Kurdistan

Eine kurze Geschichte der kurdischen Bewegung

von Memo Sahin
Schwerpunkt
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Lange herrschte Friedhofsruhe in Kurdistan. In den ersten 20 Jahren der türkischen Republik wurde von den jung-türkischen Kemalisten um Atatürk eine Politik der verbrannten Erde im türkisch besetzten Teil Kurdistans praktiziert. Mit dieser Politik beabsichtigten sie, aus einem Vielvölkerstaat einen unitaristischen und türkisch homogenen Staat zu schmieden. Sie sahen die Vielfalt der Gesellschaft als totgefährlich an. Allein zwischen 1920 bis 1940 wurden weit über 100.000 Kurd*innen massakriert und ebenso viele in die rein türkischen Regionen deportiert und zur Assimilation gezwungen. In dieser Zeit wurde die kurdische Oberschicht fast gänzlich ausradiert.

Viele der kurdischen Intellektuellen, Stammesführer, religiösen Oberhäupter, die sich vor der Willkür der türkischen Machthaber retten konnten, setzten sich in die Nachbarländer, vor allem aber nach Syrisch-Kurdistan ab, das unter dem französischen Mandat stand.

Auferstehung der Todgesagten
Diese Friedhofsruhe dauerte bis Ende der 1950er Jahre. Dann traten die kurdischen Student*innen in Erscheinung. Der Kampf der Kurd*innen in Irakisch-Kurdistan beeinflusste sie. Nachdem der legendäre Kurdenführer Mustafa Barzani 1958 aus dem Exil in der Sowjetunion nach Irakisch-Kurdistan zurückgekehrt war, entstand auch in den Reihen der kurdischen Studierendenin der Türkei eine große Sympathie für ihn und seine Partei (Demokratische Partei Kurdistan, KDP). Sie vernetzten sich. Es dauerte nicht lange, bis der Staat hellhörig wurde und 1959 alle sich mit der kurdischen Sache sympathisierenden Studierenden verhaftete, deren Zahl um die 50 lag.

Die Jagd auf Kurd*innen wurde noch intensiviert. Nach dem Militärputsch 1960 wurden ohne einen Grund und ohne ein Gerichtsurteil 485 kurdische Stammesführer, Großgrundbesitzer und Hochschulabsolvent*innen festgenommen und in einem Lager bei Sivas interniert.

Die Rolle der 68er Generation
Die weltweite Studentenbewegung, die Befreiungskämpfe in den (ehemaligen) Kolonien sowie der Kampf der Kurd*innen in Irakisch-Kurdistan fanden Echo und Widerhall diesseits der türkischen Grenze - bei der Jugend und den Studierenden.

Die Gründung der ersten Student*innenorganisationen, der progressiven Gewerkschaften und der Arbeiterpartei der Türkei (TIP) sowie von Verlagen, die Werke von Marx, Engels und Lenin druckten, tragen die Unterschrift der 1960er Jahren. In diesen Jahren kämpften Kurd*innen und Türk*innen in gemeinsamen Strukturen.

Streiks an den Unis und Fabriken, Protestkundgebungen gegen die USA und NATO, Solidaritätsaktionen mit den Befreiungsbewegungen begleiteten das Erwachen der türkischen und kurdischen Jugend für Demokratie und Freiheit.

Da viele dieser Organisationen und Strukturen von kurdischen Akteur*innen geleitet und der überwiegende Teil der Aktionen in den kurdischen Gebieten stattfanden, begann eine neue Zeit des Selbstbewusstseins in der kurdischen Jugend.

Diese Zeit der Selbstbehauptung wurde wieder mit einem Militärputsch im Jahr 1971 unterbrochen. Fast alle linksgerichteten und in den Organisationen, Gewerkschaften und der Studierendenbewegung aktiven Kurd*innen und Türk*innen wurden verhaftet und außer Gefecht gesetzt. Drei von ihnen erhängte man, um Angst und Schrecken unter der Bevölkerung zu verbreiten.

