Der Ruf nach den Vereinten Nationen

von Andreas Zumach
Hintergrund
Hintergrund

Es dauerte gut sechs Monate, bis sich die Erkenntnis durchsetzte, daß eine europäische Lösung des Jugoslawienkonfliktes nicht möglich war und im Januar 1992 der Ruf nach der UNO erscholl. Kostbare Monate, in denen Zehntausende Opfer eines immer brutaleren Krieges wurden. Bei einem früheren Eingreifen der UNO hätte ein Großteil dieser Leiden vielleicht vermieden werden können. Das gilt für die inzwischen zumin­dest vorübergehend eingestellten bewaffneten Auseinanderdersetzun­gen in Kroatien wie für den Krieg in Bosnien-Herzegowina. Schon im Juni 1991 hatte der bosnische Präsident die UNO - vergeblich - um die Bereitstellung einer Friedenstruppe ersucht, die als Puffer an den Gren­zen zu Serbien aufgestellt werden sollte.

Der Beschluß des UN-Sicherheitsrates zur Entsendung von 14.000 UNO-Sol­daten nach Kroatien Ende Januar 1992 kam nicht nur zu spät, er wurde auch viel zu langsam umgesetzt. Es dauerte fast fünf Monate, bis alle Soldaten der UNO-Blauhelmtruppe UNPROFOR (United Nations Protection Force) an ihrem Bestimmungsort waren. Hierfür war vor allem die katastrophale finan­zielle Lage der UNO verantwortlich. Der UNO fehlten Anfang August 1992 rund 1,75 Milliarden DM an Pflichtbei­trägen, davon 844 Mill. für Friedens­missionen. 164 der 179 Mitgliedstaaten - unter ihnen die BR Deutschland - wa­ren zu diesem Zeitpunkt mit ihren Zah­lungen für das laufende Jahr im Rück­stand, viele sogar noch für 1991. Die mit weitem Abstand größte Summe schuldeten die USA: allein 555 Mio US-Dollar für den laufenden Jahreshaushalt. Dazu kamen Außenstände in Millionen­höhe beim Budget für die Friedensmis­sionen. Zwar litt die UNO auch schon in vergangenen Jahren unter Finanz­schwierigkeiten. Doch noch nie war das Defizit nach sieben Haushaltsmonaten so groß wie 1992.

Die Entsendung einer zunächst nur 1.500 Mann starken UNO-Truppe nach Bosnien-Herzegowina ab Mai dieses Jahres  erwies sich als völlig unzurei­chende Maßnahme. Doch obwohl dar­über unter den Beobachtern vor Ort schon nach wenigen Wochen Konsens herrschte, beschloß der Sicherheitsrat erst im August eine Aufstockung auf 8.000 Mann.

Zu enges Mandat

Als viel zu eng erwies sich nicht nur die geographische Begrenzung der UN­PROFOR, so der Name der UN-Blau­helmtruppe, auf wenige Gebiete Bos­nien-Herzegowinas, sondern auch das auf die Begleitung und Sicherung von humanitären Hilfsleistungen be­schränkte Mandat dieser UNO-Truppe. Deutliche Kritik an dieser Beschrän­kung findet sich in dem am 28. August vorgelegten ersten Bericht des UNO-Sonderbeauftragten für die Menschen­rechtssituation im ehemaligen Jugosla­wien, Tadeusz Mazowiecki. Bei seiner ersten Erkundungsmission traf der ehemalige polnische Ministerpräsident fast nur auf "völlig frustrierte" UN-Sol­daten. "Bei schweren Menschenrechts­verletzungen müssen wir untätig dane­ben stehen und dürfen nicht eingreifen, selbst wenn sie direkt vor unseren Au­gen geschehen", zitiert Mazowiecki den Kommandeur einer UNO-Einheit. Unter anderem forderte Mazowiecki, daß die UNO-Soldaten "jederzeit und ungehin­dert" alle von den verschiedenen Kriegsparteien unterhaltenen Internie­rungslager betreten dürften.

