Das kollektive Aufbegehren gegen das europäische Grenzregime

von Dirk Vogelskamp

In diesem Sommer haben Migrantinnen und Migranten vor den Grenzen der spanischen Exklaven eine veränderte Strategie angewandt, um die mit Bewegungsmeldern, Infrarotkameras und Wachtürmen ausgestatteten Grenzbefestigungen zu überwinden und die von Helikoptern unterstützten marokkanischen und spanischen Grenzpatrouillen zu überrumpeln. Sie haben sich in großen Gruppen bis zu Hunderten organisiert, um mit selbst gebauten Leitern nachts die meterhohen Grenzzäune zu überklettern in der Hoffnung, dass zumindest einige von ihnen das spanische Territorium und damit Europa erreichen. Die Enklaven Ceuta und Melilla, in Marokko gelegen, sind koloniale Überbleibsel spanischer Herrschaft und bilden heute geostrategische Brückenköpfe der EU nach Nordafrika.

Seit August sind dabei mindestens 16 Menschen zu Tode gekommen: Sie wurden erschossen, erschlagen oder erlagen ihren Verletzungen, die von den Gummigeschossen der Guardia Civil herrührten, der klassischen Bewaffnung urbaner Aufstandsbekämpfung, oder die sie sich bei der Überwindung der messerscharfen Grenzzäune zugezogen hatten. Hunderte wurden verletzt.
Dennoch hatte der kollektive Ansturm auf die Grenzanlagen anfangs Erfolg: Weit über tausend Migrantinnen und Migranten schafften es, nach Ceuta und Melilla vorzudringen. Viele andere wurden rechtswidrig durch Grenztore zurückgeprügelt und an die marokkanischen Militärs ausgeliefert. Flüchtlinge berichten, seit den Sommermonaten hätten die brutalen Razzien marokkanischer Polizeieinheiten in den Wäldern rund um die Enklaven zugenommen, in denen die Flüchtlinge unter erbärmlichen Bedingungen in selbstorganisierten Camps lebten. Die Flüchtlinge seien immer wieder vertrieben, ausgeraubt, geschlagen, inhaftiert und an die marokkanisch-algerische Grenze deportiert worden. Die marokkanische Regierung reagierte offensichtlich damit auf die europäischen Vorwürfe, zu lax mit der „illegalen Immigration" umzugehen.
Sieben Tage, vom 28. September bis zum 6. Oktober, versuchen immer erneut große Gruppen von Migrantinnen und Migranten, die Grenzanlagen zu überwinden. Das kollektive Aufbegehren gegen das europäische Grenzregime wird von den marokkanischen und spanischen Grenzeinheiten rücksichtslos niedergekämpft, bis ,,wieder Ruhe in Melilla" (FAZ, 7. Okt. 2005} einkehrt. Totenruhe.
Nach Angaben von Flüchtlingen und marokkanischen Bürgerrechtsgruppen sollen bei den anschließenden gewaltsamen Deportationen weitere Migranten ihren Verletzungen erlegen sein. Die erschöpften und teils verletzten Flüchtlinge wurden in gecharterte Reisebusse getrieben und mit Handschellen paarweise an einander gefesselt. Die Deportationsbusse fuhren in Richtung Oujda in die Nähe der algerischen Grenze und von dort 600 Kilometerweiter direkt in die marokkanisch-algerische Wüste. Andere Busse fuhren an die Südgrenze Marokkos in die Westsahara. Nach verschiedenen Berichten von Menschenrechtsgruppen, die den Bussen folgten, sollen, entgegen den offiziellen Verlautbarungen, die Flüchtlinge auf diesen stundenlangen Transporten weder Nahrung noch Wassererhalten haben.
