Die Bürgerliche Friedensbewegung bis 1933

von Guido Grünewald
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Am 9. November 1892 wurde in Berlin die Deutsche Friedensgesell­schaft (DFG) gegründet. Im Vergleich zu den europäischen Nachbar­staaten erfolgte diese erste dauerhafte Etablierung einer deutschen Friedensorganisation ausgesprochen spät. Im öffentlichen Bewußtsein des durch "Blut und Eisen" sowie drei Kriege zusammengeschweißten Deutschen Kaiserreichs war eine deutsche Friedensgesellschaft ein Anachronismus; der Krieg galt hier keineswegs als Übel, sondern als selbstverständlicher Bestandteil der Weltordnung und als Moment na­tionaler Kraftentfaltung, in dem die höchsten Tugenden der Bürger zum Tragen kamen.

Die DFG, die bis 1914 auf 80 Ortsgrup­pen mit knapp 10.000 Mitgliedern an­wuchs, stand ganz in der Tradition des aufgeklärten Bürgertums und begriff sich anfangs als unpolitischer Verein. Sie hing einem ungebrochenen Fort­schrittsoptimismus an, der den Krieg als zivilisatorische Rückständigkeit begriff, und war damit Teil einer gegen Ende des 19. Jahrhunderts verbreiteten bür­gerlichen Reformbewegung (Abstinenz­ler, Bodenreformbewegung, Vegetarier usw.), deren Ziel eine gesell­schaftliche und kulturelle Erneuerung war. Die Friedensgesellschaft besaß vor 1914 einen ausgesprochenen Honoratio­rencharakter: Während die einfachen Mitglieder hauptsächlich kleinbürgerli­chen Kreisen entstammten, setzten sich die Vorstandsmitglieder vornehmlich aus Angehörigen des mittleren Bürger­tums zusammen. Frauen waren relativ stark vertreten, hatten aber - nicht nur aufgrund des restriktiven preußischen Vereinsgesetzes - nur wenig Spielraum für eigenständige Aktivitäten.

Die Friedensgesellschaft versuchte ihre Ziele durch eine Doppelstrategie zu er­reichen: durch Aufklärung der Bürger und durch Appelle an die Mächtigen, wobei sie die eigenen Möglichkeiten oft naiv überschätzte. Um die Jahrhundert­wende veränderte sich der Forderungs­katalog der PazifistInnen. War im Gründungsaufruf noch enthusiastisch die obligatorische Schiedsgerichtsbar­keit verlangt worden, richteten sich die Forderungen jetzt vorsichtiger auf den Ausbau der auf der Haager Konferenz beschlossenen Institutionen. Bei der Forderung nach einer Staatenkonföde­ration stand zunächst die Einigung Eu­ropas im Mittelpunkt, die allerdings nicht machtstaatlich konzipiert, sondern wirtschafts- und kulturpolitisch ausge­richtet war. Nach den beiden Haager Konferenzen trat der Gedanke einer Weltkonföderation in den Vordergrund.

Die PazifistInnen forderten außerdem die internationale und gleichmäßige Verringerung der Rüstungen, da sie dem Wettrüsten eine kriegstreiberische Wir­kung zusprachen. Demgegenüber hielt Alfred Hermann Fried, Mitgründer der DFG und "Cheftheoretiker" des deutschsprachigen Pazifismus vor 1914, Rüstungen im Sinne einer Abschrek­kungstheorie bis zur Überwindung der zwischenstaatlichen Anarchie für not­wendig. Fried skizzierte in seinem "or­ganisatorischen" oder "revolutionären" Pazifismus die Theorie eines weltge­schichtlichen Evolutions­prozesses, der mittels wirtschaftlicher Verflechtungen und zunehmender Kommunikationsver­bindungen die vor­herrschende zwi­schenstaatliche Anar­chie durch eine in­ternationale Rechtsor­ganisation und letztlich durch eine in­ternationale politi­sche Gemeinschaft er­setzen sollte, zu der sich die Staaten freiwillig zusam­menschlössen. Aufgabe der PazifistIn­nen war es nur noch, die­sen naturnot­wendigen Prozess durch ihre Aufklä­rungsarbeit zu beschleunigen.

