Flucht und Migration

Europäische Flüchtlingspolitik am Nullpunkt

von Karl Kopp

Im Klub der Unwilligen gibt es kaum noch einen europäischen Staat, der bereit ist, Flüchtlinge aufzunehmen. Schweden, das jahrelang liberalste Land bei der Flüchtlingsaufnahme, hat eine radikale Kehrtwende eingeleitet. Deutschland, das Hauptaufnahmeland in der EU, befindet sich mittlerweile in einem permanenten Gesetzgebungsverschärfungs-Stakkato. Und jede Nacht brennen Flüchtlingsheime. Nach dem terroristischen Massaker von Paris befindet sich Flüchtlingsschutz im Zangengriff von Festungsbauern, Rassisten, Populisten und IS bzw. Daesh. 2015 gibt es so viele Flüchtlinge wie noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg, aber in Europa gibt es kaum noch politisch Verantwortliche, die um Menschenrechte und Flüchtlingsschutz kämpfen. Die internationale Presse deutet nur noch eine Person aus: Angela Merkel.

Der hartherzige Umgang mit dem kleinen Griechenland im „Schuldendrama“ und die Unwilligkeit des Clubs der 28 EU-Staaten, Schutzsuchende menschlich, würdig und solidarisch aufzunehmen, haben den Staatenverbund in eine Existenzkrise gestürzt. Das Projekt Europa droht zu scheitern, und zwar in dem Sinne, dass die Werte, für die es ursprünglich stand, restlos verschwinden. Oder wie es Bernard-Henri Lévy zusammenfasst: „Nicht nur die Flüchtlinge sind in Gefahr, sondern auch ein Europa, dessen humanistisches Erbe vor unseren eigenen Augen zerbröckelt.“

Der Tod, das Elend und die Entrechtung sind integrale Bestandteile der europäischen Flüchtlingspolitik – von Anfang an. Menschenrechtsverletzungen an den Außengrenzen, das Zurückprügeln von Flüchtlingen an der bulgarischen und griechischen Grenze zur Türkei, die Verletzungen von Flüchtlings- und Kinderrechten, unmenschliche und erniedrigende Behandlung von Schutzsuchenden in EU-finanzierten Haftanstalten und Elendslagern sind in der EU seit Jahren an der Tagesordnung. Diese eklatanten Menschenrechtsverletzungen wurden von den anderen Staaten zum Teil wohlwollend in Kauf genommen, vor allem aber von den EU-Institutionen nicht konsequent geahndet. Es gibt bis heute kein gemeinsames europäisches Asylsystem, obwohl die EU-Staaten seit 1999 daran bauen.

Trotz Bürgerkrieg in Syrien seit März 2011, Massenflucht vor dem IS-Terror im Irak, Libyens Abgleiten in den Bürgerkrieg, der katastrophalen Situation in Afghanistan und Somalia, der repressiven Diktatur in Eritrea etc. dachte Europa, es könnte die Flüchtlingskrise wie schon in der Vergangenheit aussitzen und bei der Flüchtlingsaufnahme Zaungast bleiben. Diese Haltung ist spätestens seit 2015 obsolet. „Erst wenn die Armen die Hallen der Reichen betreten, realisieren die Reichen, dass Armut existiert“, beschrieb im September UN-Flüchtlingshochkommissar Antonio Guterres die Strategie des Verdrängens, die Europas Flüchtlingspolitik durchzieht. 

Der Tod und die Bootsflüchtlinge

Flüchtlinge kommen überwiegend auf dem gefährlichen Seeweg. Bis Ende November 2015 verzeichneten Italien und Griechenland 875.000 Bootsflüchtlinge – im gleichen Zeitraum starben bereits über 3.500 Männer, Frauen und Kinder. Flüchtlinge riskieren ihr Leben, um Schutz im „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“- so die EU-Selbstbezeichnung - zu finden. Flucht und Zugang ist im europäischen Konzept nur unter Lebensgefahr möglich, weil die EU und ihre Mitgliedsstaaten keine legalen und gefahrenfreien Fluchtwege offerieren. Zusätzlich wurden die Landgrenzen in Spanien (2005 ) in Griechenland (2012) und Bulgarien (2013/2014) zur Türkei sukzessive nahezu hermetisch abgeriegelt. Die fatale Bilanz: Mindestens 30.000 Tote verzeichnet das europäische Grenzregime seit dem Jahr 2000.

