1648/1998

von Horst-Eberhard Richter
Schwerpunkt
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"Bloßes Lob des Friedens ist einfach, aber wirkungslos. Was wir brauchen, ist aktive Teilnahme am Kampf gegen den Krieg und alles, was zum Kriege führt." Diese Mahnung Albert Einsteins zu bekräftigen und zugleich praktisch zu beherzigen, ist das Thema unseres Kongresses. Zusammenfassend sehe ich vier Aufgaben, die uns gestellt sind.

1. Die erste ist die Selbsterziehung zur Widerstandsfähigkeit.

2. Die zweite Aufgabe heißt: Überwindung einer als Tugend verherrlichten kriegerischen Mentalität.

3. Die dritte lautet: Engagement in praktischer Friedensarbeit.

4. Die vierte vereinigt alle Forderungen an eine friedensschützende Politik wie Abrüstung,
   Vernichtung der atomaren, chemischen und biologischen Waffen, Ausbau eines wirksamen
   internationalen Apparates zur präventiven Konflikt- und Krisenintervention - dies alles mit
   Hilfe einer in ihrer Unabhängigkeit und Handlungsfähigkeit zu stärkenden UNO.

Aber fangen wir bei uns selbst an. Ich nannte als erstes die gemeinsame Selbsterziehung zur Widerstandsfähigkeit. Das ist in der Tat eine große und schwere Aufgabe, liebe Freundinnen und Freunde, zumal für ein Volk mit einer langen Tradition von Autoritätsergebenheit. Denken Sie nur an die Hunderttausende, die in unserem Land und auch in der Nachbarschaft an der Vorbereitung und Durchführung des Holocaust mitgewirkt haben, wohlwissend, daß sie damit ihrem Gewissen zuwiderhandelten. Eine sehr große Zahl von Menschen unterschätzt die eigene Neigung, sich kritiklos anzupassen, wenn sie innerhalb einer sozialen Ordnung durch Widersetzlichkeit und Unbotmäßigkeit ihren Ruf aufs Spiel setzen oder konkrete Nachteile befürchten. Es ist für jede und jeden ein schwieriger, lebenslanger Lernprozeß, in Konfliktfällen die eigene Verantwortung wahrzunehmen, anstatt sie im Zweifel unkritisch an eine höhere Instanz abzutreten, die ihre Anordnungen zu einer unbezweifelbaren Pflicht erklärt. Das Milgram-Experiment der Soziologen, das vielen von Ihnen vertraut sein wird, beweist, daß eine deutliche Mehrheit der Menschen nicht davor zurückschreckt, sogar andere zu foltern, wenn der Befehl von einer vertrauenswürdig erscheinenden Autorität ausgeht. Schlimm genug ist schon diese verbreitete unkritische Gehorsamsbereitschaft. Noch schlimmer ist die Gewohnheit, sie komplett zu verleugnen. Die Nazigeschichte war ein einzigartiger Test, der Massen von Menschen eine moralische Korrumpierbarkeit nachgewiesen hat, die sie bei sich nicht durchschauten.

Albert Einstein, den ich hier als einen der großen Pazifisten öfter in Anspruch nehmen möchte, hat noch wenige Wochen vor seinem Tod 1955 sein Prinzip bekräftigt, das auch in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen anerkannt wurde, nämlich daß das Gewissen des Menschen im Zweifelsfall sogar Vorrang vor den bestehenden Gesetzen haben müsse. Das schrieb er wörtlich: "Ich selbst entscheide als Individuum. Ich denke, dieses soll seinem Gewissen gemäß handeln, auch wenn das zu einem Konflikt mit dem Staatsgesetz führt. Dies soll es nach meiner Ansicht tun, auch wenn es vom Staat dafür legalerweise eine Bestrafung zu erwarten hat." Hinzu fügte er, daß ein solcher Widerstand der Verbesserung von Gesetzen förderlich sei.

