Die Anfänge der BRD:

Braune Kontinuitäten – verpasste Lernchancen

von Wolf-Dieter Narr

Am Anfang der Bundesrepublik Deutschland, genauer, vorinstitutionell in ihrer Inkubationsphase 1945 - 1949, stand die „Bedingungslose Niederlage“. Diesem Anfang wohnte kein Zauber inne. Freilich gilt allgemein und insbesondere für diejenigen, die von der nationalsozialistischen Herrschaft über den letzten Tag hinaus zu Tode drangsaliert wurden: Der 8. Mai 1945 war und bleibt ein Tag der Befreiung. Er rettete noch nicht gemordetes Leben.

Indem alle nazistisch deutsch geltenden Kontinuitäten abgebrochen oder unter den Vorbehalt der vier kriegsalliierten Besatzungsmächte gestellt wurden, waren Raum und Zeit, frei zu lernen. Das ist es, was Menschen individuell und kollektiv auszeichnet: aus eigenen und anderen Vergangenheiten, aus alten Blockaden heraustreten und sich im Kontext neuer Umstände ändern zu können. Vergangene Taten, wahrgenommen, können dazu befähigen, menschliches Zusammenleben freier, friedvoller, gleicher, inmitten bleibender Schwierigkeiten und Konflikte freudvoller zu gestalten. Freilich nicht mühelos: das drückende, das allemal widerspenstige Aber bleibt.

„Die Unfähigkeit zu trauern“ in der Fülle der Hemmnisse und Verlockungen
Schatten der nahen Vergangenheit überlagerten den neuen Tag. Die deutsche Bevölkerung war mit eher raren Ausnahmen im Sinn nationalsozialistischer Herrschaft und ihrer Vorgeschichte ´vermasst´ worden. Darum galt Alexander und Margarete Mitscherlichs, 1967 zuerst in Buchform publizierte Feststellung über die Nachnationalsozialismus-Deutschen: ihre „Unfähigkeit zu trauern“. Nicht primär psychoanalytisch verstanden bedeutet sie, dass die Mehrheit der Deutschen nicht ins Schreckensloch der jüngsten Vergangenheit zu sehen wagte; dass sie ihren eigenen Anteil verleugnete, und sei es im schieren Mitlaufen; dass sie - auch darum vorstellungsarm - die Chance nicht ergriff, das eigene Leben individuell und politisch so zu gestalten, einen humanen Abgrund in gegründeter innerer und äußerer Friedensverfassung auszuschließen.

Wenige Gründe seien genannt, die das bundesdeutsche Verhaltensdoppel erhellen. Es bestimmte die Bundesrepublik bis tief in die sechziger Jahre. Es deckt Vorurteile auf, die gegenwärtige Grenzen friedenserpichter Innen- und Außenpolitik markieren. Die Deutsche Demokratische Republik (DDR), parallel zur BRD entstanden, 1990 mit ihr ´wieder´- vereinigt, lasse ich der Kürze halber aus dem Argumentationsspiel. Nur so viel: in ihr bestanden aus besatzungs- und weltpolitischen Gründen ungleich schlechtere Bedingungen, die ererbten Verhaltensfesseln zu lockern, um sich von ihnen teilweise zu befreien. Autoritärem, nazistisch verschärften Zwang folgte ein neuer. Nur durch wenige, eher verkündete, also bald täuschende Lichtflecken gemildert, wurde die schier prozesslose Einigung 1990 im Sinne der „freiheitlichen demokratischen (und kapitalistischen) Grundordnung“ in westdeutscher Atemlosigkeit aufgeherrscht. Sie wurde nicht demokratisch arrangiert. Negativen Folgen dauern scheinrätselhaft an.

