Menschenrechte

Die Gewalt der Grenzen gegen das Recht auf globale Bewegungsfreiheit

von Dirk Vogelskamp

In der aktuellen Situation müsste man die Staaten Europas eigentlich rechtlich zur Verantwortung ziehen. Sie sind dabei, einen Völkermord loszutreten, der nicht gegen die Gesetze begangen, sondern von diesen verursacht wird. Die Wanderung von Millionen von Menschen lässt sich nicht verhindern … Was es zu verhindern gilt, ist, dass der Ausnahmezustand zum Dauerzustand wird. … Stattdessen gilt es ‚Bewegungsfreiheit‘ als neues unveräußerliches Menschenrecht anzuerkennen.“  Leoluca Orlando (1)

Wie der temporäre Ausnahmezustand der Rechtlosigkeit an den europäischen Außengrenzen sich in einen gewaltförmigen Dauerzustand zu transformieren abzeichnet, können die aktuellen Entwicklungen in der europäischen Migrationspolitik verdeutlichen. Bei einem Treffen im Elysée-Palast Ende August 2017 vereinbarten die EU-StaatschefInnen aus Spanien, Italien, Frankreich und Deutschland sowie die Hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik mit den Präsidenten der afrikanischen Republiken Niger und Tschad sowie mit dem Vorsitzenden des libyschen Präsidialrates, die europäischen Grenzen gegen die Überlebensmigration abzuschotten: Ein todbringender Aktionsplan. Denn zukünftig sollen bereits in den Sahelstaaten Niger und Tschad mit ihren bitterarmen Gesellschaften sowie im kriegsgeschundenen und milizenregierten Libyen exterritoriale Flüchtlingslager die afrikanischen Fluchtmigrationen von Europa fernhalten.

Ungeklärt bleibt in dem Aktionsplan, wie Menschen auf der Suche nach Schutz und Überleben überhaupt in diese umzäunten „Orte des Grauens“ gelangen, in denen sie zu bloßen Objekten der Migrationskontrolle und -auslese herabgesetzt werden. Es ist dabei völlig unwichtig, wie diese Lager offiziell und euphemistisch betitelt und von wem sie kollaborierend mitverwaltet werden. Das UNHCR verhandelt gegenwärtig beispielsweise in Libyen über ein Aufnahmelager mit eintausend Plätzen unter UN-Kontrolle. Werden die Menschen auf ihren langen und entbehrungsreichen Flucht- und Migrationsrouten diese Migrationslager etwa als Endstation ihres selbstbestimmten Aufbruchs freiwillig aufsuchen? Nur um sich dort bürokratisch als „Wirtschafts- oder Armutsflüchtlinge“ etikettieren zu lassen? Andernfalls, um als schutzwürdig anerkannte Flüchtlinge auf einen vage in Aussicht gestellten Resettlement-Platz zu hoffen? Oder werden sie in jene zukünftigen Internierungslager gewaltsam gezwungen werden müssen, so wie derzeit in Libyen, dessen Übergangsregierung die bewaffneten Küstenpatrouillen, die sich vorwiegend aus geschäftstüchtigen Milizionären zusammensetzen, europäisch ausbilden und die sich die Zusammenarbeit bei der Grenzkontrolle und bei den Rückführungen der Boatpeople in Millionenhöhe finanzieren lässt? Das Letztere ist wohl anzunehmen. Und schon heute verschwinden tausende Menschen in libysche Internierungslager und Haftzentren, in denen sie fortgesetzt misshandelt, gequält und gefoltert werden. Bereits im Januar dieses Jahres wurde die Bundesregierung in einem Bericht des Auswärtigen Amtes über tägliche Exekutionen informiert. Die EU jedoch lobte das von der italienischen Regierung angestoßene Abkommen mit der libyschen Übergangsregierung und verweist rechtfertigend auf den aktuellen Rückgang der Passagen über das zentrale Mittelmeer. Dadurch sei das Geschäftsmodell der Schlepper untergraben worden. Weniger Menschen seien ertrunken. Doch zu welchem Preis? Die Ergebnisse des Flüchtlingsgipfels hält PRO ASYL für eine Irreführung der Öffentlichkeit, „der suggeriert werden soll, das System des Flüchtlingsschutzes müsse zerstört werden, damit Flüchtlinge gerettet werden“.