Solche Widerständigkeit ist seltener geworden. Ein unsinniges Argument, das nichtsdestoweniger immer wieder viele irritiert, lautet: Die nicht abreißende Kette von Kriegen sei durch die angeborene menschliche Destruktivität verursacht, was den Pazifismus als eine illusionäre Gutmenschen-Schwärmerei entlarve. Aber dagegen hat Erich Fromm in seiner scharfsinnigen Studie "Anatomie der menschlichen Destruktivität" treffend argumentiert: "Die Babylonier, die Griechen und alle Staatsmänner bis in unsere Zeit haben ihre Kriege aus Gründen geplant, die sie für sehr realistisch hielten. Sie hatten dabei mannigfache Motive: Land, das sie kultivieren wollten, Reichtümer, Sklaven, Rohstoffe, Märkte, Expansion - und Verteidigung". Die These von der angeborenen Neigung, Kriege zu führen, sei einfach absurd für jemanden, der auch nur die geringsten geschichtlichen Kenntnisse besitze. Als Beispiel nennt Fromm den Naziüberfall auf Polen, bei dem kaum antipolnische Emotionen in der deutschen Bevölkerung oder in der Armee, geschweige denn Kriegsbegeisterung erkennbar gewesen seien. Um so mehr verweist der Umstand, daß Hitlers Kriegsmaschinerie perfekt funktionierte, auf den Gehorsams-Automatismus, der das System von oben nach unten in Gang bzw. widerstrebende Impulse niederhielt.

Wer immer sich auf die angebliche biologische Unvermeidbarkeit von Kriegen beruft, muß sich den Verdacht gefallen lassen, daß er damit nur eigenes militaristisches Denken oder resignative Passivität zu rationalisieren versucht. Aber beide Motive spielen heute eine bedeutende Rolle, sonst hätten wir hier in Osnabrück noch einen ähnlichen Zulauf wie bei den Veranstaltungen der 80er Jahre. Um so dringlicher ist es, die Erziehung und die Selbsterziehung zur Widerstandsfähigkeit zu stärken - gerade heute, da uns der Wind ins Gesicht bläst und manche ehemalige Gesinnungsfreunde aus der größten Oppositionspartei danach drängen, die Verantwortung des geeinten Deutschlands auch und mit deutlicher Betonung militärisch zu definieren.

Eine zweite Aufgabe besteht, wie gesagt, in der radikalen Abwehr von Leitbildern, die eine kriegerische Mentalität verherrlichen. Auch dies hört sich einfach ein. Indessen dürfen wir uns über die tiefe Verankerung des Mythos nicht hinwegtäuschen, daß sich das Gute in der Welt nur mit kriegerischer Gewalt gegen das Böse behaupten könne. Dieser in uns eingewurzelte Mythos stammt aus früher Zeit, ist in verschiedene Religionen eingedrungen, so daß zum Beispiel noch der vorletzte amerikanische Präsident seine Atomrüstung zur Verteidigung eines heiligen Lichtreiches gegen das kommunistische Reich der Finsternis zu rechtfertigen versuchte.

In meiner Generation wurden die Jugendlichen wie selbstverständlich auf die heroischen Ziele des Militarismus ausgerichtet. Erst im Kriege könne der Mann beweisen, was er wert sei. Wir bekamen in unserer Schulzeit den von unserem Kanzler bewunderten und verehrten kürzlich verstorbenen Ernst Jünger zu lesen, der schrieb: "Der Krieg ist unser Vater, er hat uns gezeugt, im glühenden Schoße der Kampfgräben als ein neues Geschlecht, und wir erkennen mit Stolz unsere Herkunft an". Das klingt in solchem Pathos heute komisch. Aber wenn wir uns in den Fernsehprogrammen umschauen, locken diese uns täglich mit endlosen Variationen jenes Mythos, seien es die Titanenkämpfe des James Bond, seien es apokalyptische Schlachten der Irdischen gegen extraterrestrische Finsterlinge. Überall erstrahlen heldische Lichtgestalten, die mit den Tugenden des militärischen Stärkekults und mit Killerinstinkt das Böse niederzwingen. Im Grunde sind es obsolete archaische Szenarien, die den zentralen Aufgaben, die der moderne Zivilisationsprozeß uns stellt, so unangemessen sind wie nur denkbar.

