Eine europäische oder gar eine deutsche Atombombe?

Deutsche Debatte über nukleare Aufrüstung Europas

von Ulrich Stadtmann
Im Blickpunkt
Im Blickpunkt
( c ) Netzwerk Friedenskooperative

Es wird zunehmend in den deutschen Medien ein Angriffskrieg Russlands gegen NATO-Staaten als reale Bedrohung der nächsten Jahre dargestellt (1) und die Glaubwürdigkeit der militärischen und der atomaren Abschreckung diskutiert. Dabei werden Forderungen nach einer eigenständigen europäischen Atombewaffnung erhoben, die mittlerweile auch aus der Politik kommen. Darüber hinaus gibt es sogar Stimmen, die eine eigene deutsche Atombewaffnung anstreben.

Der Wandel in der politischen Debatte zeigt sich besonders bei den Grünen. Noch im Februar 2021 forderten sie in Bundestagsanträgen (2) den „Abzug der Atomwaffen aus Deutschland und ein Ende der nuklearen Teilhabe“. Von der damaligen Bundesregierung forderte die grüne Oppositionsfraktion „sich für ein atomwaffenfreies Deutschland einzusetzen, indem sie aus der operativen nuklearen Teilhabe der Nato aussteigt“. Zu Beginn des Angriffskrieges Russlands gegen die gesamte Ukraine im Februar 2022 begründete die grüne Außenministerin Baerbock den Kauf von F-35-Atombombern mit den Worten: „Die nukleare Abschreckung der NATO muss glaubhaft bleiben.“ (3) Ihr früherer grüner Amtskollege Fischer postulierte im Dezember 2023: „Die EU braucht eine eigene atomare Abschreckung.“ (4) Im Februar 2024 kam die Forderung nach einer europäischen Atombombe auch von der SPD-Europakandidatin Barley; der Spitzenkandidat der CSU für die Europawahl zeigte sich ebenfalls offen für diese Diskussion und auch FDP-Chef Lindner beteiligte sich daran. (5) Schon im September 2023 wurde aus der CDU vom jüngst verstorbenen Wolfgang Schäuble zusammen mit Serap Güler „eine Ausweitung der französischen Nuklearkapazitäten zum Schutze Europas“ gefordert. (6)

Der FAZ-Herausgeber Berthold Kohler stellte am 13. Februar 2024 nach der Infragestellung der NATO-Beistandsverpflichtung durch den ehemaligen und vielleicht künftigen US-Präsidenten Trump auf der Titelseite der FAZ fest: „Während Putin den Westen erfolgreich davon abschreckt, der überfallenen Ukraine mit aller Macht zu helfen, droht das Abschreckungsgebäude der NATO in sich zusammenzusinken.“ (7) Er schlussfolgert daraus, dass ‚die Europäer‘ über Nuklearstreitkräfte verfügen müssten, die das Gleichgewicht des Schreckens in Europa wiederherstellen können. Abschließend empfiehlt er dem Bundeskanzler Gespräche mit Präsident Macron über eine Teilhabe am französischen Nuklearschirm, auch wenn diese von seiner möglichen Nachfolgerin Le Pen schon abgelehnt wurde. Letztlich käme Deutschland dadurch zum Nachdenken „über eine alternative nukleare Abschreckung“, bei der der derzeitige Verzicht auf eigene Atomwaffen aufgegeben werden müsste. Am gleichen Tag lässt welt.de den Politikwissenschaftler Maximilian Terhalle die Idee vorstellen, Deutschland solle „noch unter der Biden-Administration jene Nuklearsprengköpfe strategischer Natur […] kaufen, die die Amerikaner eingemottet haben. Davon müsste man mindestens 1000 plus abkaufen und quer über Europa verteilen.“ (8) Markus Kaim von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), die die Bundesregierung und den Bundestag berät, durfte schon vor Weihnachten bei spiegel.de seine Idee vortragen, „eigenständig deutsche Nuklearwaffen zu entwickeln und damit eine Form der nationalen nuklearen Abschreckung aufzubauen, die der Frankreichs oder Großbritanniens vergleichbar wäre“. (9)