Mit der Zunahme der internationalen Spannungen im Zeichen imperialisti­scher Konkurrenz und der aggressiven alldeutsch-imperialistischen Propaganda verlor die DFG ab 1905 ihre Scheu vor politischen Stellungnahmen. Sie denun­zierte das Wettrüsten, richtete zahlreiche diesbezügliche Eingaben an Reichstag und Regierung und machte jetzt direkt Front gegen die militaristisch-imperiali­stischen Propagandaverbände wie den Deutschen Wehrverein. Allerdings dachten die PazifistInnen bei aller Kritik an der aktuellen Außenpolitik national: so wie sie für die Vaterlandsverteidi­gung eintraten, eine einseitige Abrü­stung und die Kriegsdienstverweigerung ablehnten, waren sie im Hinblick etwa auf Elsaß-Lothringen und Polen auf die Wahrung deutscher Interessen bedacht.

Auch innenpolitisch waren die Pazifi­stInnen, die größtenteils den liberal-frei­sinnigen Parteien nahestanden, am status quo orientiert. Zwar artikulierten sich in den pazifistischen Publikationen wiederholt sozialreformerische Gedan­ken. Die PazifistInnen erkannten jedoch nicht den Zusammenhang zwischen dem autoritär-demokratiefeindlichen inneren Zustand des Kaiserreichs und seiner so­zialimperialistisch motivierten äußeren Expansionspolitik. Sie sahen in der Her­stellung eines völkerrechtlich gesicher­ten Friedens den einzigen Weg, soziale Gegensätze im Staateninnern abzu­bauen. Zu einer Zusammenarbeit zwi­schen Friedens- und Arbeiterbewegung kam es daher im Deutschen Kaiserreich nicht. Die PazifistInnen blieben viel­mehr politisch wie gesellschaftlich iso­liert. Eine bürgerliche Karriere war mit einem ausgeprägt pazifistischen Enga­gement nicht zu vereinbaren, wie meh­rere ihrer Protagonisten schmerzlich er­fahren mußten.

Der Beginn des 1. Weltkriegs stürzte die PazifistInnen in eine tiefe Orientie­rungskrise. Wie die große Mehrheit der Sozialdemokratie waren auch sie über­zeugt, daß Deutschland einen Verteidi­gungskrieg führe. Unter diesen Umstän­den war es für die PazifistInnen selbst­verständlich, sich an der nationalen Verteidigung zu beteiligen. Gleichzeitig traten sie von Beginn an chauvinisti­schem Hass entgegen und setzten sich für einen Verständigungsfrieden ein, so daß sie sich rasch zwischen den Stühlen wiederfanden.

Ab Herbst 1915 war jede pazifistische Aktivität aufgrund von Verboten, Zen­sur und anderer Repressionsmaßnahmen der Militärbehörden weitgehend lahm­gelegt. Der Versuch, mit der Gründung einer harmlos klingenden Ersatzorgani­sation (Zentralstelle Völkerrecht) im Juli 1916 die behördlichen Maßnahmen zu umgehen, schlug fehl. Der Mitglie­derbestand der DFG schrumpfte bis zum Kriegsende auf 5.000 Mitglieder.

Im Verlauf des Krieges erkannten die PazifistInnen die Interdependenz zwi­schen der Außenpolitik und den inner­staatlichen Verhältnissen. Einen ersten Markierungspunkt setzte im November 1914 die Gründung des "Bundes Neues Vaterland", der das pazifistische Pro­gramm eines Verständigungsfriedens mit grundlegenden innenpolitischen De­mokratisierungsforderungen ver­knüpfte. Auch in der DFG setzte sich allmählich die Erkenntnis durch, daß die Verwirk­lichung der pazifistischen Frie­denskonzeption ohne Demokratisierung im Innern nicht zu verwirklichen war. Aufgrund dieser Neuorientierung und einer zunehmenden Übereinstimmung in den friedenspolitischen Vorstellungen kam es während des Krieges zu einem engeren Kontakt mit der Sozialdemo­kratie und besonders der sozialdemo­kratischen Minderheitsgruppe (ab 1917 USPD); die soziale Basis des deutschen Pazifismus verbreiterte sich.

Nach dem Zusammenbruch des Kaiser­reichs schien die Situation für die Frie­densbewegung günstig. Die DFG stei­gerte ihre Anhängerschaft bis 1926 auf 30.000 Mitglieder in 300 Ortsgruppen. Die Wochenzeitung des Westdeutschen Landesverbandes der DFG, "Das An­dere Deutschland", erreichte 1928 eine Auflage von 42.000 Exemplaren. Ar­beiter und kleine Angestellte stellten jetzt zumindest im Westdeutschen Lan­desverband das Gros der Mitgliedschaft. Parteipolitisch ergab sich eine eindeu­tige Verschiebung nach links zur SPD und anderen Linksparteien.