Die Regierungen des Tschads und des Nigers jedenfalls werden demnächst weitere 50 Millionen Euro erhalten, um ihre kilometerlangen Grenzen zu Libyen abzusichern und den Zuwanderungsdruck an Libyens Südgrenze hochgerüstet zu vermindern. Trainings und Bewaffnung der Grenzeinheiten sowie technisches Überwachungsgerät und geländefähige Fahrzeuge werden mitgeliefert. Doch wohin mit den Unerwünschten aus der Überlebensmigration? Wohl geradewegs in die nun geplanten afrikanischen Aufbewahrungs- und Selektionslager! Die EU unternimmt aktuell einen erneuten Anlauf, exterritoriale EU-Lager in Afrika zu installieren und die ohnedies extrem militarisierte Grenzsicherung im Mittelmeer, die seit der Jahrhundertwende rund 30.000 Menschenleben forderte, bis weit in die Sahelzone vorzuverlegen. Dazu macht sie sich die Regime der verarmten Herkunfts- und Transitstaaten finanziell fügsam: Migrationspartnerschaften wird das Geschäft genannt. Es entstehen dadurch an den Grenzen rechtsfreie Gewalträume, in denen zahllose Milizen, Grenzpolizeien, Militärs, Nachrichtendienste und bewaffnete Schleppernetzwerke agieren, die sich zu Todeszonen verdichten. Die Leidtragenden sind schon heute die geschundenen und europäisch unerwünschten Überlebensmigrantinnen und -migranten, die möglichst von der europäischen Wohlstandszitadelle ferngehalten werden sollen.

Der Kampf um Selbstbestimmung und Bewegungsfreiheit
Die Menschen auf der Flucht und in der Migration nehmen für sich das Recht auf globale Bewegungsfreiheit in Anspruch, womit sie nicht mehr als ihrer menschenrechtlich garantierten Würde und Selbstbestimmung (Autonomie), nicht mehr als der Freiheit und Gleichheit aller Menschen praktisch Ausdruck verleihen. Wer anders sollte diese universellen menschenrechtlichen Prinzipien von Freiheit und Gleichheit aller Menschen in Anspruch nehmen als eben diejenigen, denen sie verwehrt werden? Kein Mensch hat Einfluss darauf, wo und unter welchen soziökonomischen Bedingungen er auf die Welt kommt. 

Wie aber können die Rechte des Einzelnen gegenüber Kollektiven (Staaten) zur Geltung gebracht werden? Ein Recht, das dem einzelnen „das Recht auf Rechte“ einräumt, welches entsprechend der liberalen Rechtsform kein subjektives Recht ist. Hannah Arendt leitet es aus der Mitgliedschaft des Einzelnen an der Menschheit ab, entsprechend ihrer politischen Vorstellung, dass der Mensch erst in Gemeinschaft zum Menschen wird. „Aber wir wissen auch, dass es noch ein anderes Recht geben muss außer jenen sogenannten 'unveränderlichen' Menschenrechten – die eigentlich doch nur Staatsbürgerrechte sind und sich nach historischen und anderen Umständen ändern – ein Recht, das nicht 'aus der Nation' entspringt und das einer anderen Garantie bedarf als der nationalen, nämlich das Recht jedes Menschen auf Mitgliedschaft in einem politischen Gemeinwesen.“ (3) Anders formuliert: Menschen bedürfen des Rechts auf einen Ort, an dem sie das politische, soziale und kulturelle Leben selbstbestimmt mitbestimmen und an dem sie sich ihren individuellen Fähigkeiten und Bedürfnissen gemäß entfalten können. Eine Praxis, wie sie heute die „Cities of Solidarity and Sanctuary“ entwickeln. Ein Recht, welches ohne das Recht auf globale Bewegungsfreiheit allerdings obsolet ist. Es gibt hingegen keine überzeugenden, menschenrechtlich angemessenen Argumente, Menschen das Recht auf globale Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit zu verweigern, denn damit würde zugleich in das Recht des Menschen auf eine selbstbestimmte Lebensführung als Ausfluss menschlicher Würde und Freiheit mit Zwang und Gewalt eingegriffen. (4)   