Dennoch rühren sie an die Seelen vieler männlicher Jugendlicher und von Scharen solcher Männer, die nie ganz erwachsen geworden sind. Der Mythos bewegt jene, die mit ihrem Ödipuskomplex noch nicht fertiggeworden sind oder nie fertig werden, also die Söhne, die im Innern ewig im Kampf mit einem unterdrückenden Vaterbild leben. Die glorifizierten militaristischen Tugenden sind in Wahrheit Projektionen ihrer eigentlichen jugendlichen Unreife. Es ist eine Überkompensation eigener Schwäche- und Minderwertigkeitsgefühle, so als ob diese kränkende Insuffizienz durch Erschießen oder Erschlagen von Gegnern überwunden werden könnte. Eine Regierung, die den militaristischen Heroismus propagiert, paktiert im Grunde mit der kollektiven psychischen Entwicklungsstörung eines Teils der männlichen Jugend bzw. infantil retardierter Älterer.

Aber diese Erkenntnis kann nicht beruhigen, denn die Folgen dieses sozialpsychologischen Defizits sind schwerwiegend. Der pubertäre ödipale Heldenmythos wird dazu ausgenutzt, den Kriegsdienst als Erziehung zur wahren Männlichkeit auszugeben, während es sich in Wahrheit um eine Fixierung auf einem Unreife-Niveau handelt.

Militärische Ausbildung verfolgt zwei Ziele: erstens die Handhabung von Tötungswaffen einzuüben und zweitens die Bereitschaft herzustellen, diese Waffen im Ernstfall auf Befehl automatisch anzuwenden. Dabei muß die in jedem Menschen angelegte und in einem langen Erziehungsprozeß gefestigte Tötungshemmung überwunden werden. Dazu bieten sich zwei Mittel an: 1. Die Benutzung des soeben erläuterten pubertären Heroenmythos. 2. Eine gezielte Umkehr der Moralbegriffe, indem den Rekruten die Schulung an den Tötungsmaschinen als Vorbereitung für die Erfüllung einer allerhöchsten Pflicht im Dienst des Landes verklärt wird. Kriegsdienstverweigerer und Pazifisten werden dementsprechend nicht nur als unmännliche Weicheier und Feiglinge hingestellt, sondern darüber hinaus als unpatriotische egoistische Drückeberger, die andere für sich den Kopf hinhalten lassen.

Aber solche täuschende Propaganda verliert zum Glück allmählich an suggestiver Kraft. Ein Großteil der Jugend hat längst begriffen, daß keines der großen unsere Zukunft bedrohenden Probleme noch mit militärischen Mitteln gelöst werden kann, daß also ganz andere menschliche und auch männliche Tugenden gefragt sind als jene aus der unseligen Ära des kriegerischen Stärkekults, nämlich die Stärkung des Verantwortungssinns, der Fähigkeit zur Solidarität und zur gewaltfreien Überwindung von Konflikten. Das sind Qualitäten auf einer höheren Reifestufe als jene, die zu den unzeitgemäßen pubertären Heroengeschichten passen. Aber es genügt nicht, diese Wahrheit im Kopf zu begreifen. Sie muß offensiv und konfliktbereit nach außen vertreten werden.

Dabei können wir uns eben sehr gut auf jene führenden Geister unseres Jahrhunderts berufen, die der Schuljugend als große humanistische Vorbilder präsentiert zu werden pflegen. Ich nenne wiederum Albert Einstein, Thomas Mann, Sigmund Freud, Stefan Zweig, dazu Romain Roland und Bertrand Russell. Deren Namen stehen unter dem berühmten Manifest von 1930, in dem der Militärausbildung vorgeworfen wird, daß sie ein schweres Verbrechen an der Zukunft sei und daß sie unter dem Vorwand der körperlichen Ertüchtigung den Kriegsgeist verewige.

