Zur Demokratiefrage im EG-Europa

von Wilfried Telkämper
Schwerpunkt
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Fliegt ein deutscher Minister von Bonn nach Brüssel, um dort an einer Sitzung des Europäischen Ministerrates der EG teilzunehmen, so findet im Flugzeug eine seltsame Metamorphose statt. Der Herr Minister besteigt das Flugzeug als Mitglied der deutschen Regierung -- folglich als Exekutivorgan; betritt er in Brüssel das EG-Ministerratsgebäude, so ist er als Mitglied des EG-Ministerrats Teil der EG-Legislative.

Diese eigentümliche Verwandlung vom Exekutivorgan zum Legislativorgan, vom Mitglied der deutschen Regierung zum Mitglied des entscheidenden gesetzgebenden Organs der EG, macht deutlich, daß irgendetwas in der demokratischen Konstruktion der EG nicht stimmt. Hinzu kommt, daß es ein Europäisches Parlament gibt, dessen Mitglieder immer über ihre Machtlosigkeit klagen. Wie steht es also um die Demokratie im vereinten, besser: sich vereinigenden Europa, besser: Westeuropa? Und hat sich durch die Beschlüsse von Maastricht etwas Grundlegendes geändert?

Der europäische Einigungsprozeß wird im Allgemeinen als Verzicht souveräner Nationalstaaten Westeuropas auf staatliche Hoheitsrechte verstanden, die auf europäische Instanzen übertragen werden. Nun kann man natürlich diese Entwicklung als "Überwindung der Nationalstaaten" begrüßen, aber das ist nur die halbe Wahrheit: Diese Überwindung von Grenzen, diese Sprengung nationaler Begrenztheiten, diese "Entnationalisierung" wird durch einen zunehmenden Prozeß der Entdemokratisierung erkauft. Gerade im Zuge der Schaffung des sog. Binnenmarktes bis Ende 1992 entsteht mehr und mehr ein "Markt ohne Staat", d.h. ohne demokratische Kontrolle. Das Europäische Parlament ist kein echtes Parlament: Seine Abgeordneten werden zwar alle fünf Jahre direkt vom Volk gewählt, doch über ein umfassendes Budgetrecht, d.h. die Möglichkeit, über die Verwendung der Haushaltsmittel in der EG zu entscheiden, über das Recht, eine Regierung zu wählen, diese wirksam zu kontrollieren oder gar abzuwählen, verfügen sie nicht. Auch konnten diese Abgeordneten bislang keine Gesetzesentwürfe in das Parlament einbringen, denn sie haben kein sog. Initiativrecht. Sie durften sich bisher nur mit den Gesetzes- oder Verordnungsvorhaben beschäftigen, die ihnen vom EG-Ministerrat oder der EG-Kommission vorgelegt wurden.

Das EG-Parlament -- der Begriff "Europäisches Parlament" führt angesichts der Tatsache, daß in diesem Parlament nur Abgeordnete aus 12 westeuropäischen vertreten sind, eigentlich in die Irre -- ist im Grunde nur eine parlamentarische Versammlung mit sehr beschränkten Kontroll- und Gestaltungsrechten. Auch die Beschlüsse von Maastricht, mit denen der Grundstein für eine Politische Union gelegt werden soll, haben daran nichts Wesentliches verändert. Das entscheidende Gremium für alle Gesetzesvorhaben -- auf europäischer Ebene spricht man von Verordnungen und Richtlinien, die aber in der Bundesrepublik teilweise unmittelbar die Wirkung von Gesetzen entfalten -- ist und bleibt der EG-Ministerrat, in dem die zuständigen Fachminister der EG-Mitgliedstaaten das Sagen haben.

Zwischen Bonn und Brüssel geht somit durch die seltsame Metamorphose der Minister vom Exekutiv- zum Legislativorgang ein Stück Demokratie verloren. Elementare Grundsätze der Gewaltenteilung werden verletzt. Die Übertragung von im nationalen Rahmen einer demokratischen Kontrolle unterliegenden Hoheitsrechten auf die europäische Ebene geht zur Zeit mit einem automatischen Verlust an Demokratie einher.

Das EG-Parlament hat bei fast all diesen Beschlüssen auf EG-Ebene nur ein beschränktes Mitwirkungsrecht und kann in wesentlichen Bereichen durch den Ministerrat überstimmt werden. Die in Brüssel fehlende oder mangelhafte demokratische Kontrolle dieser Gesetzgebung kann dann bei der Ratifizierung dieser Beschlüsse auf nationaler Ebene nur in äußerst begrenztem Maße nachgeholt werden, da die Abgeordneten des nationalen Parlaments zu diesen Beschlüssen nur pauschal Ja oder Nein sagen können. Ein Gestaltungsrecht, die Möglichkeit zu ändern oder zu ergänzen, besitzen sie nicht. Die Beschlüsse von Maastricht sind dafür ein gutes Beispiel: Der Bundestag kann sie nur unverändert annehmen oder ablehnen.

Im EG-Jargon wird dieses Problem als "Demokratiedefizit" bezeichnet. Für Maastricht hatten sich einige Regierungen –darunter unser Bundeskanzler – vorgenommen, dieses Defizit zu beseitigen, d.h. dem EG-Parlament mehr Rechte einzuräumen. Doch aus dieser vollmundigen Ankündigung ist nichts geworden. Zwar wird dem Parlament nun ein gewisses Initiativrecht eingeräumt, auch erhält es in einigen neuen Politikbereichen ein Mitwirkungsrecht, doch von einem Mitentscheidungsrecht ist es weit entfernt.

