Expertenhearing am Verfassungstag lieferte viel Material zur Vertiefung der Diskussion

Deutsche an die Front?

von Christine SchweitzerManfred Stenner
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Mit einem gemeinsamen Brief und Appell haben sich· zahlreiche Gruppen an die Bundestagsabgeordneten gewandt, in Briefen und Gesprächen wurde Parteiführung und Basis der SPD vor dem Bremer Parteitag beschworen. Die Verhinderung von „out of area“-Einsätzen der Bundeswehr incl. Blauhelmmissionen hat höchste Priorität. Noch gibt es zu dem Thema wenig Aktivitäten auf der Straße. Bei Vortrags- und Diskussionsveranstaltungen dagegen (z.B. beim Treffen des Netzwerks Friedenskooperative am 9. Mai mit hervorragenden Referaten von Volke Böge und Andreas Zumach) läßt sich ein. großer Bedarf· an Informatio¬nen feststellen. Mit einem hochrangig besetzten Expertenhearing haben Friedenskooperative und Blind für Soziale Verteidigung am 23. Mai Informationen und Argumente zur Vertiefung der Diskussion gesammelt; demnächst auch als Dokumentation erhältlich. Hier zunächst subjektive Eindrücke.

Der norwegische Friedensforscher Johan Galtung erhellte im Hearing die „Konflikte der Zukunft“. Der Übergang von Jalta zu Malta hat die Welt nicht sicherer gemacht. In Malta wurde die Welt in vier Interessensphären aufgeteilt, deren Vormächte in ihrem z.T. große Gebiete der Erde umfassenden Einflußbereich von den anderen respektiert dominieren dürfen: 1. USA, 2. EG, 3. Japan, 4. UdSSR. Galtung ergänzt weitere sich z. T. erst entwickelnde wichtige Machtzentren: 5. China, 6. Indien und 7 eine künftige islamisch-arabische Union. Die neue Weltordnung: Nach der bipolaren Welt des Ost-West-Konfliktes; in der wir uns relativ sicher eingerichtet hatten, leben wir künftig in einer Welt, in der sieben konkurrierende Supermächte Konflikte in allen Variationen austragen werden:

1. in ihrer jeweils eigenen Interessenssphäre, also als Interventionen, in die sich die anderen Großmächte nicht wirklich einmischen (unipolar); 2. zwischen zwei Großmächten (bipolar); der nächste Konflikt dieser Art spielt sich laut Galtung als Wirtschaftskrieg zwischen USA und Japan ab; 3. multipolar; 4. in Koalitionen mehrerer Großmächte, die damit das Hegemonialsystem als solches bewahren (wie jüngst im Golfkrieg); 5. (eher unwahrscheinliche) Koalitionen von Peripherieländern des Südens.

Sind also gewalttätige Auseinandersetzungen vorprogrammiert, steuerte Jürgen. Link die Szenarien bei, wie die Bundeswehr über Eskalationsspiralen bei UN-Einsätzen schnell in sehr heiße Kriege verstrickt werden würde. Schon in Kambodscha oder Südafrika könnten Bundeswehr-Blauhelme zunächst mit Einverständnis der Konfliktparteien . zwischen den Fronten stehen und bei der nächsten Eskalation in Kampfhandlungen verwickelt sein. Die „Wüstensturmlage“ ist auch für Jürgen Link die Standardversion künftiger Konflikte, Militärstruktur der Zukunft sei der „High-Tech“-Krieg mit einer Tötungsrate von 1000:1.

Den in der Debatte immer wieder diskutierten Golfkrieg beurteilt Elmar Schmähling anders als die meisten: Der Irak habe den Krieg politisch geführt und sein Militärpotential geschont. Und der High-Tech-Eindruck beruhe großenteils auf· Propaganda, es habe vielmehr eine Unzahl von Angriffen gegeben. In Zukunft könnte wohl auch kaum noch eine so große Militärmacht (von Waffen des Ost-West-Konflikts) für einen solchen Angriff konzentriert werden, die Tendenz der Rüstung gehe zu mobilen Abstandswaffen.

Die engere Diskussion. über „out-of-area“- oder Blauhelm-Einsätze bewegt sich im Juristischen und den Argumenten für oder gegen eine deutsche Sonderrolle bzw. der Befürchtung vieler Politikerlnnen, sich nach der durch die Wiedervereinigung gewachsenen Bedeutung durch militärische Enthaltsamkeit außenpolitisch zu isolieren. Horst- Eberhard Richter kennzeichnet das auch als „Angst vor der Freiheit“ und warnt davor nun die geschichtliche Verantwortung der Detschen so zu betrachten, als habe man nun eine 50jährige Bewährungsstrafe abgesessen. Auch der britische Friedensforscher Frank Barnaby sieht eine größere Bedrohung durch das wirtschaftlich dominante Deutschland, wenn eine offensive Militärfähigkeit hinzukommt.

