. Die Fortdauer des militärischen Schreckens (Terror) verstärkt nur Feindbilder und treibt in Irrationalität, wie es im ehemaligen Jugoslawien gegenwärtig geschieht.

Das Militär hat in der Geschichte des türkischen, kemalistischen Nationalstaates, der aus dem osmanischen Reich hervorgegangen ist, eine überragende Rolle gespielt. Durch zwei Putsche hat es in den vergangenen 25 Jahren seine Dominanz gesichert. Es ist auch gegenwärtig die 'letzte Instanz' und Überregierung in Ankara. Es ist mehr als alle anderen politischen Kräfte für den militärischen Konfliktaustrag gegen die Kurden und für die konzessionslose Politik ihnen gegenüber verantwortlich. Es wird seine Politik nur ändern, wenn NATO-Staaten mit Nachdruck auf einer Wende zu einer politischen Lösung bestehen.

Für eine Beendigung des Krieges setzen sich gegenwärtig vor allem viele türkische und kurdische Intellektuelle, Schriftsteller und Künstler ein, die sich den Werten der Demokratisierung und der Menschenrechte verbunden wissen. Sie stehen nach wie vor unter ständiger Bedrohung durch Verhaftung, Folter und Mord. Trotz so bedrückender Bedingungen wenden sich immer mehr mutige Menschen gegen den Krieg. Über 1000 Intellektuelle haben sich selbst beim Staatssicherheitsgericht angezeigt. Vor Gericht steht gegenwärtig einer der bekanntesten Schriftsteller der Türkei, Yasar Kemal. Der Industrielle und Parteiführer Cem Boyner tritt offen für eine politische Lösung ein. In einer Untersuchung der Handels- und Börsenkammer der Türkei (TOBB) wurde ermittelt, daß sich die überwältigende Mehrheit in den kurdischen Siedlungsgebieten für Reformen im Rahmen der Türkei und damit gegen jeglichen Separatismus ausspricht. Die kurdische kulturelle Identität solle anerkannt werden. Meinungsfreiheit und die Einführung föderativer, demokratischer Strukturen werden gefordert. Das Komitee für Frieden, Brüderlichkeit und Solidarität verbreitet einen Aufruf mit konkreten Vorschlägen. Unter anderem wird ein mindestens dreimonatiger Waffenstillstand gefordert, eine Beendigung der Entvölkerung kurdischer Dörfer und der Deportationen, eine neue Verfassung, die Aufhebung des Ausnahmezustandes und eine Amnestie für politische Gefangene. Die kulturelle und ethnische Vielfalt sei anzuerkennen und die Bevölkerung solle in 'Friedensmonaten' Vorschläge, Meinungen und Projekte ausarbeiten. Viele andere Aktivitäten und Stellungnahmen kommen hinzu. Solche zivilen Ansätze für Frieden benötigen der Unterstützung auch aus dem Ausland.

In Deutschland haben in diesem Jahr etwa 140 bekannte Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Politik, Literatur und Kultur, aus Publizistik, Friedensbewegung und Kirchen unter der Überschrift "Krieg in der Türkei - Die Zeit ist reif für eine politische Lösung" einen Appell verbreitet. Einer der Kernsätze darin lautet: "Freundschaft zur Türkei kann in dieser historischen Situation nur heißen, ihrer großen Gesellschaft aus Türken, Kurden, Armeniern, aus Moslems, Christen und vielen anderen Völkern und Religionen beizustehen, um Gespräche und Verhandlungen für das zukünftige friedliche Zusammenleben endlich beginnen zu lassen". Aus diesem Appell hat sich ein Dialog-Kreis gebildet, der sich die folgenden vier Aufgaben gesetzt hat:

- Das in der Türkei nach wie vor herrschende Tabu gegenüber einer offenen Diskussion über eine politische Lösung zu überwinden, und die Menschen dort, die solche Vorschläge vortragen, durch internationale Öffentlichkeit zu schützen;

- Den Appell auf andere Länder auszuweiten, so daß es sich nicht allein um eine deutsch-türkische Angelegenheit handelt;

- Die NATO-Regierungen immer wieder auf eine politische Lösung hin anzusprechen und sie aufzufordern, dafür tätig zu werden;

- Schließlich soll dazu beigetragen werden, daß in Deutschland mehr Runde Tische zwischen Deutschen, Türken und Kurden entstehen, von denen die gemeinsame Forderung nach einer politischen Lösung ausgehen soll.

Der Dialog-Kreis ist offen für Zusammenarbeit bei der Gestaltung des von ihm geforderten und beförderten europäischen Friedensdialog (1). Er tritt für Versöhnungs- und Friedensarbeit auch hier in Deutschland ein. Das früher meist gute Verhältnis zwischen Türken und Kurden darf nicht durch Gewalt gegen Personen und Sachen belastet werden. Wer den Dialog will, wer für eine politische Lösung ist, darf selbst nicht Gewalt anwenden. Er machte sich sonst unglaubwürdig. Vertrauen zu bilden, diese schwierige Aufgabe, ist aber von aller größten Bedeutung.

Im Friedensdialog sind unterschiedliche Meinungen selbstverständlich. Keiner darf ausgeschlossen werden. Wie sollte sonst eine Verständigung erreicht werden? Es gibt keine Monopole auf "die" türkische oder "die" kurdische Position. Für den offenen Dialog ist das Verbot der PKK in Deutschland ausgesprochen schädlich, wird doch dadurch eine argumentative Auseinandersetzung mit deren Position geradezu kriminalisiert. Statt sich auf die Verfolgung von Verstößen gegen das geltende Strafrecht zu konzentrieren, stellt sich die deutsche Innenpolitik mit diesem Verbot auf die Seite Ankaras und seiner repressiven Politik. Dringend nötig wäre es dagegen, hier in Deutschland ein Zeichen dafür zu setzen, daß die Kurden eine eigene kulturelle Identität haben, und ihnen die gleichen Rechte und Möglichkeiten als eigene Gruppen einzuräumen, die z.B. auch den Türken in Deutschland gewährt werden. Offensichtlich hat die deutsche Politik noch viel zu lernen, um hilfreich zur Überwindung eines solchen Konfliktes in einem befreundeten Land agieren zu können.

In dem in der Türkei zum 1. September herausgegebenen Friedensmanifest heißt es: "Die Hoffnung der Völker liegt nicht im Krieg, sondern in einer wahren Demokratie. Wir versprechen, daß wir diesen Schrei so lange erschallen lassen, bis der Friede erreicht ist. Wir rufen alle auf, sich diesem Schrei nach Frieden anzuschließen." In der Tat, die Zeit dafür ist reif.

 

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