Das verkürzte Verhaltensdoppel bestand zum einen aus dem „restaurativen Geist der Epoche“. In der BRD wurde er durch ein durchgängiges „Wieder“ signalisiert: vom Sich-wieder-benehmen über den Wiederaufbau, dem Wieder- eine Position-gewinnen, der Wiederaufrüstung bis zur vergleichsweise späten Wiedervereinigung und dem ihr 1999 folgenden Wieder-sich-als Mitmilitärmacht an einem Krieg beteiligen zu können. Das Verhalten wurde zum Doppel durch den seit dem Koreaboom rasanten ökonomischen Wieder-aufstieg und einer damit bis Mitte der siebziger Jahre möglichen materiellen Absorption fast aller potentiellen Probleme.

Die erste und anhaltende Erinnerungs- und mit ihr verbundenen Erneuerungsblockade bestand im Überlebens-, ja im Rettungswillen inmitten einer anfänglich überaus prekären Situation. Diesem, wie man so sagt, menschlich verständlichen millionenbesonderten und zugleich allgemeinen Drang folgte bald die oben gestreifte Wieder-Sequenz. Sie wurde durch das gefördert, was Hermann Lübbe Mitte der 80er Jahre das (notwendige und bundesrepublikanisch angeblich förderliche) „Beschweigen“ genannt hat. Individuell und kollektiv weilte man im abgekappten und wegrationalisierten Untergrund neben dem paradox hektischen Trieb, sich wieder und neu zu etablieren. Genauer: damit man sich wieder (!) etabliere. Die Kette der Rationalisierungen, die Peter Weiss Mitte der 60er Jahre am Exempel des Auschwitzprozesses in seiner immer erneut phantasievoll zu lesenden oder zu erinnernden „Ermittlung“ aufgereiht hat, sie galt nicht ‚nur‘ für brutale Todeslager-Exekuteure. Sie umfasste, wie es Christopher Browning für das von ihm untersuchte Hamburger Polizeibatallion 101 im Einsatz der „Judenvernichtung“ festgestellt hat, „ordinary men“, sprich Deutsche wie dich und mich, wenn nicht dich und mich. Der Weg zurück zur „Normalität“ wurde gegangen, ohne zu fragen und zu zagen, welche Normalität dem Versprechen angemessen sei, „Nie Wieder!“. Dieses Versprechen hatten sich freilich fast nur überlebende KZ-Insassinnen und Insassen gegeben. Er wurde erleichtert – kaum stark genug hervorzuheben - durch die deutsche Freiräume rasch erweiternde vor allem amerikanisch zugleich bis zur Schulspeisung ungemein großzügige Besatzungspolitik. Sie wurde auch motiviert und zum ersten Grund, einen westdeutschen Staat zu initiieren, die BRD von 1949 ff., durch den immer wärmeren Kalten Krieg zwischen den ehemaligen Alliierten. Der schier grenzenlose Antikommunismus, in den er westwärts gebettet gewesen ist, konnte westdeutsch fast wundersam im Sinne ungebrochener Tradition mitten aus dem Herzen nationalsozialistischer Politik aufgegriffen werden. Der ideologische, also nicht auf eindeutige Gegnerschaft gegen den stalinistischen Kommunismus und seine Schreckensperversionen gerichtete Antikommunismus wurde schon vor Beginn der BRD zu einer der tragenden habituellen Säulen. Nur so erklärt sich das demokratisch von Beginn an magersüchtige Grundgesetz. Nur so die ins Grundgesetz eingelassene „streitbare“ oder „abwehrbereite“ Demokratie. Sie erlaubt bis 2012 (und in saecula saeculorum), Demokratie und mangelhaft sozial begründete Grundrechte mit der verdinglichten Formel im Jargon der Eigentlichkeit „freiheitliche demokratische Grundordnung“ angeblich verfassungsschützerisch, der Sache nach vor- oder nachdemokratisch staatsschützerisch auszuhebeln. Und das oftmals grundrechtlich rettende Bundesverfassungsgericht hat sie nicht nur in seinen Parteiverbotsurteilen 1952 und 1956 wie eine Knetmasse zusätzlich ‚auf ewig‘ begründet. Es benutzt diesen Unbegriff, trocken geworden, ohne Revision, um immer erneut Staatssicherheit aus allen grundrechtlich demokratischen Fugen geraten zu lassen. Der Antikommunismus und seine rechtwidrigen Folgefüllsel à la „Antiterrorismus“ und „Antiislamismus“ – Fortsetzung garantiert – sind es denn auch, die noch vor der Besatzungslizenz, sich im mütterlichen Schoß der Nato zu remilitarisieren, die Ersatzarmee des Bundesgrenzschutzes, das politisch leicht entbräunte Strafrecht von 1953 und eine immer fungiblen inneren Feindpauschale erlaubten. Er hindert im gleitenden Übergang zum „Äußeren“ bis heute das, was der „Konsens der Demokraten“ und das „Bündnis für Toleranz“ unablässig repressiv mit überfließendem Mund behaupten.