Bereits 1919/20 setzte jedoch eine neue PazifistInnenverfolgung in Form von Versammlungssprengungen, Misshandlungen, Attentatsversuchen und auch Mord ein. Zwar beruhigte sich die Lage ab 1921, aber bereits mit der Ruhrbeset­zung 1923 und dem nachfolgenden Aus­nahmezustand kam es wieder zu Ver­sammlungsstörungen durch die na­tionale Rechte sowie zu Versammlungs- und Zeitungsverboten durch die Behör­den. In den folgenden Jahren wurde der Vorwurf des Landesverrats zum bevor­zugten Repressionsmittel gegen Pazifi­stInnen, bis in der Endphase der Repu­blik der direkte Terror der Nationalso­zialisten und erneute Verbote der Be­hörden einsetzten.

Die Friedensbewegung differenzierte sich nach dem 1. Weltkrieg inhaltlich wie organisatorisch. Mit dem Bund Neues Vaterland (ab 1922 Deutsche Liga für Menschenrechte), dem Frie­densbund der Kriegsteilnehmer, dem Versöhnungsbund, dem Friedensbund Deutscher Katholiken, dem Bund der Kriegsdienstgegner, der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit und weiteren kleinen Verbänden traten neue Friedensorganisationen auf, die Ende 1921 / Anfang 1922 zusammen mit kulturpolitischen Vereinigungen das Deutsche Friedenskartell bildeten. Das Kartell, ein lockerer Zusammenschluss zur Koordination pazifistischer Aktivi­täten, zählte 1928 auf seinem Höhe­punkt 22 Mitgliedsorganisationen mit zusammen maximal 100.000 Mitglie­dern.

Größte Friedensorganisation blieb die DFG, in der fast alle pazifistischen Strömungen vertreten waren und in der es demzufolge oft zu heftigen Ausein­andersetzungen kam. Die "organisatori­schen PazifistInnen" blie­ben außenpoli­tisch und am Völkerrecht orientiert. Sie wollten den Frieden durch den Ausbau der wirtschaftlichen, sozia­len und recht­lichen Beziehungen zwi­schen den Staa­ten sichern. Das wichtig­ste Mittel der Friedenssicherung sahen sie im Völker­bund, dessen Ausbau und Demokratisie­rung sie forderten. Die organisatori­schen PazifistInnen bejahten weiterhin die militärische Landesverteidigung und einen Sanktionskrieg des Völkerbundes. Ihre Zielgruppe war nicht die breite Be­völkerung, sondern die republikanischen Parteien und die Regierung, auf die sie Einfluss zu ge­winnen hofften.

Die "radikalen PazifistInnen" lehnten jeden Krieg bedingungslos ab. Kriegs­dienstverweigerung und Generalstreik waren für sie die wichtigsten Mittel zur Verhinderung von Kriegen. Sie waren mehrheitlich antikapitalistisch einge­stellt und standen sozialistischen Ideen nahe. Kurt Hiller gründete 1926 die kleine Gruppe Revolutionärer Pazifi­sten, in deren Augen die soziale Revo­lution und die Eroberung der politischen Macht bei einem drohenden Krieg die wichtigsten Friedenstechniken waren. Hiller lehnte zwar jeden - auch revolu­tionären - Wehrzwang ab, billigte aber Gewaltanwendung zur Überwindung des als kriegsträchtig wahrgenommenen kapitalistischen Systems.

Die "kämpferischen PazifistInnen" des Westdeutschen Landesverbandes der DFG entstammten weitgehend der "Frontgeneration" des 1. Weltkriegs. Sie sahen in der Anerkennung der deutschen Kriegsschuld die notwendige Vorbedin­gung jeder pazifistischen und antimilita­ristischen Politik. Die kämpferischen PazifistInnen akzeptierten den Versailler Vertrag als Ausfluss der deutschen Kriegsschuld; sie unterstützten den Völ­kerbund, propagierten gleichzeitig Mas­senkriegsdienstverweigerung und Gene­ralstreik und setzten sich engagiert für eine Verständigung mit Frankreich und Polen ein. Ihr vorrangiges Kampffeld sahen die kämpferischen PazifistInnen freilich in der Innenpolitik. Hier halt es, die preußisch-militaristischen Bastionen zu schleifen und der alldeutschen Reak­tion eine geschlossene pazifistische Kampffront entgegenzustellen. Zwar waren die kämpferischen PazifistInnen mehrheitlich sozialdemokratisch oder linkssozialistisch eingestellt, doch ziel­ten sie auf eine eigene Massenbasis ab, um Druck im Sinne ihrer Vorstellungen ausüben zu können.