Als weiteres, politisch bedeutsames De­fizit der UNO im Jugoslawienkonflikt erwies sich - wie bereits in der Golfkrise - ihre Unfähigkeit, die Einhaltung und die Auswirkungen der vom Sicherheits­rat verhängten Wirtschaftssanktionen mit eigenen, unabhängigen Instrumen­ten durchzusetzen und zu überwachen. Das ist deshalb von erheblicher Bedeu­tung auch für zukünftige Konflikte, weil - ebenfalls wie in der Golfkrise - diese Unfähigkeit der UNO der Behauptung Vorschub leistet, mit dem nichtmilitäri­schen Druckmittel wirtschaftlicher Sanktionen lasse sich prinzipiell nichts erreichen.

Wirkungslose Sanktionen

Die vom UNO-Sicherheitsrat im Mai 92 gegen Rest-Jugoslawien verhängten Sanktionen waren bis Anfang Septem­ber kaum umgesetzt und hatten nur ge­ringe Auswirkungen. Das gilt in noch stärkerem Maße für die von den EG-Außenministern bereits Anfang Dezem­ber 91 beschlossenen wirtschaftlichen Druckmaßnahmen. Zwar kam es in Rest-Jugoslawien im Laufe des Som­mers zu Engpässen bei einigen Kon­sumprodukten. Aber Öl, Waffen, Muni­tion und andere für die Kriegsführung unerlässliche strategische Güter gelang­ten nach wie vor in ausreichender Menge nach Serbien und an die in Bos­nien-Herzegowina kämpfenden serbi­schen Truppen. Am Bruch der Sanktio­nen beteiligten sich neben Rumänien und Bulgarien vor allem das NATO-und EG-Mitgliedland Griechenland, aber - weitgehend unbehelligt von den jeweili­gen Regierungen - auch zahlreiche Fir­men aus der Bundesrepublik Deutsch­land und anderer westeuropäischer Staaten.

Im Jugoslawienkonflikt wie in der Golf­krise überließ es der UNO-Sicherheits­rat bis November '92 anderen, die Ein­haltung von ihm beschlossener Wirt­schaftssanktionen zu überwachen, Krite­rien zur Bemessung ihrer Wirksamkeit festzulegen und die Auswirkungen dann auch öffentlich bekanntzugeben. Damit gab er die Kontrolle über das zentrale nichtmilitärische Druckinstrument aus der Hand und überließ es der Manipula­tion durch nationale Interessen. Zu For­derungen nach einer Reform der UNO, die tatsächlich auf eine Verbesserung ih­rer Handlungsfähigkeit abzielen und nicht nur darauf, etwa Deutschland oder Japan einen ständigen Sitz im Sicher­heitsrat zu verschaffen, gehört an vor­derster Stelle, diese Kompetenz poli­tisch und von den notwenigen Mitteln her wieder eindeutig beim Sicherheitsrat anzusiedeln.

Keine Grenzveränderungen

Wollen UNO, KSZE und EG ihre stark angeschlagene Autorität nicht noch weiter einbüßen, dann müssen sie darauf bestehen, daß gewaltsam erfolgte Ver­änderungen der Grenzen ausnahmslos und vollständig rückgängig gemacht und daß Vertriebene wieder in ihre Heimatorte zurückkehren dürfen. Zur Durchsetzung dieses Prinzips und zur Verhinderung weiterer großer Opfer unter der Zivilbevölkerung bedarf es möglicherweise der zeitweisen Unter­stellung Bosnien-Herzegowinas oder sogar des gesamten Ex-Jugoslawiens unter ein UNO-Protektorat. Die Neuzie­hung von Grenzen und die Umsiedlung von Bevölkerungsgruppen kann nur mit Einvernehmen aller betroffener Seiten erfolgen. Weichen UNO, KSZE und EG von diesem Prinzip ab, sanktionieren sie damit gewaltsame Grenzveränderungen und Vertreibungen bei künftigen Kon­flikten.

September 1992

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