Nach Zeitungsberichten sind über 500, nach Angaben von Hilfsorganisationen hingegen über 1.500 Flüchtlinge aus den Ländern der Sahelzone in der Sahara zwischen Algerien und Marokko ausgesetzt worden. Ohne die Hilfe von Wüstenbewohnerinnen, die den Herumirrenden ihre Jahresrationen an Nahrungsmitteln opferten, und ohne den anschließenden Protest der marokkanischen Sektion von „Ärzte ohne Grenzen" und anderen Hilfsorganisationen wären viele der Deportierten in der Wüste umgekommen. Nach Berichten marokkanischer Selbsthilfeorganisationen und zurückgekehrter Flüchtlinge sollen einige Menschen den Treck in die Wüste nicht überlebt haben.
Die marokkanische Regierung leugne¬te anfangs, Menschen überhaupt in der Wüste ausgesetzt zu haben, auf internationalem Druck war sie später gezwungen, die Deportierten teilweise in den Wüstenregionen wieder einzusammeln. UN-Flugzeugesuchten nach Umherirrenden.
Möglicherweise hat die kurz zuvor begonnene Erhöhung des zweiten Grenzzauns auf 6 Meter(!) Panikreaktionen unter den verzweifelt auf eine Fluchtgelegenheit wartenden Flüchtlingen ausgelöst, einiges spricht dafür. Indes: Zwei Tage bevor in Sevilla ein spanisch-marokkanisches Treffen zu Migrationsfragen stattfinden sollte, wurden Migranten in der Nacht vom 28. auf den 29. September an Melillas und Tags darauf an Ceütas Grenzzäunen zusammengeschossen. Flüchtlinge haben be-richtet, dass sie geradezu von Polizeieinheiten, die die Wälder nach Illegalen durchkämmten, in die Zäune getrieben worden seien. Möglicherweise ist der „Ansturm auf die Grenzen" auch regierungsinteressiert provoziert worden. Wie auch immer, die Ereignisse kamen der marokkanischen Regierung jedenfalls nicht ungelegen! Öffentlich kritisiert wurde sie übrigens von den zivilisierten EU-Staaten für ihr brutales, viele Menschenleben forderndes Vorgehen nicht.
Inzwischen sind viele der illegalen Migranten und Migrantinnen in Marokko, über 2.500, nach gewaltsamen Razzien und brutalen Flüchtlingsjagden im ganzen Land in ihre vermeintlichen Herkunftsländer abgeschoben. Über 200 befinden sich Anfang November noch in einem Militärlager im Süden Marokkos. Etwa eineinhalb Wochen haben die Medien der Weltöffentlichkeit die „neuen Verdammten dieser Erde" vorgeführt. Danach gingen sie wie der zur Tagesordnung über.
Nicht so die europolitische Klasse. Ich führe nur einige exemplarische Reaktionen an: Ohne irgendein Bedauern über die Opfer an den europäischen Grenzanlagen zu äußern, forderte der bayerische Innenminister, Auffanglager in Nordafrika zu er-richten. Der scheidende Minister für humanitäre Interventionen, Struck, empfahl der Armeeführung anlässlich des 50-jährigen Jubiläums der Bundeswehr vor dem Hintergrund der tragischen Ereignisse in Ceuta und Melilla, deutsche und europäische Interessen genauer zu definieren: Massen-fluchten könnten für die Stabilität Europas relevant werden. In Afrika sei deshalb künftig ein stärkeres militärisches Engagement erforderlich, ,,um auseinanderfallende Staaten zu stabilisieren und Massenfluchten zu verhindern". Struck wirbt vor den militärischen und politischen Eliten dieses Larides, die sich zur Feier der „Friedensarmee" zusammengefunden haben, für ein bewaffnet militärisches Eingreifen bei „Massenfluchten". Das konstruierte Feindbild „illegale Migration", die vorgeblich Europas Sicherheit bedrohe, eignet sich dabei trefflich zur staatlichen Legitimationsbeschaffung, die durch die soziale Unbehaustheit und Unsicherheit in diesem lande reichlich angekratzt ist.