Entstehung der kurdischen Bewegung
Nach einer Generalamnestie 1974 kamen die Verhafteten frei und diejenigen, die ins Ausland geflohen waren, kehrten wieder heim. Die Jahren 1974 und 1975 waren für die Entstehung der kurdischen Bewegung die goldenen Jahre. Die zum ersten Mal im Jahre 1959 verhafteten kurdischen Studenten, die bei der Gestaltung der 1960er Jahre mitgewirkt haben, begannen, kurdische Parteien im Untergrund zu gründen. Um die politische Arbeit legal zu gestalten, gründeten sie Vereine und brachten Zeitschriften und Zeitungen heraus, um die Massen zu organisieren und die illegale Parteiarbeit zu verschleiern. So entstanden binnen kürzester Zeit über zehn kurdische Parteien. In dieser Zeit haben kurdische Akteur*innen ausschließlich kurdische Organisationen gegründet.

Alle dieser Parteien waren sozialistisch orientiert, und bei der Lösung der Kurdenfrage schaute man auf die Lehre Lenins zur ‚Lösung der Nationalen Frage‘. Drei Lösungsoptionen standen zur Diskussion: Unabhängiger Nationalstaat, Föderation / Konföderation von gleichberechtigten Republiken oder Autonomie in Form regionaler und kultureller Selbstverwaltung innerhalb des bestehenden Staatswesens.

Während viele dieser Parteien als Lösung nur die Unabhängigkeit Kurdistans auf die Fahnen schrieben und für den bewaffneten Kampf eintraten, agierte die Ende 1974 gegründete Sozialistische Partei Kurdistan, bei der ich bis 1996 verschiedene Positionen innehatte, für einen föderativen Vielvölkerstaat der Kurd*innen und Türk*innen.

„Für den bewaffneten Kampf und einen unabhängigen Kurdenstaat“ trat 1978 die Arbeiterpartei Kurdistan (PKK) auf die politische Bühne und verfluchte jede Art legaler Betätigung. Alle anderen kurdischen Parteien galten ab sofort als reformistisch und als Kollaborateure, die bekämpft werden müssten.

Fortwährende Militärputsche
Bis zum nächsten Militärputsch 1980 konnten die kurdischen Parteien weite Teile der kurdischen Gesellschaft organisieren. Die Zunahme der linken Bewegung in der gesamten Türkei, das Erwachen und Verlangen des kurdischen Volkes nach Frieden, Freiheit, Gleichberechtigung und Demokratie an der Südflanke der NATO und in direkter Nachbarschaft zur Sowjetunion veranlassten die türkischen Generäle - mit Billigung der US-Führung und der NATO - erneut zu putschen.

Diesmal wurden nicht nur ein paar Tausend Menschen festgenommen, sondern etwa eine Million. Das Parlament wurde aufgelöst, politische Parteien und fast alle Vereine und legale Organisationen, auch Gewerkschaften, wurden verboten. Über 200 Menschen verloren ihr Leben in den Folterkammern, 50 Aktivist*innen wurden hingerichtet. Allein in einem Monat nach dem Putsch am 12. September 1980 flohen etwa 60.000 kurdische und türkische Aktivist*innen nach Deutschland.

Die dunkelsten Jahre in der Geschichte der kurdischen und türkischen Völker begannen. Türkische und kurdische Linke wurde gänzlich niedergewalzt. Die Festgenommenen mussten lange Zeit unter unmenschlichen Bedingungen hinter Gittern verbringen. Sie wurden bestialisch gefoltert, man zwang sie, ihre Exkremente zu essen. Sie wurden in Gruben eingesperrt, die bis zum Hals mit Fäkalien gefühlt waren. Einige von ihnen begingen nach der Freilassung Selbstmord. Ein älterer frommer Kurde ging nach der Freilassung direkt zum Zahnarzt und ließ alle seine Zähne ziehen und nannte als Grund, „mit diesen Zähnen musste ich Exkremente essen. Mit diesem Mund kann ich meine Kinder nicht küssen“.

