Brexit

Bratislava-Agenda: EU-Rüstungsschub nach dem Brexit

Nach dem Brexit-Votum soll als wesentliches Projekt zur Revitalisierung der EU ausgerechnet der jahrelang nur stockend vorangekommene Ausbau des Militärapparates vorangetrieben werden. Schließlich hatte sich Großbritannien diesbezüglich bislang immer als der entscheidende Stolperstein erwiesen. Teils hat es regelrecht den Anschein, als hätten viele nur darauf gewartet, die sich hierdurch bietende Möglichkeit beim Schopfe packen zu können.

Die „Geburtstunde“ der Militarisierung der Europäischen Union schlug auf den Ratsgipfeln in Köln und Helsinki im Jahr 1999. Dort wurde beschlossen, eine Schnelle Eingreiftruppe aufzustellen. Auch danach entwickelte sich das Projekt „Militärmacht EUropa“, in den Worten des damaligen EU-Außenbeauftragten Javier Solana, mit „Lichtgeschwindigkeit“: Die Einrichtung eines Militärausschusses und anderer für die Kriegsplanung relevanter Institutionen folgte im Jahr 2000, und 2003 wurde eine „Europäische Sicherheitsstrategie“ verabschiedet, mit der die Interventionsausrichtung der Union ein  festes Rahmenwerk erhielt. Erste GSVP-Einsätze folgten noch im selben Jahr.

Doch dann geriet das Militarisierungsprojekt ganz erheblich ins Stocken, was zunächst mit dem Scheitern des ebenfalls 2003 verabschiedeten EU-Verfassungsvertrages bei den Referenden in Frankreich und den Niederlanden 2005 zusammenhing.  Als der Verfassungsvertrag schlussendlich mit viel Tricksereien doch noch nahezu unverändert durchgedrückt werden konnte und am 1. Dezember 2009 als Vertrag von Lissabon in Kraft trat, blieben die Ergebnisse weit hinter den Erwartungen zurück.Großbritannien verhinderte die Umsetzung der wichtigsten Passagen des Vertrages vorwiegend aus Sorge um die Eigenständigkeit seiner Militärpolitik.

Dies erklärt auch, weshalb so mancher Militarisierungsbefürworter seine Freude über den anstehenden britischen EU-Austritt kaum verbergen kann. Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Europaparlaments, Elmar Brok, zum Beispiel scheint den Briten keine Träne nachzuweinen: „„Jahrelang haben uns die Briten aufgehalten. Jetzt geht es endlich voran.“ (1)

Deutsch-französische Führungsrolle
Bereits wenige Tage nach dem britischen Referendum am 23. Juni 2016 veröffentlichten die Außenminister Deutschlands und Frankreichs, Frank-Walter Steinmeier und Jean-Marc Ayrault, das offensichtlich lange vorher erarbeitete Papier „Ein starkes Europa in einer unsicheren Welt“. In ihm wurde nicht nur die Umsetzung seit Jahren in der Pipeline befindlicher Militärprojekte, sondern auch eine diesbezügliche deutsch-französische Führungsrolle gefordert: „In einem stärker von divergierenden  Machtinteressen  geprägten internationalen Umfeld sollten Deutschland  und Frankreich gemeinsam dafür eintreten, die EU Schritt für Schritt zu einem unabhängigen und globalen Akteur zu entwickeln.“ (2)

Nach der Sommerpause war es dann zuerst die Außenbeauftragte Mogherini, die am 8. September 2016 einen Forderungskatalog vorlegte, der unter anderem die Aufstellung eines EU-Hauptquartiers enthielt. (3) Nur wenige Tage später, am 12. September 2016, legten dann die VerteidigungsministerInnen von der Leyen und Le Drian mit dem Papier „Erneuerung der GSVP“ nach. Auch darin fand sich die Forderung, den Brexit nun für den großen Militarisierungssprung nach vorne zu nutzen: „Unter der Prämisse der Entscheidung des Vereinten Königreichs, die Europäische Union zu verlassen, ist es nun unser Ziel, zu 27 weiter voranzuschreiten.“ (4) Die Gesamtheit der Vorschläge wurde von der Süddeutschen Zeitung folgendermaßen zusammengefasst: „Im Zentrum stehen Vorschläge für ein gemeinsames und permanentes EU-Militärhauptquartier. Bisher werden EU-Einsätze mit rotierender Zuständigkeit geführt. […] Von besonderer Bedeutung sind auch neue Verfahrenswege. So soll der bisher ungenutzte Artikel 44 des Lissabonvertrags der EU aktiviert werden. Er erlaubt Mitgliedsstaaten, dass sie in unterschiedlicher Geschwindigkeit die Zusammenarbeit vorantreiben, auch ohne dass Einstimmigkeit herrscht. Bisher wurde auf diese Bestimmung aus Rücksicht auf Großbritannien verzichtet. Die deutsch-französische Initiative sieht außerdem eine Synchronisierung der Haushaltsplanung vor, eine gleiche Lastenverteilung bei Einsätzen, einen EU-Forschungshaushalt für technologische Aspekte der Rüstungsentwicklung und auch mehr Zusammenarbeit bei der Beschaffung von Ausrüstung.“ (5)