Die spanische Regierung entsendete rasch Hunderte Soldaten und Fremdenlegionäre zur Sicherung der Enklavengrenzen. Zwischen dem ersten und dem zweiten Sperrzaun liegen inzwischen Rollen messerscharfen Natodrahts, damit mögliche herunterspringende Flüchtlinge nicht „ungeschoren" den nächsten Zaun erklimmen können. Die EU eiste sogleich 40 Mio Euro für die marokkanische Regierung los, um einen zusätzlichen Sperrwall bauen und die marokkanischen Grenzschutztruppen ausbilden zu lassen.
Kurz nachdem der Aufstand der illegalen Migrantinnen und Migranten gegen die Grenzanlagen erfolgreich bekämpft worden war, besuchte eine Europäische Technische Mission vom 7. bis zum 11. Oktober Ceuta und Melilla. Deren Report liegt nun vor: Diese Gruppe aus Migrationsexperten und Polizeibeamten wollte nicht die Vor¬fälle an den Grenzen untersuchen, sondern sich ein Bild über Umfang und Charakteristik der illegalen Migration von Afrika über Marokko nach Europa machen; sie wollte ein Lagebild über die Situation an der Nord-grenze Marokkos erstellen, insbesondere über den aktuellen Stand der illegalen Migrationskanäle. Sie wollten hören, welche Vorstellungen die spanischen und marokkanischen Behörden entwickelt haben, um die Zusammenarbeit Marokkos mit der EU zu intensivieren und um die illegale Migration einzudämmen und zu bekämpfen.
EU-Kommissar Frattini gibt sich nach den Ereignissen entschlossen, ,,eine europäische Lösung für das Problem der illegalen Einwanderung zu finden" (!). Folgende Maßnahmen sollen nun vorbereitet werden: u.a. Notfallhilfen für Mitgliedstaaten, die von illegaler Einwanderung besonders betroffen sind; eine Zusammenarbeit insbesondere mit Marokko, Libyen und Algerien bezüglich Rücknahmeabkommen und Maßnahmen zur Unterstützung „ihrer Migrations- und Kontrollstrategien im Rahmen regionaler Schutzprogramme"; Schaffung einer Spezialeinheit (task force) Einwanderung, die sich aus Vertretern europäischer und nordafrikanischer Mittelmeerländer zusammensetzen und die mit der EU-Kommission, EURO POL und der Grenzschutzagentur FRONTEX zusarnmenarbeiten soll.
Die Ereignisse von Ceuta und Melilla haben sogleich die Debatte um exterritoriale Lager der EU neuen Schwung verliehen. Schließlich, so die EU-Kommission, müsse man sich vor einem ungeheueren Migrantenansturm wappnen. Eine EU-geförderte Studie will ausgemacht haben, dass bis zu 30.000 illegale Armutsmigranten in Algerien und Marokko lebten, die nur darauf warteten, den Sprung nach Europa zu wagen.
Die EU propagierte inzwischen das Konzept „regionaler Schutzprogramme" einschließlich der dazugehörigen Lager für die Sahelzone und Nordafrika, in denen - Flüchtlinge aufgefangen werden und „Schutz" finden können. Das europäische Migrationsregime dehnt sich damit weiter auf den afrikanischen Kontinent aus. Die Gewalt an den Grenzen von Ceuta und Melilla offenbart seine entscheidende Aufgabe: Das Eindringen der Armen der Welt in die Zitadellen des Reichtums zu verhindern. Oder anders ausgedrückt: Die „Weltüberflüssigen" werden in die „Schutzzonen" und „Schutzlager" in Afrika verbannt. Diese Politik ist Teil eines globalen sozialen Apartheidssystems, gegen das nicht nur in Banlieues von Paris und anderen Großstädten revoltiert wird.
                                                                                                                                                                                                                    Literaturhinweis:
AusgeLAGERt. Exterritoriale Lager und der EU-Aufmarsch an den Mittelmeergrenzen, Hrsg. Niedersächsischer Flüchtlingsrat, Forschungsgesellschaft Flucht und Migration, Komitee für Grundrechte und Demokratie, Berlin, Göttingen und Köln 2005

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Hintergrund
Dirk Vogelskamp ist Referent des Komitee für Grundrechte und Demokratie.