„Responsibility to Protect“

Das ethische Dilemma der Gewaltanwendung

von Fernando Enns

Wie können unschuldige Menschen vor Ungerechtigkeit, Krieg und Gewalt geschützt werden? Diese Fragestellung wird der Ökumenische Rat der Kirchen auch auf seiner nächsten Vollversammlung im Oktober 2013 in Busan (Südkorea) diskutieren. Eignet sich dazu das Konzept der „Schutzverantwortung“ („Responsibility to Protect“)? Darf zu diesem Schutz Gewalt eingesetzt werden? Eine Annäherung an diese grundlegenden Fragen nahm der Theologe Prof. Dr. Fernando Enns auf dem Berliner Kongress „Menschen geschützt – Gerechten Frieden verloren?“ vom13. bis 15. Juni 2013 in Berlin vor. Wir dokumentieren Auszüge aus seinem Vortrag.

Das Leitbild vom „Gerechten Frieden“ hat eine Verschiebung der Perspektiven ermöglicht:

  • von der unantastbaren Souveränität nationalstaatlicher Regierungen hin zum unbedingten Schutz unmittelbar bedrohter Bevölkerungen;
  • von der Perspektive der potenziell Intervenierenden hin zum Recht auf Unversehrtheit der Menschen in Not;
  • von der Entscheidungsgewalt Einzelner hin zum solidarischen Handeln als internationale Gemeinschaft;
  • von der militärischen Konzentration hin zur weiten Friedensbildung.

Es ist – zumindest unter den Kirchen der Ökumene – Konsens, was die primären Aufgaben sind:

„Responsibility to Prevent“: Die Verantwortung zur gewaltfreien Konfliktprävention durch die Ermöglichung eines Lebens in gerechten Beziehungen für alle(!): Gerechtigkeit als Weg des Friedens!

„Responsibility to React“: Die Verantwortung zum Eingreifen in einen Konflikt, um jene zu schützen, die das selbst nicht können, sofern diese das wünschen (damit ist noch nichts zu den legitimen Mitteln gesagt): Frieden als Weg der Gerechtigkeit!

„Responsibility to Rebuild“: Die Verantwortung zu Versöhnung und Heilung sowie zum Aufbau gerechter Verhältnisse nach einem Konflikt: der Weg der restaurativen (oder transformativen) Gerechtigkeit, aus dem erst Sicherheit erwachsen kann. Und es ist ebenfalls ökumenischer Konsens, bei all dem möglichst gewaltfrei bleiben zu wollen, gewaltfreie Mittel zu entwickeln, in Gerechtigkeit zu investieren, anstatt zu meinen, Sicherheit könnte durch Gewalt geschaffen werden.

 

Die ethische Herausforderung
Wir können die ethische Herausforderung zugespitzt so formulieren: Kann eine theologisch begründete Ethik einen allein auf Gewaltabwehr und Gewaltminderung begrenzten Einsatz von Gewalt legitimieren, allein zu dem Zweck, diejenigen zu schützen, die unmittelbar an Leib und Leben bedroht sind und die zu solchem Schutz aufrufen, wenn alle gewaltfreien Mittel ausgeschöpft sind?

Wenn wir uns auf eine solche, bereits sehr enge Formulierung verständigen können, dann stehen wir schließlich noch vor einer ganz entscheidenden Aufgabe: der differenzierten Beschreibung dieser „Gewalt“, von der wir meinen könnten, sie im Rahmen des „Gerechten Friedens“, auf dem Fundament der biblischen Zeugnisse, noch anwenden zu dürfen. Denn das Problem scheint doch zu sein, dass sich im Rahmen des Konzeptes „Responsibility to Protect“ – entgegen unserer besten Absichten – eindeutige Parallelen zur „Lehre vom gerechten Krieg“ ergeben. Es hat sich gezeigt, dass diese Lehre – entgegen ihrer ursprünglichen Intention – Kriege nicht eingedämmt hat, sondern stets Legitimationen – durch Politik und Kirche – Vorschub leistete. Die große Gefahr ist nun, dass dies im gleichen Maße für das so anspruchsvoll ausgearbeitete Konzept der „Schutzverantwortung“ gilt. Im Spiel politischer Macht- und Eigeninteressen ist deutlich geworden: Es ist unrealistisch zu meinen, dass Regierungen solch hehren Intentionen (allein) folgen und die aufgezeigten ethischen Leitplanken konsequent einhalten.