Wenig gelernt
Spielen denn in der Zeit deutscher Vormacht im rundum demokratisierten Europa die kargen Anfänge der großen bundesdeutschen, von allen Parteien, Parlamenten und Regierungen betriebenen Wasch-, Glättungs-, Stärkungs- und Bügelanstalt eine Rolle? „Wir“ haben das größte Stelendenkmal in Berlins Mitte. „Wir“ begehen in feierlichem Ernst „repräsentativ“ am 27.1. jeden Jahres den „Auschwitztag“. „Wir“…, „wir“…, „wir“…Ja, fast Bismarck ähnlich fürchtet die „gut“ und „freiheitlich demokratisch grundgeordnete“ BRD zwar Gott, fixiert in der Präambel des GG, aber „sonst nichts auf der Welt“. Darum mag sie auch wieder Kriege führen. Überall in der Welt (das Bundesverfassungsgericht hat es u. a, schon 1994 zeitgemäß abgesegnet). Darum mag sie Sinti und Roma, deren Lobby nicht kräftig genug ist, abzuschieben. Sie sind auch zu unordentlich. Darum hat sie mit den anderen europäische-unionstrammen, ach so zivilisationstrunkenen Staaten FRONTEX eingerichtet (und, solange es tunlich war, Lager Ghaddafis gefördert). Um alle Schwarzen ohne passend brauchbare Berufe abzuwehren. Genauer: Billigend ersaufen zu lassen. Darum … Ich halte ein, weil ich muss. Von nötiger Analyse kann keine Rede sein, also dem rerum cognoscere causas, den Dingen auf den Grund zu gehen. Nur eines gilt: Leuchtwürmchen personalen Lernens über den Tag hinaus gab und gibt es in der BRD zweifelsohne. Leuchtkäfer sogar, die das zu tun versuchen, was sie behaupten. Von einem Kernschub, einem qualitativen Sprung kann jedoch in Sachen vereinigte BRD durchgehend nicht die Rede sein. Sonst hätten sich mehr zentrale Konsequenzen aus dem nationalsozialistischen Deutschland, der nazistischen „Endlösung“ in Form der Genozide an Juden, Sinti und Roma, Behinderten, unerhörten Massenschlächtereien in nazistisch menschenfrei gemachten Großräumen und Grauenvolles ergeben müssen. Und sei es nur allmählich infolge schwieriger Lernprozesse und einer nachdenklichen Kunst der Langsamkeit. An erster Stelle hätte sich eine Bundesrepublik ohne Bundeswehr von selbst zu verstehen. Kollektive Gewalt trägt keinen menschenrechtlichen Stempel. Nun aber treiben es Bundesdeutsche längst waffenhändlerisch. Indes gilt. Kritik an der BRD und ihren Leuten, nur durch Nichtwissen und Einsichtsmangel gebremst, ist angesichts der Gefahren heute und morgen unabdingbar. Die Kritik im Großen hat sich jedoch auch dem Besonderen zuzuwenden: sich selbst so zu verhalten, dass den überpersönlichen Zeilen gedient werde.

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Wolf-Dieter Narr ist Hochschullehrer, Mitbegründer und langjähriger Sprecher des Komitee für Grundrechte und Demokratie