Arbeitsverweigerung aus Gewissensgründen

von Gregor Witt

Vor einigen Monaten wies das Landesarbeitsgericht Düsseldorf die Kündigungsschutzklage zweier Ärztinnen gegen die Neusser Tochter des britischen Pharmakonzerns Beecham-Wülfing ab. Bedeutsam ist an diesem Gerichtsstreit nicht allein das Schicksal der unmittelbar Betroffenen. In dem Prozeß geht es um die Frage, ob ein/e Forscherin ein Gewissen haben und demgemäß handeln darf;

Seit einigen Jahren entwickelt Beecham-Wülfing das Medikament BRL 43694. Zunächst schien es sich vor allem um ein Mittel gegen Übelkeit bei bestimmten Krebstherapien zu handeln. Gleichzeitig ist es aber auch ein Mittel, mit dem im Falle eines Atomkrieges die tödlichen Folgen von Strahlenbelastungen hinauszögert und dadurch Soldaten ein paar Stunden länger kampffähig gehalten werden könnten. Anhand firmeneigener Dokumente und in Gesprächen stellten die beteiligten Ärztinnen bald auch fest, daß der Pharmakonzern diese militärische Verwendbarkeit mit im Auge  hat. In . einem ersten Forschungsbericht der Firma wird unter anderem . ausgeführt: "Falls sich die Strahlenkrankheit; hervorgeruf) en durch die Strahlentherapie des Krebses oder als Folge eines Nuklearkrieges, durch einen 5-HT-Rezeptor-Antagonisten als behandelbar oder verhütbar erweisen sollte, würde das Marktpotential für solch eine Substanz signifikant erhöht werden." An anderer Stelle wird von einem "riesigen Markt bei Nato-Soldaten" gesprochen. Prompt erhielt die weitere Entwicklung der Substanz oberste Priorität.

Daraufhin meldeten die forschenden Ärztinnen Bedenken an. Der stellvertretende Forschungsleiter des Konzerns, Bernd Richter, erkannte die gefährliche Wirkung des Medikaments darin, "daß es die psychologische Hemmschwelle in puncto eines Nuklearkrieges herabsetzt, weil den Soldaten vorgemacht  werden kann, daß eine Hilfe im Nuklearkrieg für sie möglich wäre. De facto bedeutet das aber bloß, daß die Leute vielleicht zwei Stunden oder zwei Tage länger überleben und dann zum Tode verurteilt sind." Er und seine Kolleginnen Brigitte Ludwig und Norbert Neumann verweigerten Ende April 1987 aus Gewissensgründen ihre weitere Mitarbeit an dem Mittel, weil  sie kein Mittel erforschen helfen wollen, dessen Anwendung den Sinn ihrer ärztlichen Tuns pervertiert. Ihr Arbeitgeber war jedoch nicht bereit, sie bei anderen Forschungsaufgaben einzusetzen; sondern reagierte mit  Kündigung bzw. in einem Fall mit Nichteinstellung. Die dann von Richter und Ludwig erhobene Kündigungsschutzklage ist von den Arbeitsgerichten sowohl in erster als auch in zweiter Instanz abgewiesen worden.
Das Gerichtsurteil
Die Ärztlnnen beriefen sich vor Gericht auf das Grundrecht der Gewissensfreiheit. Sie könnten es nicht mit ihrem Gew.issen 'vereinbaren, an der Erforschung eines Mittels mitzuarbeiten, das unter Umständen den Sinn ihrer ärztlichen Tätigkeit, Leben zu erhalten und ihre Arbeit in den Dienst der Menschlichkeit zu stellen, pervertieren würde. Das Landesarbeitsgericht in Düsseldorf gab jedoch wie die erste Instanz dem Konzern recht. Drei Urteilsgründe sind in diesem Zusammenhang bemerkenswert:
- 1. meint das LAG, individuelle Gewissensentscheidungen' einer vermeintlich objektiven Prüfung unterziehen zu können. Dabei geht es davon aus, der Gewissenszwang müsse einen gewissen "Mindestrang" erreichen, damit eine Gewissensentscheidung anzuerkennen ist, weil nicht jede Gewissensnot zur Leistungsverweigerung berechtige. Als Maßstab legt das Gericht "die Sicht eines außenstehenden Dritten" an, dessen das Gericht dann selbst einnimmt. Das LAG hält es weder für realistisch zu glauben, ein Atomkrieg sei wahrscheinlich, noch daß ein Medikament zur Unterdrückung von Symptomen nuklearer Verstrahlung geeignet sei, Überlegungen im Hinblick auf die Führung eines nuklearen Krieges zu fördern.

Ähnlich wie bei der Gewissensinquisition für Kriegsdienstverweigerer nach Artikel 4,3 Grundgesetz maßt sich das Gericht hier an, Gewissensentscheidungen, die ihrem Wesen nach individuell sind, nachzuprüfen. Es macht seine Sicht der Realität zum Kriterium dafür, ob die Betroffenen in einem Gewissenskonflikt stecken, statt zu akzeptieren, daß die Ärztlnnen wie viele andere in der Friedensbewegung - sensibel auf jede Verharmlosung von Atomkriegsgefahren reagieren, und sich deshalb nicht an dafür geeigneten Projekten beteiligen wollen.
2.    reduziert das LAG die Verantwortung der Betroffener auf ihren unmittelbaren Tätigkeitsbereich. Es behauptet, von den Arztlnnen werde nicht verlangt; sich mit den verschiedenen Einsatzmöglichkeiten ihres Forschungsergebnisses zu identifizieren. Ihr Forschungsbeitrag sei 'wenneutral" und im Rahmen der Gesamtforschung und einer möglichen Anwendung zu gering. Zudem fehle "auch die Nähe zu denjenigen: die über die Anwendung des fertigen Produkts entscheiden."