 

In der Gewaltlogik gefangen
Wer militärische Gewalt weiterhin als Mittel der Politik ansieht und also stets mit ins Kalkül zieht – und sei es aus den besten, ethisch begründeten Motiven, und sei dies auch noch so ausdrücklich als „ultima ratio“ eingeschränkt – bleibt letztlich in den Gewaltlogiken gefangen, die unsägliche Ungerechtigkeiten in Kauf nehmen und neue erzeugen. Das hat so weitreichende Folgen wie die sich daraus notwendig ergebende Legitimierung zur Waffenproduktion, zum Waffenexport, bis zur Entwicklung von neuen Tötungs-Technologien. Diese „ultima ratio“-Argumentation „funktioniert“ in der Praxis eben so wenig wie es die „Lehre vom gerechten Krieg“ tat.

Immer wieder wird mit dem Argument der „rechtserhaltenden Gewalt“ argumentiert. Welches „Recht“ ist eigentlich gemeint? Wer hat das entschieden, auf welcher Grundlage? Stellen sich die Mächtigen ebenso unter dieses Recht, wie sie es von anderen einfordern? Die Sorge ist bisher nicht ausgeräumt, dass es am Ende eben doch um den Rechtserhalt der Stärkeren und Mächtigen geht – die gleichzeitig und im Verhältnis so wenig für die Gerechtigkeit der Lebenschancen tun.

Daraus ergibt sich bisher keine glaubwürdige Praxis; und eben dies stellt dann auch die gesamte ethische Argumentation für das Konzept der „Responsibility to Protect“ wieder in Frage.

 

Militärische Interventionen als „letzte Option“ überwinden
Die ethische Herausforderung muss hier noch einmal zugespitzt werden, indem wir die notwendige Unterscheidung zwischen militärischer Gewalt (engl. violence) und polizeilichem Zwang (engl. coercion) einführen. Um die polarisierten Diskussionen im Blick auf militärische Interventionen als „letzte Option“ zu überwinden, haben Mennoniten und Katholiken gemeinsam das weiterführende Verständnis des „just policing“ entwickelt und in die ökumenischen Debatten eingeführt. Eine solche internationale(!) Polizeikraft müsste kontrolliert sein durch das internationale Recht der internationalen Gemeinschaft, gebunden an die unbedingte Einhaltung der Menschenrechte. Sie würde nicht den Anspruch erheben, einen Konflikt zu lösen, sondern die Verwundbarsten vor unmittelbarer Gewalt zu schützen. Sie dürfte nicht als Partei oder Aggressor eingreifen oder so wahrgenommen werden, sondern allein auf Gewaltdeeskalierung und -minimierung zielen und daher selbst so wenig Zwang wie möglich ausüben. Sie suchte nicht den Sieg über andere, sondern strebte danach, gerechte „Win-Win-Lösungen“ zu ermöglichen. Dies erforderte eine völlig andere Ausstattung und Ausbildung, als die eines Militärs. Massenvernichtungswaffen haben hier keinen Raum. Wenn irgend möglich, sollte auf Waffenanwendung ganz verzichtet werden. Schulungen in gewaltfreier Streitschlichtung, vertrauensbildenden Maßnahmen, Kultursensibilität, Selbstverteidigung ohne zu töten, Unterstützung und Kooperation mit zivilgesellschaftlichen Kräften u.v.m. sind nur einige wenige erforderliche Qualifikationen. Und ein solches Eingreifen verfolgte keinerlei andere politische Ziele als allein dieses: Menschen zu schützen und Recht und Gerechtigkeit – wobei diese mit den Betroffenen gemeinsam zu definieren wären(!) – eine Chance zu verleihen.

Ich behaupte hier nicht, dass das Konzept des „just policing“ die letzte Weisheit auf die gestellte ethische Herausforderung darstellen kann. Sicher nicht. Aber ich sehe hier einen möglichen Weg, in dieser so wichtigen Debatte den nächsten Schritt zu gehen, nicht nur in der Ökumene, sondern auch und gerade im Dialog mit der Politik.

Lassen Sie mich zum Schluss einen weiteren Versuch unternehmen, das „ethische Dilemma“, die herausfordernde Frage nochmals eingrenzend zu beschreiben: Kann eine theologisch begründete Ethik einen allein auf Gewaltabwehr und Gewaltminderung begrenzten Einsatz von nichttötendem (polizeilichem) Zwang legitimieren, allein zu dem Zweck, diejenigen zu schützen, die unmittelbar an Leib und Leben bedroht sind und die zu solchem Schutz aufrufen, wenn alle gewaltfreien Mittel ausgeschöpft sind? 

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