Bewaffneter Kampf der PKK
Am 15. August 1984 griff die PKK, die einige Kader vor dem Putsch ins benachbarte Exil schaffte und sie militärisch ausbildete, drei Kasernen des türkischen Militärs an. Diese Nachricht verbreitete sich wie eine frohe Botschaft durch das Land. In der kurdischen Gesellschaft und vor allem in den Herzen der kurdischen Jugend blühte wieder Hoffnung auf.

Der Widerstand in den Gefängnissen wurde noch entschlossener fortgesetzt. Die kurdische Bevölkerung betrachtete die PKK als die Retter in der Not und unterstützte sie mit allen Mitteln.In einer sehr patriarchalischen und frommen Gesellschaft begannen selbst die religiösen Oberhäupter und Stammesführer, ihre Söhne und Töchter zur Guerilla zu entsenden. Andere Kurd*innen dienten als Kuriere oder teilten ihre Lebensmittelvorräte mit den Guerilla. Die Massen folgten den Ruf der PKK und der Waffen, während gleichzeitig alle anderen kurdischen Organisationen und Parteien in die Bedeutungslosigkeit katapultiert wurden.

Die PKK dominiert die kurdische Gesellschaft
Auch jetzt, im Jahre 2020, beherrscht die PKK das politische Geschehen in Türkisch-Kurdistan. Neben der PKK gibt es einige legale und illegale Parteien, die aber aus Parteischildern und Internetseiten bestehen und es nicht mal schaffen, zu Anlässen wie Newroz (Neujahrsfeier) am 21. März ein kleines Restaurant zu füllen. Daneben  gibt es eine legale Bewegung,  die HDP (Demokratische Partei der Völker), die im Schatten der PKK steht und die dritte Kraft im türkischen Parlament mit 5-6 Mio. Wähler*innenstimmen ist.

Nach der Inhaftierung des Vorsitzenden der PKK, Abdullah Öcalan, hat die PKK einen Kurs- und Paradigmenwechsel vorgenommen und sich von  ihrer Parteipolitik verabschiedet. Seit 20 Jahren agiert sie jetzt für Selbstverwaltungen (Autonomie) in allen Teilen Kurdistans. Viele Teile der kurdischen Gesellschaft, auch ihrer Anhänger*innen, fragen sich seit langem, ob für die Erreichung dieses Zieles der bewaffnete Kampf geeignet und nötig wäre.

Die kurdischen Gebiete standen zwischen 1920 und 2002 etwa 60 Jahre lang entweder unter Kriegsrecht oder Ausnahmezustand. Mit der Aufnahme des bewaffneten Kampfes im Jahre 1984 hat der türkische Staat begonnen, in Kurdistan erneut die Politik der verbrannten Erde zu praktizieren, die noch andauert. Jede Generation der Kurd*innen wuchs seit einem Jahrhundert unter Kriegsrecht, Ausnahmezustand oder im Krieg auf. Und fast jede Familie hat Opfer zu beklagen.

Zusammengefasst kann man sagen, dass die 100-jährige Geschichte der Türkei für die Kurd*innen düster und finster war. Die rechtlosen 25 Mio. Kurd*innen dürfen nicht einmal eine private Grundschule betreiben, in der Kurdisch unterrichtet wird, weil der Verlust der kurdischen Identität das oberste Ziel der Herrscher in Ankara ist.

In einem Jahrhundert konnte die kurdische Gesellschaft nur in den Jahren 1974 bis zum Putsch 1980 und 2013 bis 2015 während der Friedensverhandlungen zwischen PKK und AKP-Regierung leicht aufatmen. Sie ist totmüde und möchte ein einfaches und menschenwürdiges Leben führen, egal unter welcher Form der angesprochenen Lösungsoptionen! Lediglich menschlich!

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