Es ist geboten, dieses Bekenntnis vieltausendfach öffentlich zu wiederholen und falschen Signalen entgegenzutreten, wie sie der deutsche Verteidigungsminister momentan gerade wieder in Form eines weihevollen öffentlichen Rekrutengelöbnisses in Berlin vorbereitet, so als wäre dies die passende symbolträchtige Ouvertüre für den Einzug der Regierung in die neue Hauptstadt. Das salbungsvolle Zeremoniell der Gelöbnisfeier dient doch zu nichts anderem als zur moralischen Heiligung des militärischen Geistes im provokatorischen Widerspruch zu der Wahrheit, die uns jene großen wegweisenden Humanisten vermittelt haben. Ich plädiere deshalb für eine Unterstützung der Kampagne gegen diese provokative Demonstration.

Damit komme ich zu Punkt drei, zur Praxis der Friedensarbeit.

Mit Phantasie und Einfühlung gilt es, immer wieder neue aufklärerische Protestszenarien zu ersinnen. Verbindliche Rezepte gibt es nicht. Niemand hätte wohl vorauszusagen gewagt, was Wolfgang Sternstein mit seinen 15 Mitstreitern am Antikriegstag 1996 durch seine Stuttgarter "Entzäunungsaktion" gelungen ist, nämlich einen Prozeß auszulösen, der nun unser allerhöchstes Gericht darüber zu entscheiden nötigt, ob Atomwaffen mit dem Völkerrecht vereinbar sind. (vgl. Beitrag von W. Sternstein Seite ???)

Wie immer der Prozeß ausgehen wird, er wird mit Sicherheit die allgemeine Verdrängung der nach wie vor bestehenden Atomkriegsdrohung durchbrechen. Und dies also als Folge einer pazifistischen Widerstandshandlung von ganzen 16 Personen.

Außer solchen aufklärerischen Antiaktionen hat unser Kongreß zu Recht sogenannte Pro-Aktivitäten in den Vordergrund gerückt, denn der Pazifismus ist ja von seinem Ursprung her auf positive Güter ausgerichtet, auf Schutz des Lebens, auf Völkerverständigung, auf friedliche Konfliktbereinigung, auf Versöhnung, auf Organisation des Friedens.

Indessen müssen wir uns darüber im klaren sein, daß wir uns mit unseren pazifistischen Pro- und Anti-Aktionen in einer Gesellschaft bewegen, deren Zustand und deren Zeitgeist darüber wesentlich mitentscheiden, wie unsere Bemühungen durchschlagen. Inzwischen hat sich ein ultrakapitalistisches System verfestigt, das mit einer geradezu unheimlichen Zielstrebigkeit auf die Abspaltung einer verarmenden Mehrheit von einer die eigene Macht stetig erweiternden Wohlstandsminderheit zustrebt. Es ist eine Entwicklung, die, wenn ihr nicht Schranken gewiesen werden, eher entsolidarisierende Motive wie Haß, Korruptionsbereitschaft oder resignative Apathie fördert. Pazifismus kann indessen nur in einer Gesellschaft erstarken, die daran glaubt, daß sie es schafft, antisoziale Rücksichtslosigkeit zu bändigen, die Armutskluft abzubauen und die technischen Zerstörung der natürlichen Lebensbedingungen zu stoppen. Sonst wuchern automatisch Gegenkräfte des Pazifismus wie projektiver Aufbau von Feindbildern, Fremdenhaß und Gewaltbereitschaft.

Kurz: Pazifismus wird zu einer unverbindlichen Utopie, wenn er sich nicht mit gesellschaftspolitischem Engagement verbindet. Er verschwindet sonst in dem Feuilletonteil der Zeitungen als eine allenfalls liebenswürdige abgehobene Subkultur von Gesinnungsmoralisten. Praktische Friedensarbeit heißt also auch praktische Einmischung in eine Politik, die soziale Ungerechtigkeiten und Spaltungen vertieft, Ausländer stigmatisiert und Flüchtlingen das

Existenzminimum verweigert. Mit anderen Worten: Pazifismus muß sich um ein politisches Fundament kümmern, das auf das Lernziel Solidarität ausgerichtet ist. Es ist sein vitales Interesse, sich mit allen Kräften zu verbünden, die ein solches Fundament stärken wollen.

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Horst-Eberhard Richter ist Psychoanalytiker und Mitbegründer der IPPNW Deutschlands.