Präventivschlag gegen eigenständige deutsche Atombewaffnung
Kaims SWP-Kolleg*innen Claudia Major und Liviu Horovitz widersprachen ihm sogleich: „Um die eigene Bombe zu bauen, würde Deutschland aus dem Atomwaffensperrvertrag austreten, den es bislang unterstützt. Das hat bislang nur Nordkorea gemacht. Berlin würde so nicht nur zu einem Paria, sondern zu einer Bedrohung für Europa“. (10) Und sie erläutern weiter: „Wie würde z.B. Russland reagieren? Das Proliferationsrisiko, also dass Staaten nach eigenen Atomwaffen als ultimative Lebensversicherung greifen, würde steigen. Denn wenn sich Deutschland die Bombe holt – warum dann nicht auch andere? Eine nuklearisierte Welt wäre nicht nur instabil und gefährlich, sondern auch konfrontativer.“ Sie warnen sogar davor, dass Russland dadurch „zu einem Präventivschlag gegen Deutschland verleitet“ werden könnte. Eine eigenständige europäische Atombewaffnung halten sie nur im Rahmen eines europäischen Bundesstaates für realistisch. Da das kurzfristig nicht umsetzbar ist, sprechen sie sich für ein Festhalten am amerikanischen Nuklearschirm für Europa aus. Ein paar Wochen vor der Infragestellung der Beistandsverpflichtung durch Trump schrieben sie jedoch auch: „Wenn Washington auch nur ein Element infrage stellt, ob das politische Versprechen, die konventionellen oder die nuklearen Beiträge, dann steht alles infrage. Und dafür müssen die USA die Nato nicht verlassen. Es reicht, wenn ein erratisch-selektiver Präsident Trump den Artikel 5 politisch infrage stellt oder mit Bedingungen verknüpft, etwa: Nur wer zahlt, wird verteidigt. Allein der Zweifel, ob die USA es noch ernst meinen, würde die Beistandsklausel unterminieren.“

Atomwaffeneinsatz im Ukraine-Krieg
Seitdem Trump das ‚Abschreckungsgebäude der NATO‘ als Illusion erscheinen ließ, verstärken sich in Deutschland die Forderungen nach einer atomaren und konventionellen Aufrüstung Europas. Zudem wollen große Teile der Politik die Ukraine so unterstützen, dass sie Russland aus allen besetzten Gebieten, auch im Donbass und auf der Krim, vertreiben kann. Wie brisant eine solche Zielvorgabe sein kann, beschrieb die New York Times am 9. März 2024: US-Präsident Biden habe im Herbst 2022 mit einem russischen Nuklearschlag im Ukraine-Krieg gerechnet für den Fall einer Rückeroberung der Krim. Den US-Geheimdiensten hätten Informationen vorgelegen, die eine solche Eskalation als hochgradig wahrscheinlich erscheinen ließen. Auch Bundeskanzler Scholz sei darüber informiert worden. (11)

Der Ukraine-Krieg birgt somit in zweierlei Hinsicht ein großes Eskalationspotential. Wenn die aktuell unterlegen erscheinende Ukraine den Krieg zu verlieren droht, kann es auch zu einer direkten Kriegsbeteiligung von NATO-Staaten kommen. Frankreichs Präsident Macron schloss für den Fall den Einsatz von Bodentruppen nicht aus. (12) Und umgekehrt, sollte die Ukraine mit einer entsprechenden Unterstützung aus der NATO doch noch zu einer konventionellen Überlegenheit gelangen, könnten erneut wie im Herbst 2022 Atomwaffeneinsätze drohen. Wenn in dieser Zwickmühle ein festgefahrener Frontverlauf einer Eskalation vorzuziehen ist, dann wäre es zur Verhinderung weiterer Opfer besser, bald zu einem Waffenstillstand zu kommen. Zu hoffen ist, dass zumindest im Hintergrund ernsthafte Gespräche über die Optionen eines Waffenstillstands schon geführt werden und nicht nur von militärischen Siegen geträumt wird. Sonst kann – je nach Kriegsverlauf – die eine oder die andere Eskalation schon in diesem Jahr drohen. (13)

Anmerkungen
1 https://www.ardmediathek.de/video/bericht-aus-berlin/bericht-aus-berlin/...
2 https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2021/kw06-de-atomwaffenver...
3 Vgl. Ulrich Stadtmann: Neue nukleare Aufrüstung in Deutschland?, in Friedensforum 6-2023: https://www.friedenskooperative.de/friedensforum/ausgaben/6-2023-bundesw...
4 https://www.spiegel.de/politik/joschka-fischer-fordert-neue-atomwaffen-i...
5 https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/verteidigung-atomare-absch...
6 https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/schaeuble-und-gueler-fuer-ein...
7 https://www.faz.net/aktuell/politik/sicherheitskonferenz/trumps-freibrie...
8 https://www.welt.de/politik/deutschland/plus250067928/Aufruestung-in-Eur...?
9 https://www.spiegel.de/politik/deutschland/verteidigungsfaehigkeit-donal...
10 https://www.spiegel.de/politik/deutschland/aufruestung-der-gefaehrliche-...
11 https://www.nytimes.com/2024/03/09/us/politics/biden-nuclear-russia-ukra...
12 https://www.tagesschau.de/ausland/europa/macron-bodentruppen-ukraine-100...
13 Vgl. auch: https://www.soziale-verteidigung.de/artikel/steuert-uns-dritten-weltkrie...

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Ulrich Stadtmann ist im Vorstand des Bundes für soziale Verteidigung. (BSV)