Interview der Aachener Nachrichten mit Naqibullah Shorish

„Die Taliban wollen verhandeln“

von Joachim Zinsen
Krisen und Kriege
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( c ) Netzwerk Friedenskooperative

Naqibullah Shorish ist in Afghanistan ein einflußreicher Stammesführer. Um in seiner Heimat den Krieg zu beenden, hat er Kontakte zu den Aufständischen geknüpft. Im Westen stößt sein Plan auf Interesse. Er versucht seit Jahren, Kontakte zwischen dem Westen und den Aufständischen in seiner Heimat zu vermitteln. Vieles läuft dabei über Aachen. Das folgende Interview wurde für die Aachener Nachrichten (AN) geführt.

AN: Herr Shorish, seit zehn Jahren stehen westliche Truppen in Afghanistan. Wie sieht Ihre Bilanz aus?

Shorish: Verheerend. Das wichtigste Ziel – nämlich in Afghanistan Frieden zu schaffen – haben die Truppen nicht erreicht. Die Lage ist stattdessen ständig schlimmer geworden. Allein für das vergangene Jahr haben die Vereinten Nationen eine weitere Zunahme der Gewalt um 40 Prozent festgestellt. Wenn die Isaf-Truppenführung von militärischen Erfolgen beim Kampf gegen die Aufständischen spricht, dann erzählt sie die Unwahrheit.

AN: Welche Fehler hat der Westen gemacht?

Shorish: Zunächst hat er mit Hamid Karsai und den Warlords der Nordallianz auf die falschen Leute gesetzt. Diese korrupte Clique ist ohne Rückhalt in der afghanischen Bevölkerung, weil an den Händen vieler Warlords Blut klebt. Es sind keine Demokraten. Sie haben Gesetze erlassen, die sie selbst nicht achten. Der zweite große Fehler war: Durch das brutale militärische Vorgehen der Isaf-Truppen wurden viele Afghanen an die Seite der Taliban gebombt.

AN: Der Westen hat immer erklärt, Afghanistan demokratisieren zu wollen.

Shorish: Wenn es ihm wirklich um Demokratie und Menschenrechte gegangen wäre, hätte er sich nicht so unintelligent angestellt. Die USA wollten etwas anderes – nämlich Osama bin Laden töten. Das ist inzwischen erreicht. Deshalb sollte der Westen seine Truppen endlich abziehen.

AN: Die US-Amerikaner und die Nato-Verbündeten planen das. Bis Ende 2014 sollen ihre Kampftruppen raus aus Afghanistan sein. Was passiert dann?

Shorish: Wenn die Isaf-Truppen das Land verlassen haben, wird sich die Regierung Karsai nicht mehr halten können. Natürlich ist die Gefahr groß, dass Afghanistan dann endgültig im Bürgerkrieg versinkt. Um das zu verhindern, muss ein Versöhnungskurs eingeleitet werden und eine tatsächliche Demokratisierung des Landes beginnen – und zwar möglichst schnell, denn die Uhr tickt.

AN: Wie soll das gehen?

Shorish: Wir brauchen vertrauensbildende Maßnahmen zwischen den Konfliktparteien. Dazu müssen als erste Schritte ein Waffenstillstand vereinbart und die Gefangenen ausgetauscht werden. Karsai schafft das nicht. Wir brauchen eine neue provisorische Regierung, die von der afghanischen Bevölkerung wirklich akzeptiert wird.

AN: In der auch die Taliban sitzen?

Shorish: Grundgedanke ist, die traditionellen afghanischen Strukturen stärker zu betonen. Wir müssen eine Loya Jirga einberufen, eine große nationale Versammlung, in der alle afghanischen Stämme vertreten sind. Sie muss eine Verfassung ausarbeiten. Die provisorische Regierung muss den Übergangsprozess schaffen, die Entwaffnung der Konfliktparteien kontrollieren und den Abzug der westlichen Truppen begleiten. Am Ende stehen Wahlen, an denen auch die Taliban als politische Partei teilnehmen können.

AN: Sind die Taliban dazu überhaupt bereit?

Shorish: Ich habe seit langer Zeit Kontakte zu den Taliban. Sie sind bereit, über meinen Friedensplan zu verhandeln, haben ihn im Grundsatz akzeptiert.