Insofern nehmen in der Überlebensmigration Menschen bereits Rechte in Anspruch, die ihnen zwar formal (und theoretisch) als Menschenrechte zugestanden werden könnten, aber ohne nationalstaatliche Garantie noch gegenstandslos, also leere Rechte sind. Das ist die Rechtlosigkeit „der Flüchtlinge“, von der schon Hannah Arendt gesprochen hat. Erreichen und überschreiten sie aber lebend die Grenzen, erhalten sie damit erst die Möglichkeit, jene Menschen- als StaatsbürgerInnenrechte überhaupt in Anspruch nehmen zu können. In dem Intervall von Migration und Ankunft handeln sie jedoch schon als Subjekte der umstrittenen und westlich eigeninteressiert verworfenen Menschenrechte. Und sie können sie durchsetzen, wie der „kurze Sommer der Migration“ gezeigt hat. Menschenrechte bleiben stets umkämpft. Die Menschen in der Überlebensmigration, ganz gleich aus welchen Gründen sie sich aufmachen (Verfolgung, Krieg, Armut, Perspektivlosigkeit …) mit ihren Bedürfnissen nach einem „sozialen Ort“ artikulieren damit immer schon einen Dissens zu den gegebenen nationalstaatlich und kapitalistisch geordneten Herrschaftsverhältnissen in einer Welt, die durch abgrundtiefe Ungleichheit gekennzeichnet ist. Sie sind die wahren Subjekte der ungeteilten Menschenrechte. Es ist ein Menschenrecht schon jetzt und noch nicht! Eine Politik, die das Leben der Menschen in der Überlebensmigration strategisch verwirft, ist hingegen eine, die jenseits der Menschenrechte und der Humanität angesiedelt ist. Es ist deshalb müßig, in diesen wahrlich unzivilisierten Zeiten über open borders/no borders zu spekulieren (was wäre wenn …). Solange Menschen selbstbestimmt dieses Menschenrecht in ihrem Handeln in Anspruch nehmen, hat ihnen allein unsere ungeteilte Solidarität und praktische Unterstützung zu gelten, wo und wie auch immer. Denn das Unrecht bleibt Unrecht, auch wenn aktuell keine Mehrheiten für seine Überwindung organisiert werden können.

Anmerkungen

1 Bürgermeister von Palermo, der Hauptstadt Siziliens, und Mitinitiator der Charta von Palermo (2015).  Hier zit. n. Luxemburg 1/2017: http://www.zeitschrift-luxemburg.de/meine-heimat-ist-dort-wo-ich-bleiben...

2 Vgl. Hannah Arendt, Es gibt nur ein einziges Menschenrecht (1949), wieder abgedruckt in: Die Revolution der Menschenrechte, hrsg. v. Christoph Menke und Francesca Raimondi, Frankfurt/M. 2011, S. 394-410. Hannah Arendt, Element und Ursprünge totaler Herrschaft, vor allem Kap. 9, Der Niedergang des Nationalstaates und das Ende der Menschenrechte, München 1986 (1951),  S. 406.

3 Vgl. Andreas Cassee, Globale Bewegungsfreiheit. Ein philosophisches Plädoyer für offene Grenzen. Berlin 2016

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Dirk Vogelskamp ist Referent des Komitee für Grundrechte und Demokratie.