Teilweise heftige Auseinandersetzungen lieferten sich die PazifistInnen in der Bewertung der Kriegsschuldfrage (Al­lein- oder Mitschuld Deutschlands), ih­rer Einstellung zu Wehrpflicht und Reichswehr (Abschaffung oder Repu­blikanisierung) sowie zur Kriegsdienst­verweigerung. Gemeinsam - wenn auch mit unterschiedlichen Argumenten und Aktionsformen - engagierten sie sich für den Völkerbund, die Verständigung mit Frankreich und Polen (ein Teil der Pazi­fistInnen wollte allerdings die Ostgrenze nicht anerkennen und trat für eine fried­liche Revision ein) sowie für Abrüstung. Darunter verstanden die PazifistInnen nicht nur den technischen Vorgang der Entwaffnung, sondern vor allem auch eine "moralische Abrüstung", die "Ab­rüstung der Köpfe" (Paul von Schoen­aich) im Sinne einer bewussten Abkehr von der Gewaltpolitik. Sie deckten die geheimen deutschen Rüstungsmaßnah­men auf - Zusammenarbeit mit paramili­tärischen Kampfverbänden, Aufbau ei­ner "Schwarzen Reichswehr", Einstel­lung von Zeitfreiwilligen, Zu­sammen­arbeit mit der Roten Armee -, in denen sie die Vorbereitung eines Re­vanche­krieges sahen, und wurden dar­aufhin mit Landesverratsprozessen überzogen, die in einer Reihe von Fällen zu Verur­teilungen führten. Die Pazifi­stInnen be­teiligten sich großenteils am Volksent­scheid gegen die Fürstenabfin­dung 1926 und dem Volksbegehren ge­gen den Bau von Panzerkreuzern 1928. Gleichzeitig traten sie aktiv für die Re­publik ein und forderten eine Begren­zung der dem Reichspräsidenten in Art. 48 der Verfas­sung zugestandenen au­ßerordentlichen Vollmachten.

SPD und Friedensbewegung teilten nach dem 1. Weltkrieg eine Reihe gemeinsa­mer Grundüberzeugungen: Ablehnung des Krieges als Mittel der Politik, Be­für­wortung einer aktiven Verständi­gungs- und Abrüstungspolitik, Bejahung des Völkerbundes und Unterstützung der Republik. Konflikte ergaben sich ab Mitte der 20er Jahre zunehmend in mi­litär- und rüstungspolitischen Fragen sowie in der Haltung gegenüber dem er­starkenden aggressiven deutschen Na­tionalismus. Vor allem der kämpferische Elan der PazifistInnen des Westdeut­schen Landesverbandes, die 1929 in der DFG die Führung übernahmen, stieß sich mit dem Attentismus der SPD-Füh­rung. Die Konflikte spitzten sich so stark zu, daß der SPD-Vorstand 1931 einen Unvereinbarkeitsbeschluß gegen­über der DFG fasste. Da auch die libe­ralen Parteien längst nach rechts gerückt waren, sah sich die DFG in der End­phase der Republik isoliert, zumal die kämpferischen PazifistInnen auch ge­genüber anderen pazifistischen Strö­mungen kompromisslos auf ihrer Strate­gie beharrten. Mit ihrer mutigen Offen­sivstrategie gegen die Nationalsoziali­sten und ihre Verbündeten, die sie be­reits 1924 unter dem Slogan "Stahlhelm und Hakenkreuz sind Deutschlands Un­tergang" bekämpft hatten, konnten die kämpferischen PazifistInnen zwar 1930/31 nochmals Terrain gewinnen, letztlich standen sie aber auf verlorenem Posten. Mit der Machtübernahme durch die Nazis schlug für viele PazifistInnen die Stunde der Unterdrückung und Ver­folgung.

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Dr. Guido Grünewald ist internationaler Sprecher der DFG-VK und Vorstandsmitglied des EBCO.