„Härte zeigen“
Am 14. September 2016 griff EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker in seiner Rede zur Lage der Union den Großteil der bereits kursierenden Vorschläge noch einmal auf und fügte zu allem Überfluss auch noch eigene hinzu. Unangenehm aufgefallen ist dabei neben der Forderung nach einer nochmaligen Verschärfung der Abschottungspolitik gegenüber Flüchtlingen vor allem auch der militaristische Ton, den der Kommissionspräsident insgesamt anschlug: „Mit zunehmenden Gefahren um uns herum reicht Soft Power allein nicht mehr aus. […] Europa muss mehr Härte zeigen. Dies gilt vor allem in unserer Verteidigungspolitik. Europa kann es sich nicht mehr leisten, militärisch im Windschatten anderer Mächte zu segeln oder Frankreich in Mali allein zu lassen. Wir müssen die Verantwortung dafür übernehmen, unsere Interessen und die europäische Art zu leben zu verteidigen.“ (6)

Konkret forderte Juncker u.a. eine profiliertere EU-Rolle in Krisengebieten, ein EU-Hauptquartier für mehr Militäreinsätze, EU-eigene militärische Fähigkeiten und die Nutzung der im Vertrag von Lissabon vereinbarten „Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit“, um ein militärisches Kerneuropa zu schaffen. Christian Mölling von der „Stiftung Wissenschaft und Politik“ schrieb zu Letzterem: „Dahinter steht die Idee, einen exklusiven Club jener zu etablieren, die im EU-Verteidigungssektor mehr tun können und wollen. Umgekehrt macht ein solcher Club durch ‚naming and shaming‘ auch transparent, welche Mitgliedsstaaten weniger leisten.“ (7)

EU-Rüstungsgelder
Zu schlechterletzt widmet sich Juncker auch noch der Frage, wie das ganze militärische Wunschkonzert finanziert werden soll. Das Interesse, sich hierfür aus dem EU-Haushalt bedienen zu können, liegt in diesem Zusammenhang nahe. Allerdings waren solchen Vorhaben bis vor Kurzem enge Grenzen gesetzt, was mit der lange vorherrschenden Interpretation von Artikel 41, Absatz 2 des Lissabon-Vertrags zusammenhängt, in dem es heißt: „Die operativen Ausgaben im Zusammenhang mit der Durchführung dieses Kapitels gehen ebenfalls zulasten des Haushalts der Union, mit Ausnahme der Ausgaben aufgrund von Maßnahmen mit militärischen oder verteidigungspolitischen Bezügen.“

Lange wurde die Passage mehrheitlich so interpretiert, als sei es kategorisch verboten, jede Art militärrelevanter Ausgaben aus dem EU-Haushalt zu bestreiten. Inzwischen scheint sich aber eine neue Auslegung durchzusetzen, derzufolge sich dieser Finanzierungsvorbehalt nur auf direkte Militäreinsätze beziehen soll und für alles andere darum herum durchaus das EU-Budget geschröpft werden könnte. Als „Meilenstein“ (Handelsblatt) wurde hier die Einrichtung einer ab 2017 startenden vorbereitenden Maßnahme zur EU-Rüstungsforschung gefeiert. Sie soll der Aufstellung eines stehenden EU-Rüstungsforschungshaushalts ab 2021 den Weg ebnen – so war zumindest bislang der Plan. In seiner Rede zur Lage der Europäischen Union kündigte Kommissionspräsident Juncker nun aber an, diesen Zeitplan deutlich vorziehen und womöglich sogar ausweiten zu wollen: „Eine starke europäische Verteidigung braucht eine innovative europäische Rüstungsindustrie. Deshalb werden wir noch vor Jahresende einen Europäischen Verteidigungsfonds vorschlagen, der unserer Forschung und Innovation einen kräftigen Schub verleiht.“

