Rolle des Westens

Der IS – ein Produkt verfehlter westlicher Interventionspolitik

von Clemens Ronnefeldt

Zum Thema "Afghanistan" zitiert Michael Lüders (1) aus einem Interview der französischen Zeitschrift "Le Nouvel Observateur" vom Januar 1998 mit Zbigniew Brezinski, ehemaliger nationaler Sicherheitsberater von US-Präsident Jimmy Carter:

Frage: "Als die Sowjets ihre Intervention mit der Absicht begründeten, dass sie das geheime Engagement der USA in Afghanistan bekämpfen wollten, hat ihnen niemand geglaubt. Dennoch war die Behauptung nicht ganz falsch. Bereuen Sie heute nichts?"

Brezinski: "Was denn bereuen? Die geheime Operation war eine ausgezeichnete Idee. Das Ergebnis war, dass die Russen in die afghanische Falle gelaufen sind, und Sie verlangen von mir, dass ich das bereue? An dem Tag, an dem die Sowjets offiziell die Grenze überschritten hatten, schrieb ich Präsident Carter: Jetzt haben wir die Gelegenheit, der UdSSR ihren Vietnamkrieg zu verpassen. Und tatsächlich, fast zehn Jahre lang war Moskau gezwungen, einen Krieg zu führen, der die Möglichkeiten der Regierung bei Weitem überstieg. Das wiederum bewirkte eine allgemeine Demoralisierung und schließlich den Zusammenbruch des Sowjetreiches."

Frage: "Und Sie bereuen auch nicht, den islamischen Fundamentalismus unterstützt zu haben, in dem Sie künftige Terroristen mit Waffen und Knowhow versorgten"?

Brezinski: "Was ist für die Weltgeschichte von größerer Bedeutung? Die Taliban oder der Zusammenbruch des Sowjetreiches? Einige fanatisierte Muslime oder die Befreiung Zentraleuropas und das Ende des Kalten Krieges?" (S. 24-26).

Michael Lüders zeigt die aktuelle Fortsetzung dieser Politik mit einem Zitat aus der "New York Times" vom 24.3.2013 auf: "Mit Hilfe der CIA haben arabische Regierungen und die Türkei ihre militärische Unterstützung für oppositionelle Kämpfer in Syrien erheblich ausgeweitet" (S. 76).

Auf S. 103 lässt der Autor den ehemaligen CIA-Mitarbeiter Graham Fuller zu Wort kommen: "Die USA hatten nicht die Absicht, den Islamischen Staat zu erschaffen. Aber deren zerstörerische Interventionen im Nahen Osten und der Krieg im Irak waren die beiden entscheidenden Geburtshelfer des IS".  

Lüders fährt fort: "Dessen militärische Führung besteht wesentlich aus der alten Saddam-Generalität, die vor allem mit Amerikanern und Briten noch eine Rechnung offen hat. Ihr Ansinnen ist schlicht, aber offenbar nicht schlicht genug, um nicht doch möglicherweise den gewünschten Effekt zu erzielen. Sie will Amerikaner und Europäer zu einer Bodenoffensive verleiten. Wohl wissend, dass diese einen solchen Krieg nicht gewinnen könnten - siehe Afghanistan, siehe Irak in den Jahren der Besatzung - und sich auf politischen Treibsand begeben würden. Das erklärt die provokanten Enthauptungen britischer und amerikanischer Geiseln, die größte Empörung auslösten und den innenpolitischen Druck besonders auf Präsident Obama verstärkten, endlich 'etwas zu tun'. Vorstellbar auch, dass der IS durch Terroranschläge in Europa eine westliche Intervention mit Bodentruppen zu provozieren sucht. Für den 'Islamischen Staat' wäre sie eine willkommene Gelegenheit. 'Kalif Ibrahim' würde sich als moderner Saladin inszenieren, der den Kreuzfahrern die Stirn bietet, er würde zum globalen Dschihad gegen die Ungläubigen aufrufen. Eine riskante Strategie, denn der IS würde ebenfalls einen hohen Preis bezahlen - doch nicht besiegt werden zu können ist für eine Guerillaarmee bereits der halbe Sieg. Nicht zuletzt mit Blick auf die Emotionen, die eine weitere großangelegte Militärintervention in einem islamischen Land unter Muslimen weltweit auslösen würde." (S. 103)

Während der Abfassung dieses Artikels wurden am 13. November 2015 in Paris Terroranschläge ausgeführt, zu denen sich mutmaßlich der IS bekannt hat: "In dem noch nicht verifizierten Bekennerschreiben steht, 'Soldaten des Kalifats' hätten 'die Hauptstadt der Abscheulichkeit und Perversion' angegriffen. Die Schauplätze der Anschläge seien gezielt ausgewählt worden: das Stade de France, weil Frankreichs Präsident Hollande sich dort aufgehalten habe; die Konzerthalle Bataclan, weil 'Götzendiener' dort gefeiert hätten - tatsächlich spielte dort eine Popband. In dem Schreiben wurden weitere Angriffe gegen Staaten angedroht, die sich wie Frankreich an der Militärkoalition gegen den IS beteiligen" (2).

Diese Anschläge werden vermutlich Folgen weit über das Jahr 2015 hinaus haben.

Anmerkungen

1 Michael Lüders, Wer den Wind sät. Was westliche Politik im Orient anrichtet,  München 2015.

http://www.sueddeutsche.de/politik/terror-in-paris-was-wir-ueber-die-spur-zum-islamischen-staat-wissen-1.2737396

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Clemens Ronnefeldt ist seit 1992 Referent für Friedensfragen beim deutschen Zweig des Internationalen Versöhnungsbundes.