Auf der Suche nach zivilen Nutzungsalternativen für militärische Regionen

Abrüstungsverdächtige Regionen

von Achim Schmillen

Die Abrüstungswelle, die in der Sowjetunion ihren Ausgang nahm, schwappt nun langsam auf die NATO über. Neben den Berichten in der Sunday - Times über britische Haushaltsauseinandersetzungen, nach denen auch der vollständige Abzug der britischen Rheinarmee aus der Bundesrepublik diskutiert wurde [1]und der niederländischen Entscheidung, 750 Soldaten in die Niederlande zurückzuverlegen [2], haben vor allem die belgischen Abzugspläne für helle Aufregung im atlantischen Bündnis gesorgt.

 

1 TAZ vom 29.1.1990, Rheinische Post vom 30.1.1990

2 Neue Züricher Zeitung vom 1.2.1990

Diese Überlegungen und die zum Teil bereits feststehenden Reduzierungen der amerikanischen Streitkräfte in der Bundesrepublik Deutschland werden gravierende Auswirkungen auf die wirtschaftliche und soziale Situation der vom Militär besonders abhängigen Regionen haben. Allein schon die Zahl Zivilbeschäftigten bei den ausländischen Streitkräfte verdeutlicht die Problematik. Zu Beginn des Jahres 1990 waren bei den Stationierungsstreitkräften insgesamt 88.293 örtliche Arbeitnehmer beschäftigt, was einen Rückgang von rund 3.000 Arbeitsplätzen gegenüber dem Vorjahr bedeutet. Die Beschäftigtenzahlen gliedern sich dabei wie folgt auf:

  1. nach Entsendestaaten:

amerikanische Streitkräfte 58.867

britische Streitkräfte            2.452

französische Streitkräfte       5204

belgische Streitkräfte          1.589

kanadische Streitkräfte                      1.119

niederländische Streitkräfte     62

niederländische Streitkräfte 347 in Budel

  1. nach Bundesländern:

Baden-Württemberg         15.446

Bayern                               14.571

Bremen                                1.426

Hessen                                   9.740

Niedersachsen                       4.350

Nordrhein-Westfalen        20.014

Rheinland-Pfalz                22.746

Diese Zahlen deuten an, daß sich erhebliche Schwierigkeiten einstellen werden, wenn die oft in strukturschwachen Gebieten konzentrierten ausländischen Streitkräfte (und Familienangehörigen) abziehen. Aber neben den Reduzierungen der Stationierungsstreitkräfte wird auch die Bundeswehr im erheblichen Maße abspecken müssen. Sie ist aufgrund der demographische Entwicklung nicht in der Lage auf Dauer ihre heutige Präsenzstärke aufrechtzuerhalten. Selbst bei geringfügigen Personalreduzierungen, wie einer Senkung der Friedenspräsenzstärke der Bundeswehr von 495.000 auf 400.000 Mann, ergeben sich bei militärabhängigen Regionen erhebliche Probleme für den regionalen Arbeitsmarkt und die örtliche Wirtschaft. Ähnliches würde bei der Einrichtung von Zonen verringerter militärischer Präsenz gelten.

Probleme ergeben sich vor allem daraus, daß eine Reduzierung nicht linear erfolgen wird, sondern tiefgreifende Strukturveränderungen mit der völligen Aufgaben einzelner Garnisonen notwendig macht. Ein gravierender Verlust an finanziellen Einnahmen sowie der Arbeits- und Beschäftigungsmöglichkeiten sind zwangsläufig. Für diejenigen Regionen, wo sich wegen der Truppen- oder rüstungsindustriellen Konzentrationen Anpassungsschwierigkeiten einstellen, ist bereits heute enormer Planungsbedarf notwendig. Für "abrüstungsverdächtige Regionen" müssen sowohl konkrete Strukturprogramme aufgestellt als auch Umschulungsprojekte [1] durch die Arbeitsämter vorbereitet werden.

Vor allem die am Tropf der Militärabhängigkeit baumelnden Standorte; insbesondere diejenigen in strukturschwachen Gebieten, werden durch die rasante Entwicklung in Angst und Schrecken versetzt. Denn werden die verschiedenen Überlegungen Realität, bedeutet das für viele vom Wirtschaftsfaktors Militär abhängigen Städte und Gemeinden ernsthafte Probleme, die, wenn es sich um Garnisonen aus strukturschwachen Gebieten handelt, schlichtweg zur Überlebensfrage werden. In Voraussicht einer absehbar wahrscheinlichen Entwicklung sind einige der betroffenen Gemeinden bereits aktiv geworden. Denn wie die Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der GRÜNEN [2] erstmals bestätigen mußte, sind bereits mindestens 16 Gemeinden beim Bundesministerium der Verteidigung vorstellig geworden, ihre militärischen Einrichtungen bei möglichen Ergebnissen der Verhandlungen über konventionelle Streitkräfte in Wien als auch bei Truppenreduzierungen aus anderen Anlässen auszusparen: Eine Übersicht über den Grad der Militarisierung der "beunruhigten" Städte und Gemeinden zeigt, daß dort eine Vielzahl militärischer Einrichtungen angesiedelt sind.