AN: Auch die Regierung Karsai behauptet, sie stehe in Kontakt mit den Taliban.

Shorish: Die Taliban wollen nicht mit Karsai verhandeln. Dessen Leute haben mit einem Gemüsehändler gesprochen, aber nicht mit den Spitzen der Taliban.

AN: Zu denen Sie aber Kontakt haben?

Shorish: Ja, ich stehe in Verbindung mit der Peschawar-Quetta Schura, also dem 40-köpfigen Zirkel um Mullah Omar. Die Isaf-Führung weiß das. Durch meine Vermittlung hat es im Sommer des vergangenen Jahres in Kabul zwei Geheimtreffen zwischen Isaf-Offizieren und hohen Taliban-Funktionären gegeben. Es wurde damals über einen Waffenstillstand in einer Provinz verhandelt. Der Plan war, dass das Gebiet gemeinsam von Karsai-Leuten und den Taliban verwaltet werden sollte. Es sollte ein Modell werden, das später auf das gesamte Land hätte übertragen werden können. Leider ist daraus nichts geworden, weil die Isaf-Truppen den Taliban keine Sicherheitsgarantien geben wollten. Sie haben letztlich verlangt, dass die Aufständischen ihre Waffen abgeben und damit praktisch kapitulieren sollten. Das war das Ende der Gespräche.

AN: Wie haben Sie denn den Kontakt zur Isaf aufgebaut?

Shorish: Die ersten internationalen Kontakte konnte ich vor drei Jahren über Aachen, über Otmar Steinbicker knüpfen. Es war für mich sehr wichtig, dass Steinbicker gut vernetzt ist und mir bei Politikern, Diplomaten und Militärs die Türen geöffnet hat. Wir arbeiten nach wie vor intensiv zusammen, haben fast täglichen Kontakt. Steinbicker ist in die Vermittlungen auf westlicher Seite voll eingebunden und nimmt an den Gesprächen teil.

AN: Wie wurde Ihr Engagement aufgenommen?

Shorish: Anfangs habe ich in den Gesprächen eine deutliche Skepsis gespürt. Viele hier im Westen waren noch der Überzeugung, den Krieg gewinnen zu können und mit Karsai auf die richtige Person gesetzt zu haben. Da hieß es nach Gesprächen häufig: „Nett, Sie kennengelernt zu haben.“ Inzwischen werde ich oft mit den Worten verabschiedet: „Wann sehen wir Sie wieder?“ Es hat sich einiges geändert. Das Interesse an meinem Friedensplan auf politischer Entscheidungsebene ist inzwischen groß, weil man dort selbst keine konkreten Pläne hat, wie Afghanistan befriedet werden kann. Klar ist dort nur, dass Afghanistan in einer Sackgasse steckt. Hinzu kommt: Der Krieg kostet den Westen jedes Jahr Milliarden Euro. Das ist aus dem Fenster hinausgeworfenes Geld. Angesicht der weltweiten Finanzkrise erhöht das für die Politik den Handlungsdruck.

AN: Im Dezember soll es in Bonn eine große Afghanistan-Konferenz geben. Was erwarten Sie davon?

Shorish: Der Westen begeht wieder einen Fehler: Er spricht nur mit der Karsai-Regierung. Das bringt nichts. Wichtig ist, dass die Afghanen untereinander endlich ins Gespräch kommen.

Naqibullah Shorish (57) ist seit April 2011 Stammesführer der paschtunischen Kharoti. Mit rund drei Millionen Menschen sind die Kharoti der größte Stamm Afghanistans. 2008 war er Mitinitiator einer Friedens-Jirga, die in Opposition zu Präsident Hamid Karsai steht und in der Repräsentanten aller afghanischen Volksgruppen vertreten sind. Er ist ihr Beauftragter für internationale Kontakte. Shorish lebte fast drei Jahrzehnte im deutschen Exil - unter anderem in Düsseldorf. Er hatte Afghanistan 1980 verlassen, nachdem sowjetische Truppen in das Land einmarschiert waren.

Quelle: Aachener Nachrichten, Donnerstag, 20. Oktober 2011

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Joachim Zinsen arbeitet für die Aachener Nachrichten.