Neue Tendenzen

Die Nutzung der Terrorismusbedrohung zur Aufweichung des Völkerrechts

von Kristina Bautze

In seiner Resolution am Tag nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in den Vereinigten Staaten erklärte der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (SC)“the inherent right of individual and collective self-defence“ (1), das Recht der Staaten auf individuelle und kollektive Selbstverteidigung. 16 Tage später bekräftigte er dieses Recht in einer weiteren Resolution (Nr. 1373).

Obwohl in der Folgezeit nicht wenige Völkerrechtler eindringlich zur Vorsicht bei der Interpretation beider Resolutionen gemahnt hatten, wurden die Dokumente von vielen, vor allem in den USA, als eine Art völkerrechtliche Ermächtigungsgrundlage für den dann am 7.10.2001 begonnenen Krieg gegen Afghanistan und später auch gegen den Irak verstanden. Nicht ganz unverständlich, wenn man bedenkt, dass beide Dokumente aus völkerrechtlicher Sicht mindestens mehrdeutig sind und dass sich in den Resolutionen des SC nach Kriegsbeginn auch nicht die Spur einer Verurteilung des Krieges finden lässt, sondern sogar Formulierungen wie: „the security council ... supporting international efforts to root out terrorism“ (2) – der SC unterstützt internationale Anstrengungen zur Ausrottung des Terrorismus.

Recht auf Selbstverteidigung
Das vom SC ins Spiel gebrachte Recht der Staaten, sich allein oder mit Hilfe befreundeter Staaten (kollektiv) gegen bewaffnete Angriffe zu verteidigen,  findet sich in Art. 51 UN-Charta. In Anbetracht der Tatsache, dass das Völkerrecht im Wesentlichen eine zwischenstaatliche Rechtsordnung ist, wurde der Art. 51 der UN-Charta bis zu den erwähnten SC-Resolutionen stets so verstanden, dass das entsprechende Recht nur durch den Angriff eines anderen Staates ausgelöst werden kann. Der SC hatte nun aber erstmals Anschläge einer nichtstaatlichen Organisation dem militärischen Angriff durch einen anderen Staat gleichgestellt.

Nun ist diese Reaktion nicht unverständlich, wenn man bedenkt, dass das destruktive Potential der Anschläge von 9/11 tatsächlich kriegsähnlich war. Trotz allem Mitgefühl für die vielen Opfer der Anschläge und ihre Angehörigen sollte jedoch auch nicht verschwiegen werden, dass damit eine Ausweitung des Rechts der Selbstverteidigung stattgefunden hat, die Gefahren für den Frieden in sich birgt. Sie hat der berühmte italienische Völkerrechtler Antonio Cassese mit der Büchse der Pandora verglichen, einem extrem ernsten Präzedenzfall für das Völkerrecht (3).

In Art. 1 Nr. 1 haben die Unterzeichnerstaaten der UN-Charta 1945 in San Francisco in unmittelbarer Erfahrung zweier verheerender Weltkriege das wichtigste Ziel der Charta definiert, nämlich Weltfrieden und internationale Sicherheit zu garantieren. Um dieses Ziel abzusichern, wurde flankierend die gegenseitige Gewaltanwendung der Staaten absolut verboten (Art. 2 Nr. 4). Es wurde ein Verbot der Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten geregelt (Art. 2 Nr. 7) sowie ein System der kollektiven Lösung von Streitigkeiten in Kap. 6 und vor allem 7 UN-Charta geschaffen, welches den Staaten vorschreibt, ihre Konflikte künftig vor die Gremien der Vereinten Nationen - Generalversammlung, Sicherheitsrat, Internationaler Gerichtshof -  zu tragen und dort friedlich zu lösen.

In Anbetracht dieser Bedeutung des absoluten Gewaltverbots hat man auch nur zwei Ausnahmen zugelassen: Eine liegt vor, wenn der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen selbst gem. Art. 42 UN-Charta militärische Sanktionsmaßnahmen anordnet. Er hat das bisher in seiner Geschichte nur dreimal getan, 1950 in Korea, 1990 im Irak und 2011 in Libyen.