Militarisierungsfahrplan
Der Zeitplan, den von der Leyen und Drian sowie Juncker gewählt hatten, war natürlich nicht von ungefähr unmittelbar vor dem informellen Treffen der Staats- und Regierungschefs in Bratislawa am 17. September 2016 gewählt. Ihre Forderungspakete dienten dort als „Blaupausen“, an denen sich die Diskussion orientierte, so die österreichische Presse. Die Zeitung beschrieb auch, dass auf dem Gipfel ein konkreter Fahrplan vereinbart wurde, in dem nun die Militarisierungsagenda ganz konkret ausgearbeitet werden soll. Dieser Reform-Reigen hat drei Etappen: Auf die regulären Gipfel im Oktober und Dezember folgt im Februar 2017 ein informelles Treffen der EU-27 in Maltas Hauptstadt Valletta. Und pünktlich zum 60. Jahrestag der Römischen Verträge, dem Grundstein der heutigen EU, soll bei einem weiteren Treffen in Rom im März eine konkrete Reformliste vorliegen – wobei es laut Merkel nicht um ‚große Erklärungen oder Vertragsänderungen’ gehen werde, sondern um konkrete, umsetzbare Maßnahmen“ (8).

Auch wenn sicherlich nicht friedenspolitisch motiviert, scheint aber auf die Briten vorläufig in Fragen der EU-Militarisierung noch Verlass zu sein. So gab der britische Verteidigungsminister Michael Fallon gegenüber der Times an, während des gesamten Zeitraums des Austrittprozesses, dessen Dauer auf zwei Jahre geschätzt wird, werde Großbritannien die Umsetzung der „Bratislava-Agenda“ blockieren. Zu deren Umsetzung gab er knapp an: „Das wird nicht passieren!“ (9) Es ist allerdings zweifelhaft, ob sich die restlichen EU-Staaten tatsächlich weiter von Großbritannien blockieren lassen werden. Außenamtssprecher Martin Schäfer jedenfalls machte keinen Hehl aus seiner Meinung zu den britischen Ankündigungen: „Aber um das vielleicht noch einmal vonseiten des Auswärtigen Amtes zu sagen: Eine Situation, in der jemand austreten will und entschieden hat auszutreten, aber vor dem Austreten noch einmal die anderen davon abhalten möchte, Dinge zu tun, die die aber tun wollen, ist eine schwer vorstellbare Situation. Ich möchte mir gar nicht vorstellen, dass das wirklich so kommt.“ (10)

 

Anmerkungen
1 Deutsch-französische Strategie zur Verteidigungspolitik, Deutschlandfunk, 13.09.2016.

2  Ayrault, Jean-Marc/Steinmeier, Frank-Walter: Ein starkes Europa in einer unsicheren Welt, Stand 27.06.2016

3  EU foreign policy chief wants Brussels military HQ, AFP, 08.08.2016

4 Erneuerung der GSVP, Berlin, 12.09.2016.

5 Deutschland und Frankreich wollen Verteidigungspolitik der EU reformieren, Süddeutsche Zeitung, 09.09.2016.

6 Rede zur Lage der Union: Hin zu einem besseren Europa – Einem Europa, das schützt, stärkt und verteidigt, Straßburg, 14.09.2016.

7 Mölling, Christian: Ständige Strukturierte Zusammenarbeit in der EU-Sicherheitspolitik, SWP-Aktuell 13, Februar 2010, S. 2.

8 EU-Sondergipfel "erfolglos": Bratislava legt Spaltung offen, Die Presse, 16.09.2016.

9 UK to veto EU 'defence union', ,euobserver 17.09.2016

10 EU-Verteidigungsminister in Bratislava: UK vs. DEU/FRAU, augengeradeaus, 27.09.2016.

 

Der Text wurde folgender Quelle entnommen und von der Redaktion gekürzt: IMI-Analyse 2016/34 (Update: 29.9.2016) - in: AUSDRUCK (Oktober 2016).

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