Indem eine vermeintlich unbeachtliche Teil- Verantwortung konstruiert wird, argumentiert das lAG genau für jenen blinden Gehorsam, jenes "sich nicht verantwortlich fühlen", durch das Mitläufertum vieler Menschen, während des deutschen Faschismus möglich wurde. Und es ignoriert die Auseinandersetzung der Wissenschaftlerinnen um ihre Verantwortung im Beruf, die gerade daran ansetzt, daß es keine "wertneutrale" Wissenschaft gibt, weshalb sich die Wissenschaftlerinnen auch um die Anwendung ihrer Forschungsergebnisse zu kümmern haben.
3.ordnet das lAG das Grundrecht der Gewissensfreiheit dem Konzerninteresse an einem profitträchtigen Produkt unter. Nach Ansicht des Gerichts sei bei Anerkennung des Gewissenskonflikts in diesem Fall damit zu rechnen, daß sich künftig auch andere Arzte in vergleichbaren Situationen auf einen Gewissenskonflikt berufen. Das könne für den beklagten Konzern "zu unzumutbaren Schwierigkeiten führen".

Erneut ist die Parallele zur Kriegsdienstverweigerung unverkennbar. Hier wie dort soll die. Gewissensfreiheit nur solange gelten, wie es individuelle Ausnahme bleibt. Sobald sich eine größere Personengruppe darauf beruft, werden "übergeordnete Interessen" ins Feld geführt - in diesem Fall das Profitinteresse des Konzerns, bei der Kriegsdienstverweigerung die "Funktionsfähigkeit der Bundeswehr".

Die moralisch-ethische Seite
Die Neusser Ärztinnen haben die im hippokratischen Eid und in Berufsordnungen formulierte ärztliche Ethik zum konkreten Maßstab ihres Handelns gemacht. Damit riskierten sie sehenden Auges den Verlust ihrer hoch bezahlten Arbeitsplätze - was dann auch eintrat. Dennoch machten sie keine Rückzieher, sondern gewichten weiterhin ihre moralisch konsequente Haltung. höher als die persönliche Karriere. So erklärt z.B. Bernd Richter zu seiner Entscheidung, ihm gehe es mit seinem Schritt um eine "Ethik der Verantwortung', die "eine neue Art von Bewußtsein erfordert, die sich nicht nurin der Medizin, sondern generel den Forschungsbereichen ausbreiten muß". Ethisch motiviertes Handeln begreift Richter im Unterschied zu häufig vertretenen Moralauffassungen nicht als "unpolitisch". Im Gegenteil lassen sich seiner Meinung nach Ethik Und Politik nicht trennen, ethische Verpflichtung für das Leben ist für ihn auch eine politische Aufgabe. Richter und seine Kolleglnnen zählen zu dieser Ethik, im eigenen Verantwortungsbereich sensibel für alles zu sein, was in Richtung Rüstung gehen könnte und auch mit persönlichen Konsequenzen dagegen anzugehen. Noch einmal Richten- "Jeder Mediziner wäre im Falle eines Nuklearkrieges hilflos und wir müssen auch der kleinsten, der allerkleinsten Regung in dieser Hinsicht entgegentreten, wenn wir sie überhaupt bemerken," Das ist ein ethisch-politischer Anspruch, über den sich in vielen anderen Forschungs, Entwicklungs- und Produktionsbereichen nachzudenken lohnt!

Entscheidungen mit Politischer Brisanz
Das Gericht - Und damit widerspiegelt es die (noch) vorherrschende Denkweise - wertet die Funktionsfähigkeit eines Konzerns höher als das Gewissen des Einzelnen. Das Problem läßt sich verallgemeinern: was wäre, wenn sich alle, die Rüstung für unverantwortlich halten, nicht mehr an entsprechenden Tätigkeiten beteiligen? Was wäre, Wenn jede/r bei all ihrem/seinem Tun zunächst fragt, ist das verantwortbar, hilft oder schadet es dem Menschen? "Anarchie!",. hören wir schon die ängstlichen Kleinbürger und staatstragenden Parteien rufen,

Den Ausstieg aus dem Wahnsinn der Aufrüstung, der Umweltzerstörung, des Wachstums um jeden Preis wird es ganz sicher nicht geben; solange Verantwortung an Leute delegiert wird, die i6re Moral morgens mit den Hausschuhen abstreifen. Das mag zum parlamentarischen Demokratismus gehören, mit lebendiger Demokratie hat das nichts zu tun. Mit der von ihnen praktizierten. "Ethik der Verantwortung" haben die Neusser Ärztinnen den Anspruch auf eine politische Kultur erhoben, die Verantwortung und Moral nicht privatisiert, sondern zu politischen Kategorien werden läßt.

Die Neusser Ärztinnen haben Revision beim Bundesarbeitsgericht (BAG) eingelegt, der erste Verhandlungstag ist dort am 9. Februar 1989. Ob sie dort Recht bekommen, ist ungewiß. Aber selbst wenn das BAG gegen das Recht. auf Arbeitsverweigerung aus Gewissensgründen entschei-den sollte, ist das nicht zuallererst maßgeblich. Viel bedeutsamer wird sein, wie die Diskussion über Verantwortung im Beruf weitergeführt wird und ob viele Menschen die daraus resultierenden Gewissensentscheidungen zur Grundlage ihres Handeln machen.
 

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