Den Staatsterrorismus beenden

von Johan GaltungDietrich Fischer
In dem folgenden Beitrag, der ein Jahr nach dem 11. September 2001 geschrieben wurde, als bei den Angriffen auf das World Trade Center und das Pentagon an die dreitausend Zivilisten getötet wurden, und dem Angriff auf Afghanistan am 6. Oktober, bei dem mindestens sechstausend Zivilisten das Leben verloren, fragen die Autoren: Wie können wir aus diesem Teufelskreis ausbrechen? Der Beitrag ist auch heute, nach dem Irakkrieg, weiterhin aktuell.

Einige Tage nach dem 11. September beriet in CNN ein Psychologe Eltern, deren Kinder schwierige Fragen stellten. Ein kleiner Junge hatte gefragt. "Was haben wir getan, dass sie uns so hassen, uns solche Dinge anzutun?" Eine reife Frage, ganz ungleich ihrer Antwort: "Sie können Ihrem Kind sagen, dass es gute Menschen in der Welt gibt und böse." Der Junge hatte das Stadium der Reziprozität auf der Skala der Kindesentwicklung erreicht, die der Psychologe Jean Piaget entwickelt hat. In dieser Phase sehen Kinder die Handlungen der Anderen als zumindest teilweise beeinflusst durch unsere eigenen Handlungen (und umgekehrt). Hingegen blieb die Antwort des Psychologen auf der früheren Phase des Autismus, auf der schlechte Handlungen Anderer als unbeeinflusst durch alles, was wir tun, gelten.

Motivation hilft zu erklären, nicht zu rechtfertigen. Hitlers Erfolg kann erklärt werden durch den demütigenden Versailler Vertrag von 1919, der Deutschland als allein verantwortlich für den Ersten Weltkrieg erklärte und für fünfzig Jahre schwere Reparationen auferlegte. Selbstverständlich kann nichts rechtfertigen, was Hitler tat. Verstehen heißt nicht Vergeben. Aber ohne zu Verstehen sind wir dazu verurteilt, die Geschichte zu wiederholen.

Die US-Medien erwähnen niemals den Staatsterrorismus, der durch die USA gegen andere Länder ausgeübt wird. Seit 1945 haben die USA 67 Mal im Ausland interveniert und verursachten zwölf Millionen Tote, davon ungefähr die Hälfte durch öffentliche Aktion (Pentagon) und die andere Hälfte durch verdeckte (CIA). Dies ist den meisten AmerikanerInnen praktisch unbekannt und wird selten erwähnt, mit den bemerkenswerten Ausnahmen von Chalmers Johnsons Buch "Blowback" und Bill Blums "Rogue State: a Guide to the World`s Only Superpower". Außerdem sterben 100.000 Menschen auf der Welt täglich an Hunger und verhinderbaren Krankheiten in der Mitte von enormem Luxus und Verschwendung.

Die Ziele des Angriffs vom 11. September waren auch symbolisch: das Pentagon und das World Trade Center, die ein System des Welthandels repräsentieren, dass unaussprechlichen Reichtum in der Hand Weniger vereint, während Milliarden in der Dritten Welt verarmen.

Bin Ladens Statement, das von Al Jazira kurz nach dem 11. September ausgestrahlt wurde, sagte: "Unsere Nation hat diese Demütigung und Erniedrigung mehr als 80 Jahre erlebt", wobei er sich auf den Verrat von Sykes-Picot von 1916 bezieht, durch den Arabien unter die Herrschaft von Ungläubigen geriet und das britische Versprechen brach, den arabischen Nationen Unabhängigkeit in Gegenleistung für ihre Hilfe zu geben, das Osmanische Reich zu besiegen und die Balfour Erklärung von 1917, die die Gründung eines jüdischen Staates in Palästina unterstützte.

Terrorismus (ausgeführt von Männern und Frauen ohne Uniform) und Staatsterrorismus (ausgeführt von Männern und Frauen in Uniform, was wenig Unterschied für die Opfer macht) haben die folgenden Merkmale gemeinsam: Sie nutzen Gewalt für politische Zwecke, sie schaden Menschen, die nicht direkt am Kampf beteiligt sind, sie sollen Panik und Terror verbreiten, um eine Kapitulation zu erreichen, sie haben ein Element der Überraschung in Bezug auf das Wo, Wer und Wann und sie machen die Täter nicht erreichbar für Rache oder Unschädlichmachung.

