Die singende Revolution 1988 – 1991 in den baltischen Staaten – ein Beispiel für Soziale Verteidigung

Das Baltikum

von Dietrich Becker-Hinrichs
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Bei der singenden Revolution im Baltikum zwischen 1988 und 1991 wurden zahlreiche Methoden der Sozialen Verteidigung erfolgreich eingesetzt. Seit der Sowjetisierung des Baltikums in Folge des Hitler-Stalin-Paktes und des Ergebnisses des Zweiten Weltkriegs versuchten die Menschen im Baltikum ihren Widerstand dagegen zu artikulieren und forderten die Wiederherstellung der staatlichen Unabhängigkeit. Im Jahr 1991 versuchte die Sowjetunion mit militärischer Gewalt die Unabhängigkeitsbewegung zu stoppen. Die Bevölkerung der drei Länder wehrte sich mit gewaltfreien Mitteln erfolgreich dagegen.
In Estland bildete die Heritage Society den Kern der Widerstandsbewegung. Das war eine Organisation, die sich mit der Geschichte Estlands beschäftigte und die Wahrheit über die Besetzung Estlands durch die Sowjetunion ans Licht bringen wollte. Diese Bewegung erhielt weitere Unterstützung im Zuge von Umweltprotesten gegen den Bau von Phosphorminen und gegen die zunehmende Russifizierung des Landes.
Um die estnische Kultur, Sprache und Musik am Leben zu erhalten, gab es in Estland die Tradition großer Sängerfeste. Im Rahmen eines solchen Sängerfestes entstand die estnische Nationalhymne, die, obwohl sie verboten war, von zehntausenden Menschen gesungen wurde.
Am 11. September 1988 fand ein großes Liederfest in der Liederfestival-Arena in Tallinn statt. Fast 300.000 Menschen waren gekommen, mehr als ein Viertel der gesamten Bevölkerung Estlands, um Volkslieder und nationale Hymnen zu singen. Erstmals traten dabei auch politische Führer*innen der Volksfront Estlands auf und forderten die Wiederherstellung der nationalen Unabhängigkeit von der Sowjetunion.

Lettland
In Lettland formierte sich der Widerstand um die Menschenrechtsgruppe „Helsinki-86”, die sich auf die KSZE-Schlussakte von Helsinki berief. Sie organisierte 1987 ein Gedenken an die 1941 von der Sowjetunion deportierten Litauer*innen, Lett*innen und Est*innen, eine ungeheuerliche Provokation gegenüber der Kommunistenherrschaft. Weitere große Demonstrationen fanden in diesem Sommer in Riga am Freiheitsdenkmal statt, dem Symbol für die nationale Unabhängigkeit. Auch in Lettland formierte sich eine Umweltbewegung, die gegen den Bau eines großen Wasserkraftwerkes protestierte, da sie unwiderrufliche Eingriffe in die Natur befürchtete.

Litauen
In Litauen spielte die katholische Kirche eine wichtige Rolle im Widerstand. Tausende Menschen versammelten sich regelmäßig auf öffentlichen Plätzen in ganz Litauen und sangen traditionelle Lieder und katholische Hymnen.
Eine neue, entscheidende Dynamik erhielt die Bewegung in Litauen mit der Gründung der „Initiativgruppe Sąjūdis" am 3. Juni 1988 als Unterstützungsbewegung von Glasnost in Litauen. Am 24. Juni 1988 fand die erste Massenveranstaltung von Sąjūdis statt. Eine weitere Massendemonstration fand am 23. August 1988 statt, als 250.000 Menschen zusammenkamen, um gegen den Ribbentrop-Molotow-Pakt und sein geheimes Zusatzprotokoll von vor fast 50 Jahren zu protestieren.

Der baltische Weg – die größte Menschenkette der Geschichte
Am 23. August 1989, dem 50. Jahrestag des Molotow-Rippentrop Paktes, bildeten zwei Millionen Menschen eine Menschenkette über 600 km durch die drei baltischen Staaten. Über Radiosender wurden die Menschen an ihre zugewiesenen Plätze gelotst. Um 19 Uhr Ortszeit wurde die Kette geschlossen. Rund zwei Millionen Menschen standen Hände haltend für 15 Minuten von Tallin über Riga bis Vilnius und demonstrierten so gegen die Besatzung ihrer Länder durch die Sowjetunion und für die Unabhängigkeit.
Als die Bestrebungen für eine Loslösung von der Sowjetunion ihren Höhepunkt erreichten, ließ der sowjetische Präsident Gorbatschow im Januar 1991 die Panzer rollen. Er wollte mit allen Mitteln verhindern, dass Lettland, Estland und Litauen unabhängig würden. Russische Soldaten sollten das Parlament in Vilnius einnehmen, wo gerade die Parlamentsversammlung tagte. Und sie sollten den Fernsehturm erobern und so die Gewalt über die Medien übernehmen. Damals bildeten zehntausende von Menschen mit ihren Körpern eine menschliche Mauer vor dem Parlament und um den Fernsehturm. Es gab Diskussionen mit den Soldaten. Manche schossen in die Menge. Tatsächlich kamen beim sog. Blutsonntag von Vilnius am 13. Januar 1991 14 Menschen durch Gewehrfeuer russischer Soldaten ums Leben. Auch in Riga schützten Zehntausende von Bürger*innen allein mit ihren Körpern den Fernsehturm und das Parlament. Sechs Menschen verloren dabei das Leben. In Estland kam es noch im August 1991 zu einer Konfrontation zwischen russischen Panzern und gewaltfrei demonstrierenden Menschen. Es gelang, den Fernsehturm so lange zu verteidigen, bis die russischen Soldaten zurückgerufen wurden. In der Zwischenzeit war in Moskau der Putsch der Kommunisten gescheitert. Das Ende der Sowjetunion war gekommen. Alle drei Nationen erklärten sich im Jahre 1991 für unabhängig.  

Quellen:
Die singende Revolution, Dokumentarfilm, Estland 2006
Anika Binnendijk, Marta Kepe, Civilian based Resistance in the Baltic States, 2021
Wikipedia Artikel, Die singende Revolution

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