Unter den Juristen gibt es nach einer Übersicht. von Dieter Deiseroth keine klare Mehrheitsmeinung zur Frage, ob für „out-of-area“-Einsätze das Grundgesetz geändert werden muß. Der CSU-MdB Günter Müller steuerte in dankenswerter Offenheit bei, daß die BRD durch logistische Hilfe beim Golfkrieg, Bundeswehr der Türkei; Minensuchboote im Golf etc. sich faktisch sowieso bereits out-of-area engagiert und- auch da hat er bisher recht - niemand traut sich, beim Verfassungsgericht dagegen zu klagen. Die Juristen streiten sich, ob UNO-Einsätze schon durch Art. 24 GG (Systeme kollektiver Sicherheit) oder durch den vorbehaltslosen Beitritt von BRD und DDR zur UNO 1973 gedeckt sind (oder zunächst die in der UNO-Charta vorgesehenen aber bisher von keinem Staat abgeschlossenen Zusatzabkommen getroffen werden müßten). In der Vergangenheit hat aber auch die Bundesregierung mit Hinweis auf Art. 87a GG (Einsätze nur zur Verteidigung, wenn nichtdurch andere Artikel ausdrücklich zugelassen) die Bündnispartner vertröstet, wird also liebet den Weg einer GG-Änderung gehen als den einer Neuinterpretation.

Die juristische Debatte kann leicht den Blick aufs Wesentliche verdecken, ob BW-Einsätze politisch gewollt werden oder· nicht. Bei den Blauhelmen hat Johan Galtung andere Ansichten als die deutsche Friedensbewegung. Sie hätten ihre Aufgaben doch mehr oder weniger gut gelöst, die Deutschen sollten da ruhig mitmachen. Der Widerstand gegen Blauhelme lenke von wichtigeren Fragen ab, z.B. der Entwicklung .der schnellen Eingreiftruppen der WEU mit dem Kern der deutsch-französischen Brigade. Viele Teilnehmerinnen hätten darüber mit Galtung gern weiter diskutiert. Ob nämlich·die künftigen UNO-Blauhelme noch dieselben harmlosen Einheiten sein werden (sie sind ja nicht durch die Charta definiert, sondern dem Wandel unterliegende Gewohnheitssache) oder, ob Blauhelme nicht besser durch kleinere und möglichst konfliktneutrale Staaten gestellt werden sollten, hatte Galtung nicht in sein Plädoyer einbezogen.

Klar: Will man militärische „Lösungen"“ vermeiden, muß man die möglichen Alternativen vorschlagen. Johan Galtung war weitgehend mit den Vorschlägen von Andreas Büro einverstanden:

1. Schaffung von Organisationen zur Konfliktprognostik und eines Rüstungsexportregisters; 2. Strukturveränderungen, z.B. Senkung des Ressourcenverbrauchs hier; 3; Konfliktvorbeugende Maßnahmen wie Rüstungskonversion; 4. Schaffung von Regeln und Verfahren der regionalen Konfliktbearbeitung, . Friedensordnung in. (Gesamt-)Europa, Defensivierung der Militärpotentiale und Abrüstung; 5: Vermittelnde Instanzen und Ombudsstellen;     6. Marshallpläne für Krisenregionen und Schaffung positiver Anreize für Kooperation; 7. Internationale -strikt nichtmilitärische- schnelle Hilfsorganisationen für humanitäre Zwecke; 8. Nicht-militärische Sanktionen; 9. Reform der UN.

Während Johan Galtung die Sanktionen - auch beim Irak- für nicht so erfolgversprechend hält wie die meisten in der Friedensbewegung, sprach er noch ein außerhalb der Frauenbewegung oft vergessenen Aspekt an: Kein Zufall, daß die amerikanischen Soldaten am Golf Pornofilme vorgeführt bekamen, bekannt sei ja, was Soldaten überall in Kriegen mit der weiblichen Bevölkerung anstellten. 95 % der Gewalt auf der Welt werde von Männern ausgeübt. Die Verbindung zwischen männlicher Sexualität und Gewalttätigkeit sei evident. Männliche Wesen unter und über 65 dagegen seien „fast menschlich“. Nötig sei, daß endlich auch die Männer diese Zusammenhänge aufarbeiten.

Die Debatte um mehr Aufgaben für die Bundeswehr und die Alternativen dazu hat gerade erst begonnen. Die SPD hat sie bisher am gründlichsten geführt - auch auf dem Bremer Parteitag. Zu befürchten ist; daß die SPD-. Bundestagsfraktion sich trotz der massiven Bedenken in der Partei sehr viel Handlungsfreiheit nimmt. Kohl hat angedroht, er werde das Thema - wenn die SPD nicht willfährig genug ist - zum Wahlkampfthema machen. Dies· kann nur im Interesse der Friedensbewegung sein. Wir werden die vielen Argumente dann in gute Aktionen überführen müssen, um für die Bedenken eine gesellschaftliche Mehrheit zu gewinnen.

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Christine Schweitzer ist Co-Geschäftsführerin beim Bund für Soziale Verteidigung und Redakteurin des Friedensforums.
Manfred Stenner