Und die andere Ausnahme vom Gewaltverbot liegt eben dann vor, wenn ein Staat sich gem. Art. 51 UN-Charta gegen einen „bewaffneten Angriff“ zur Wehr setzen muss. Da es sich aber um eine Ausnahme handelt, die regelmäßig Krieg zur Folge hat, ist sie, bzw. besser gesagt war sie an strenge Bedingungen geknüpft: Vor dem 11. September setzte die Selbstverteidigung, wie schon erwähnt, den Angriff durch einen anderen Staat voraus, was den entscheidenden Vorteil hatte, dass die Frage, gegen wen sich die Verteidigung zu richten hatte, leicht zu beantworten war. Bezieht man terroristische Anschläge hier aber mit ein, so wird daraus eine komplizierte und schwierig zu beantwortende Zurechnungsfrage, weil Terrororganisationen überwiegend nicht staatlich sind und international agieren.

Was ist ein „bewaffneter Angriff“?
In Bezug auf Afghanistan wurde hier argumentiert, dieser Staat, bzw. die 2001 an der Macht befindlichen Taliban, hätten Al Qaida unterstützt, Osama bin Laden trotz zahlreicher Resolutionen des SC nicht ausgeliefert, mit anderen Worten, Afghanistans Rolle als Objekt der Selbstverteidigung der USA und ihrer Verbündeten habe 2001 außer Frage gestanden.

Auch diese Einschätzung ist nachvollziehbar, stellt jedoch ebenfalls einen Bruch mit den bis dahin geltenden völkerrechtlichen Grundsätzen dar. Nach den vom Internationalen Gerichtshof in seinem berühmten ‚Nicaragua-Urteil‘ aus dem Jahr 1986 (4) entwickelten Grundsätzen ist keineswegs jede Form völkerrechtswidriger Aggression schon als „bewaffneter Angriff“ im Sinne des Art. 51 UN-Charta anzusehen. Im Nicaragua- Urteil ging es, kurz gesagt, um die völkerrechtliche Beurteilung der Einmischung der Amerikaner in den Nicaraguanischen Bürgerkrieg Anfang der 1980er Jahre. Die CIA hatte damals die sog. ‚Contras‘ ausgebildet, finanziert und bewaffnet und nicaraguanische Häfen vermint. Als Nicaragua die USA deshalb wegen Verletzung des Gewaltverbotes vor dem Internationalen Gerichtshof zur Rechenschaft ziehen wollte, rechtfertigten sich die USA ihrerseits mit ihrem Recht auf kollektive Selbstverteidigung. Sie machten geltend, dass Nicaragua Aufständische in den den USA nahestehenden Staaten El Salvador, Costa Rica und Honduras unterstützt hätte. Der Gerichtshof ließ diesen Einwand der USA aber nicht gelten, sondern entschied, dass die Unterstützung von Aufständischen nur dann als „bewaffneter Angriff“ i. S. des Art. 51 UN-Charta zu sehen sei, wenn sie in einen anderen Staat entsandt („dispatch“) würden, setzte also strenge Maßstäbe für den „bewaffneten Angriff“.  

Hätte man 2001 die Verstrickung der afghanischen Taliban in die Anschläge der Al Qaida von 9/11 an diesen strengen Maßstäben wirklich gemessen, hätte man das Vorliegen eines bewaffneten Angriffs seitens Afghanistans eigentlich kaum bejahen können. Die Taliban hatten Al Qaida nicht nach New York und Washington „entsandt“.

Wird aber jedwede Form von Unterstützung einer Terrororganisation durch einen Staat schon als „bewaffneter Angriff“ i.S. des Art. 51 UN-Charta bewertet, kann es passieren, dass auch Staaten, denen es nicht hinreichend gelingt, Terroristen unter Kontrolle zu bringen, Ziel der „Selbstverteidigung“ anderer Staaten werden. Was das für die internationale Sicherheit bedeutet, kann man sich ausrechnen.