Diese mit einem Verlust an demokratischer Kontrolle einhergehende Übertragung von Hoheitsrechten auf die EG hat aber noch einen weiteren gefährlichen Aspekt: Wir alle wissen, daß z.B. die Agrarpolitik heute nur noch zu einem geringen Maße in Bonn gemacht wird. Das gilt auch für andere Politikbereiche wie z.B. die Umwelt- und Verbraucherpolitik. Das hat positive wie negative Seiten: Fortschrittliche Umweltnormen können national in der BRD nicht immer realisiert werden, weil höherrangige EG-Normen den nationalen Gesetzgeber behindern oder beschränken. In einigen Bereichen hat die EG allerdings auch positiv gewirkt und ist der nationalen Gesetzgebung voraus, z.B. bei der Trinkwasserverordnung. Diese Gefahr einer "Unterwanderung" gewisser Stan-dards an gesetzlichen Regelungen gilt aber nicht nur im Umweltbereich, sondern z.B. auch in sozialen und Verbraucherfragen. Man hat im EG-Bereich erkannt, daß für die Verwirklichung des Binnenmarktes nicht alle gesetzlichen Vorschriften zu "harmonisieren" sind, deshalb steht nicht so sehr die "Harmonisierung" auf der Tagesordnung als die "Deregulierung", d.h. die Abschaffung gesetzlicher Regelungen, die Handel und Wandel im großen Binnenmarkt behindern, und die Anerkennung der Normen anderer Staaten. Ist z.B. bei uns die Bestrahlung von Lebensmitteln verboten, so stellt dies ein Handelshindernis dar, weil bestrahlte Lebensmittel aus anderen EG-Ländern nicht eingeführt und bei uns verkauft werden dürfen. Folglich muß dieses Handelshindernis "dereguliert", also beseitigt werden: Was in anderen EG-Ländern erlaubt ist, muß dann auch bei uns erlaubt sein: Bestrahlte Lebensmittel auf unserem Tisch. Der Binnenmarkt macht's möglich!

Das deutsche Parlament, das seine Kompetenzen in bestimmten Bereichen nach Brüssel abgegeben hat, kann dies praktisch nicht mehr verhindern. Gerade der Binnenmarkt ist alles andere als ein Motor des Fortschritts in sozialen, ökologischen oder Verbraucherfragen. De-mokratisch errungene Fortschritte können auf diese europäische Weise zunichte gemacht werden. Der Binnenmarkt macht's nötig!

Schließlich bedeutet der europäische Einigungsprozeß eine gewaltige Zentralisierung der Entscheidungskompetenzen in Brüssel. Und Zentralisierung bedeutet auch immer Entdemokratisierung im Sinne eines Abbaus der Rechte und Einflußmöglichkeiten von Betroffenen -- seien es Individuen oder Regionen. Diese Zentralisierungstendenz widerspricht unseren Vorstellungen von einer Demokratisierung und Regionalisierung. Das Zauberwort in Brüssel -- um dieser als problematisch erkannten Entwicklung entgegenzuwirken -- lautet "Subsidiarität", d.h. Beibehaltung oder Verlagerung von Entscheidungskompetenzen auf die möglichst niedrigste Ebene. Aber gleichzeitig kann dies dazu führen, daß die oberste Entscheidungsebene die Zuständigkeit behält bzw. wahrnehmen kann, wenn auf der unteren Ebene nichts oder nicht das Richtige geschieht. Immer häufiger wird -- z.B. in der Verkehrspolitik -- in Brüssel vorbestimmt, was regional umgesetzt werden muß. Über die großen europäischen Verkehrsverbindungen wird in Brüssel entschieden, nicht in der Region. Stärkere Beteiligungsrechte der BürgerInnen liegen natürlich in diesem Zusammenhang nicht gerade im Trend. In Maastricht wurde zwar die Bildung ei-nes Reginalrates vereinbart, doch dieser ist als ein Gremium ohne jede Macht oder Entscheidungskompetenz konzipiert.
 

Daß im Rahmen dieses Einigungsprozesses nun auch die Außen- und Sicherheitspolitik "europäisiert" werden soll, kann in diesem Zusammenhang nicht beruhigend wirken. Militärische Aktionen auch außerhalb des NATO-Gebiets, die WEU als militärisches europäisches Standbein, die deutsch-französische Brigade als dessen Nukleus, die Ankündigung Frankreichs, seine Nuklear-Waffen in eine europäische Streitmacht einzubringen -- und natürlich nicht abzuschaffen --, lassen Illusionen über dieses "EG-europäische" Verständnis von Verteidigungs- und Sicherheitspolitik kaum zu: Europäisierung der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik bedeutet gewiß keine Entmilitarisierung. Wenn auch hier nur erste Ansätze einer wachsenden Kooperation in Maastricht beschlossen wurden, so lehrt die Erfahrung, daß eine stärkere europäische Zusammenarbeit durch keinerlei Stärkung der demokratischen Kontrolle auf europäischer Ebene begleitet wird.

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