Warum erst 1.565 Ermittlungsverfahren eingeleitet werden, um 1.563 dann wieder einzustellen...

„Castor? Schottern!“ vor Gericht

von Hermann Theisen

Im November 2010 kam es zu dem bisher langwierigsten Castor-Transport aller Zeiten: Elf Atommüll-Behälter starteten im französischen La Hague per Zug ihre Reise in das niedersächsische Wendland und kamen erst 92 Stunden später in Gorleben an. Auf der Fahrt der Castor-Behälter quer durch Deutschland kam es immer wieder zu Straßen- und Schienenblockaden und zu vielfältigen Aktionen zivilen Ungehorsams. Allein zwischen den wendländischen Dörfern Nebenstedt und Splietau demonstrierten 50.000 Menschen gegen die Gorlebener Atomanlagen und für einen Ausstieg aus der Kernenergie. Nie zuvor hatten so viele Menschen im Wendland an einer Demonstration teilgenommen.

Der wendländische Anti-Atom-Widerstand zeichnete sich immer schon durch ein breites Spektrum an Protestformen aus. Die Bahngleise zu schottern, also Steine aus den Gleisbetten zu entfernen, um den Castor-Zug aufzuhalten, ist dabei kein Novum. Bereits bei vorhergehenden Castor-Transporten wurde diese gewaltfreie Aktionsform immer wieder einmal praktiziert, ohne dabei von dem organisatorischen Hintergrund einer Kampagne getragen worden zu sein.

2010 bildete sich erstmals eine solche Kampagne und rief öffentlich im Internet zur Aktion „Castor? Schottern!“ auf. Jener Aufruf fand sehr schnell eine große Unterstützung und bereits nach wenigen Tagen war er von etwa 300 Personen unterzeichnet worden. Die Staatsanwaltschaft Lüneburg veröffentlichte daraufhin eine Pressemitteilung, noch lange bevor der Castor-Zug überhaupt startete: „Die im Internet frei zugängliche Website „`Castor? Schottern!´ ist Gegenstand strafrechtlicher Ermittlungen. Auf ihr wird dazu aufgerufen, beim nächsten Transport von Castor-Behältern in das Lager Gorleben zusammen mit `Hunderten, Tausenden von Menschen´ Steine aus dem Gleisbett zu entfernen und dadurch den Schienenweg unbefahrbar zu machen. Die Staatsanwaltschaft Lüneburg macht darauf aufmerksam, dass nicht nur die eigenhändige Begehung von Straftaten, sondern auch die öffentliche Aufforderung dazu strafbar ist.“

Zweck dieser Pressemitteilung war wohl der Appell an potentielle Unterstützer des Aufrufs, von ihrem Vorhaben Abstand zu nehmen, doch tatsächlich bewirkte er eher das Gegenteil, denn nur wenige Wochen später hatten bereits 1.565 Personen und Organisationen den Aufruf unterzeichnet. Die Staatsanwaltschaft Lüneburg leitete daraufhin gegen alle Unterzeichner Ermittlungsverfahren ein, worauf die Polizeidirektion Lüneburg im gesamten Bundesgebiet Einwohnermeldeämter kontaktierte, um die vorliegenden Daten „zu prüfen und ggf. zu berichtigen, sowie die Adresse bekannt zu geben.“ In den darauf folgenden Monaten wurden entsprechende Beschuldigtenanhörungen verschickt, die aber von den meisten Beschuldigten einfach ignoriert wurden,  woraufhin diese Ermittlungsverfahren eingestellt wurden.

Weitere Verfahrenseinstellungen erfolgten in den Fällen, in denen Beschuldigte den Tatvorwurf eingeräumt hatten, sich jedoch darüber hinaus von der Kampagne distanziert hatten; in einigen anderen Fällen gegen Zahlung einer Geldbuße.

Von den 1.565 Ermittlungsverfahren blieben am Ende nur zwei (!) übrig, in denen die Beschuldigten gegenüber der Staatsanwaltschaft erklärten, dass sie zwar den Aufruf unterschrieben hätten, sie damit aber keine strafbare Handlung verbinden würden und sie folglich auch nicht bereit seien, eine Geldbuße zu zahlen. Gegen beide erließ das Amtsgericht Lüneburg einen Strafbefehl wegen öffentlicher Aufforderung Straftaten.

Nachdem gegen die Strafbefehle Einspruch eingelegt worden ist, fand inzwischen vor dem Amtsgericht Lüneburg ein Strafverfahren statt. Der Angeklagte betonte, dass er nicht zu Straftaten aufrufen wollte, sondern sich vielmehr mit den Schotterern solidarisch erklären wollte. Staatsanwaltschaft und Amtsgericht vertraten jedoch die Auffassung, dass er sich strafbar gemacht habe, und erkannten folglich auf eine Verurteilung.

1.565 Ermittlungsverfahren und 1.563 Einstellungen: Dieser gigantische Aufwand ist wohl nur damit erklärbar, dass die Kampagne „Castor? Schottern!“ den Ermittlungsbehörden 2010 derart bedrohlich erschienen sein muss, dass sie sprichwörtlich weder Kosten noch Mühen scheuten, um gegen sie vorzugehen. Vielleicht ist jener monströse Aktenberg aber einfach auch nur damit zu erklären, dass die nach wie vor vollkommen ungeklärte Frage der Atommülllagerung eben notwendigerweise immer wieder neue Protestformen hervorruft, was ja in der Vergangenheit immer schon einen reflexartigen Ermittlungseifer der Staatsschutzbehörden zur Folge hatte. Doch wo bleibt jener juristische Ermittlungseifer eigentlich bei der Frage, ob denn die Nutzung der Kernenergie nach Fukushima überhaupt noch mit dem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit in Einklang zu bringen ist? Eine rechtsverbindliche Antwort auf diese Frage wäre dringend nötig!

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