Der Wahhabismus, ein fundamentalistischer Zweig des Islam und Staatsreligion in Saudi Arabien, und der Puritanismus, die bürgerlich-staatsnahe Religion der USA haben einige gemeinsame Kennzeichen: Dualismus (Teilung der Welt in UNS gegen SIE, ohne Neutrale), Manichäismus (WIR sind gut, SIE sind schlecht) und die Unvermeidlichkeit einer Endschlacht, um sie wie Ungeziefer zu "zerdrücken" (Armaggedon). Die strikteren Varianten der drei abrahamitischen Religionen Judaismus, Christentum und Islam teilen auch die Konzepte eines von Gott auserwählten Volkes mit einem Versprochenen Land, eine glorreiche Vergangenheit und/oder Zukunft, und ein Trauma erlebt zu haben. Dies kann sowohl in der Rhetorik von Bush wie von Bin Laden gefunden werden.

Al Quaida und die Wahhabiten sehen die USA als gierig in ihrem Interesse an Öl (Welthandel) und Militärbasen (Pentagon). In der Tat bezogen die USA eine alte sowjetische Basis nahe Kandahar. Am 20. Mai 2002 wurde die Übereinkunft für eine turkmenisch-afghanisch-pakistanische Pipeline durch die beiden Präsidenten und den früheren UNOCAL Berater Hamid Karzai, der jetzt der afghanische Premier ist, unterzeichnet. Die USA bestätigten ihr Image.

Wenn die USA sich auf eine militärische Kampagne beschränkt hätten und das Peacekeeping dem UN-Sicherheitsrat und der Organisation der Islamischen Konferenz überlassen hätten, ohne US-Basen zu errichten, und das Recht auf Ölpipelines dem afghanischen Volk überlassen hätten, hätten sie vielleicht sogar ihren Krieg gewonnen. So haben sie verloren.

Das langfristige Ziel der islamischen Fundamentalisten scheint der Respekt für sensible religiöse Fragen zu sein. Die USA streben freien Handel und militärischen Schutz an. Handel, der den Grundbedürfnissen Priorität einräumt, könnte beides erreichen.

Stellen Sie sich vor, Bush hätte gesagt:

"Amerikanische MitbürgerInnen, der Angriff gestern auf zwei Gebäude, der Tausende tötete, war ungeheuerlich, total unakzeptabel. Die Täter müssen festgenommen und durch ein entsprechendes internationales Gericht zur Verantwortung gezogen werden, wofür es ein klares UN-Mandat bedarf. Aber meine Ansprache heute Nacht geht weiter als dies. Es gibt ernsthafte Mängel in unserer Außenpolitik, so gut diese gemeint ist. Wir schaffen uns Feinde durch unsere Unachtsamkeit gegenüber den Grundbedürfnissen der Menschen auf dem ganzen Globus, inklusive ihrer religiösen Empfindsamkeiten. Ich ergreife deshalb folgende Schritte:

 
    ich ziehe unsere Militärbasen aus Saudi-Arabien zurück
 
 
    ich erkenne Palästina als Staat an (Einzelheiten werden später festgelegt)
 
 
    ich werde mit dem Irak in Dialog treten, um lösbare Konflikte zu identifizieren
 
 
    ich akzeptiere Präsident Khatamis Einladung, dasselbe mit dem Iran zu tun
 
 
    ich ziehe mich militärisch und ökonomisch aus Afghanistan zurück
 
 
    ich stoppe unsere Militärinterventionen und versöhne mich mit den Opfern."
 
 
    An diesem Abend hätten 1,3 Milliarden Muslime die USA umarmt und die wenigen Terroristen hätten kein Wasser mehr gehabt, in dem sie schwimmen könnten. Es hätte einen Rede-Schreiber eine halbe Stunde gekostet, und zehn Minuten, die Rede zu halten - im Vergleich zu vielleicht 60 Milliarden US Dollar für den Afghanistankrieg. Psychologisch wäre dies nicht einfach gewesen, aber der Nutzen unmessbar.

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Johan Galtung, 1930 in Oslo geboren, Professor für Friedensstudien, ist Begründer der Friedensforschung. 1959 gründete er das Internationale Friedensforschungsinstitut in Oslo, und 1964 das Journal of Peace Research. 1993 gründete er Transcend, ein globales Friedens-, Entwicklungs-, und Umweltnetzwerk. Er ist auch Autor des Aachener Friedensmagazins aixpaix.de.
Johan Galtung ist Professor der Friedenswissenschaften und Direktor von Transcend, einem Friedens- und Entwicklungs-Netzwerk. Dietrich Fischer, Professor an der Pace Universität, ist Co-Direktor von Transcend (www.transcend.org). Übersetzung: Redaktion