Präventive Selbstverteidigung?
Ein weiteres Problem, mit welchem das Recht der Selbstverteidigung durch den internationalen Terrorismus und die sog. Schurkenstaaten konfrontiert wurde, ist schließlich die Frage der Prävention: Wie weit muss ein Bedrohungsszenario eigentlich gediehen sein, damit ein Staat sich militärisch zur Wehr setzen darf? Reichen z.B. – wie 2003 im Fall des Irak – auch nicht bewiesene Anhaltspunkte für den Besitz von Massenvernichtungswaffen aus, um einen Krieg unter Berufung auf Art. 51 UN-Charta führen zu dürfen?

Dass präventive Selbstverteidigung nicht gänzlich unzulässig sein kann, weil das sonst dem Aggressor einen unangemessenen militärischen Vorteil einräumen würde, ist eigentlich heute im Völkerrecht weitgehend unumstritten. Um insoweit aber zu einer klaren Grenzziehung zu gelangen, weil es schließlich um die Legitimierung militärischer Gewalt geht, bediente man sich zur Abgrenzung hier bisher der gewohnheitsrechtlichen sog. ‘Caroline’- oder ‘Webster‘-Formel, nach der die Notwendigkeit der Selbstverteidigung ganz und gar offensichtlich – „instant“, „overwhelming“, „leaving no choice of means and no moment for deliberation“ (5) -  zu sein hatte. Mindestens zu Beginn des Irakkrieges 2003 lag eine entsprechende Bedrohungslage jedoch eindeutig nicht vor. Die USA waren jedoch der Meinung, auch so seien ‚pre-emptive strikes‘ zulässig.

Die klassische Selbstvereidigung endet schließlich, wenn der Angriff vorbei oder abgewehrt ist, und sie hat in jedem Fall verhältnismäßig zu sein. Zu weitergehenden militärischen Aktionen ermächtigt sie nicht, insbesondere nicht zu Racheaktionen und auch nicht zur Beseitigung politisch unliebsamer Regierungen oder Staatsoberhäupter. Die Bezeichnung der jeweiligen Militäraktion der USA und ihrer Verbündeten nach 9/11 – ‘operation enduring freedom‘ (Afghanistan) , ‘operation iraqui freedom‘(Irak)  und nicht zuletzt ‘war on terrorism‘ - zeigen deutlich, dass die mit ihnen verfolgten  Ziele von Anfang an viel weiter gesteckt waren.

Möglicherweise haben meine bisherigen Ausführungen Ungeduld und Unwillen ausgelöst: Angesichts der enormen Gefahr, die vom weltweiten Terrorismus ausgehe, dürfe das Völkerrecht nicht zu bedenkenträgerisch, zu kleinlich sein. Recht müsse schließlich „flexibel“ auf die Herausforderungen der modernen Staatengemeinschaft reagieren, sonst werde es nicht mehr ernst genommen.

Nun, dem steht auch nichts im Weg, außer der Friede. Denn es dürfte wohl deutlich geworden sein – man kann das an den beiden Kriegen in Afghanistan und im Irak unmittelbar ablesen - dass, wenn die klassischen Regeln zur Selbstverteidigung wegen des Terrorismus aufgeweicht werden, entsprechend der im Völkerrecht nicht zu leugnenden Tendenzen, dann wird sich die Kriegsgefahr erhöhen. Gerade das wollten die Begründer der UN-Charta, die den Krieg noch aus unmittelbarer schrecklicher Erfahrung kannten, aber verhindern.

Anmerkungen
1 Resolution 1368 v. 12.9.2001 – http:// daccess-dds-ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/N01/533/82/PDF/N0153382.pdf?OpenElement.

2 Resolution 1378 v. 14.11.2001 – http://daccess-dds-ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/N01/638/57/PDF/N0163857.pdf?O....

3 Antonio Cassese, Terrorism  is Also Disrupting Some Crucial Legal Categories of International Law, www.ejil.org/pdfs/12/5/1558.pdf.

4 Urteil v. 27.6.1986; www.icj-cij.org/docket/files/70/6503.pdf.

5 Näheres: H.v.Heinegg, Casebook Völkerrecht, München 2005, Rdnr. 433 ff.

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Prof. Dr. Kristina Bautze ist Hochschullehrerin an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin und lehrt dort in verschiedenen Bereichen des Öffentlichen Rechts.