Ort                                          Militäreinrichtungen

Cuxhaven:                              18

Flensburg:                              37

Visselhövede:                         7

Grefrath:                                9

Xanten-Briten:                       9

Geilenkirchen:                        7

Düren:                                    14

Marienheide:                          1

Euskirchen:                            16

Rotenburg:                             4

Lauda-Königshofen:              10

Burglengenfeld:                     2

Kötzing:                                 3

Naila:                                      3

Wunsiedel:                             1

Ohne eine staatliche Hilfe und ohne finanzielle Entschädigung sind diese und andere betroffenen Gemeinden und deren Bürger wohl kaum für die Abrüstung zu begeistern. Der SPD-Vorsitzende des Kreisverbandes Bitburg-Prüm, Kurt Weiser, einem Kreis der hochgradig vor allem von amerikanischen Streitkräften wirtschaftlich abhängig ist, hat bereits im März 1989 anläßlich der Kreiskonferenz auf die Folgen der Abrüstung für diese Region aufmerksam gemacht.

"An uns würde die Abrüstung nicht spurlos vorübergehen. Sie würde uns nicht nur den Segen eines friedlicheren Europas bringen, sie hätte zumindest am Anfang und wenn nicht gehandelt wird auf unbestimmte Zeit, schlimme Folgen durch Wegfall von Arbeitsplätzen, Verlust direkter und undirekter Verdienstmöglichkeiten, leerstehender Wohnungen in eigens zur Vermietung gebauter Häuser von Privatleuten und manches mehr.“[3]

Während sich die US-Regierung über die wirtschaftlichen und sozialen Folgen wie Wohnungssuche, Umschulung, zusätzliche Erwerbslosigkeit durch freigesetzte Arbeitskräfte oder die Auslastungsprobleme der amerikanischen Rüstungsindustrie immerhin auf ihre Erfahrungen nach dem zweiten Weltkrieg [4] und der damals geschaffenen Behörden (wie etwa das Office of Economic Adjustment) verlassen kann, sieht die Lage für die bundesdeutsche Gesellschaft nicht besonders rosig aus. Es fehlt überall an Planung.

Hinreichende alternative Aufgaben für Soldaten finden sich relativ schnell. So kommt ein Expose [5]des Europäischen Zentrums für internationale Sicherheit (EUCIS) zu dem Schluß, daß die Bundeswehr in Zukunft zwar auch militärische Aufgaben erfüllen soll, aber darüber hinaus auch in anderen Bereichen, wie etwa Katastrophenhilfe, Überwachung und Unterstützung von Umweltabkommen, eingesetzt werden soll, wie zum Beispiel für die gemeinsame Überwachung der Verschmutzung der Nordsee durch deutsche und dänische Spezialflugzeuge, was zum Teil bereits praktiziert wird:[6] Es müßte in jedem Fall auch auf den Erfahrungsschatz der US-Regierung und des Office of Economic Adjustment zurückgriffen werden. Die Arbeitsämter müssen bereits heute Umschulungsmaßnahmen vorbereiten, um für freigesetzte Soldaten, Zivilangestellte oder Rüstungsarbeiter großzügig finanzierte Bildungsmaßnahmen durchführen zu können. Da viele militärische Anlagen und Unterkünfte in landschaftlich sehr reizvollen Gegenden liegen, wie zum Beispiel die Fernmeldeschule und Fachschule des Heeres für Elektrotechnik in Feldafing am Starnberger See, sollte man prüfen, ob und inwieweit die Möglichkeit besteht, solche Anlagen in eine zivile, z.B. soziale Nutzung zu überführen, wie etwa Sanatorium, Kindererholungsheime oder internationale Begegnungsstätten.

Diese kleine Aufzählung der Beispiele ziviler Nutzungsalternativen ehemaliger militärischer Anlagen läßt sich problemlos fortschreiben, der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt. Natürlich produzieren viele Vorschläge weitere Folgen und bergen Risiken, produzieren u.U. sogar Widerstände. Über all das muß natürlich ernsthaft diskutiert werden, aber es besteht dringender Planungs- mittlerweile sogar Handlungsbedarf. Jetzt muß die öffentliche Debatte über die Abrüstungsfolgen beginnen, damit die Planung nicht den realen Ereignissen uneinholbar hinterherhinkt. Denn sonst werden gravierende wirtschaftliche Nachteile sowohl des Einzelbürgers als auch der betroffenen Kommunen zum Bremsklotz für die einmaligen Chancen substantieller Abrüstung in Europa.

Achim Schmillen ist wiss. Mitarbeiter bei den GRÜNEN IM BUNDESTAG - , Arbeitskreis Frieden, Abrüstung, Verteidigung

1    Nach Berechnungen des Hamburger Friedensforschers Herbert Wulf können für eine Umschulung eines Beschäftigten aus der Rüstungsindustrie ca. 15.000 Mark veranschlagt werden. Allein in der bundesdeutschen Rüstungsindustrie sind zur Zeit ca. 300.000 Menschen beschäftigt; in: Wulf, H.: Was heißt Rüstungskonversion", Hamburger Informationen zur Friedensforschung und Sicherheitspolitik, 6/1988.

  1. Bundestagsdrucksache 11/572
  2. Weiser, K: Rede zur Kreiskonferenz der SPD am 4.1989 im Gemeindehaus Rommersheim, S.2
  3. Albrecht, U.: Praktische Erfahrungen in der Rüstungskonversion am Beispiel der USA nach dem zweiten Weltkrieg. in: Burhop,E./Huffschmid,J.; Von der Kriegs- zur Friedensproduktion, Köln 1980.
  4. Frankfurter Rundschau vom .8.1989
  5. FAZ vom 3.8.1989

 

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Achim Schmillen ist Koordinator AK II Außen- und Sicherheitspolitik der Bun­destagsgruppe Bündnis 90/Die Grünen.