Wie viele Tote noch?  Europäische Seenotrettung jetzt!“ fordert PRO ASYL seit Sommer 2014 in einem Appell an das Europaparlament. Explizit gefordert werden die Schaffung eines europäischen Seenotrettungsdienstes und legale, gefahrenfreie Wege für Flüchtlinge, um das Sterben an Europas Grenzen zu beenden. Die Forderung nach einem Seenotrettungsdienst zeigt, dass sich Flüchtlingsarbeit dramatisch verändert hat: Es geht um Leben oder Tod! Im Sommer 2015 mussten viele Rettungseinsätze über zivilgesellschaftliches Engagement und über private Rettungsinitiativen sichergestellt werden. Initiativen wie Sea-Watch, Ärzte ohne Grenzen oder Migrant Offshore Aid Station (MOAS), die jeweils mit Rettungsbooten im Einsatz sind, leisten - genauso wie das Alarmphone für Bootsflüchtlinge in Seenot - unschätzbare Hilfe dort, wo die europäischen Staaten ihrer humanitären Verpflichtung nicht nachkommen.

Elend geht auf europäischem Boden weiter

Doch selbst für die Überlebenden der Überfahrt geht das Martyrium nach der Ankunft an den Küsten Europas weiter. Ab Sommer 2015 konnte dieses Flüchtlingsleid in täglichen Liveschaltungen von den griechischen Urlaubsinseln Lesbos und Kos, aus dem griechisch-mazedonischen Grenzgebiet und die gesamte Balkanroute entlang, mitverfolgt werden. Die humanitäre Katastrophe wurde lückenlos dokumentiert: Erschöpfte Menschen, darunter viele Kinder, laufen immer weiter in Richtung Zentrum der EU - obdachlos, ohne medizinische Versorgung, ohne gesicherte Essensversorgung und unter himmelschreienden hygienischen Verhältnissen. Überwiegend private Initiativen mussten und müssen das nackte Überleben der Flüchtlinge entlang der Elendsstrecke sichern.

Während in Deutschland die Debatte über „Obergrenzen“ bei der Flüchtlingsaufnahme tobt, werden auf der Balkanroute seit Mitte November bereits Fakten geschaffen: Grenzen sind geschlossen, Fluchtwege versperrt. Politisch Verantwortliche in Deutschland, Österreich und anderen Staaten im Zentrum und Norden Europas fordern dies seit Wochen. Aktuell ist der Elendskorridor von Griechenland nach Zentraleuropa nur noch für drei Flüchtlingsgruppen passierbar: Schutzsuchende aus Afghanistan, Irak und Syrien. BeobachterInnen gehen davon aus, dass demnächst auch Flüchtlingen aus Afghanistan die Passage verweigert werden könnte. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis dies dann auch Flüchtlingen aus Syrien und dem Irak droht.

Alle Transitstaaten auf dem Balkan eint die Angst, Schutzsuchende könnten sich in ihrem Land „stauen“. Ihr Blick richtet sich dabei vor allem auch nach Berlin. Die Balkanroute ist so lange offen, wie Flüchtlingen eine Weiterreise möglich ist. Wenn Seehofer von einer „Obergrenze“ spricht, meint er auch: Die Balkanroute muss dicht gemacht machen. Das ist das Signal, das er und alle „Obergrenzenvertreter“ von der Kanzlerin erwarten.

Aktuell trifft die neue Grenzpolitik dort vor allem Menschen aus Pakistan, Iran, Sudan, Marokko, Liberia, der Republik Kongo, Somalia, etc. Ihnen wird die Einreise verweigert. Die Ablehnung erfolgt allein auf Basis der Staatszugehörigkeit. Schutzsuchende aus afrikanischen Staaten wie dem Sudan, Eritrea, Kongo oder Somalia werden auf der Balkanroute nach „Augenschein“ aussortiert: Wer „afrikanisch“ aussieht, wird zurückgewiesen. 

92% der insgesamt 715.704 Schutzsuchenden, die bis zum 23.11.2015 in Griechenland ankamen, stammen aus den drei Herkunftsländern Syrien (60%), Afghanistan (24%) und Irak (8 %). Allein in den ersten drei Novemberwochen kamen 114.066 Menschen auf den Ägäis-Inseln an. Das bedeutet: Falls der Fluchtkorridor Balkan nicht bald wieder für alle Flüchtlinge und MigrantInnen geöffnet wird, werden tausende neuankommender Männer, Frauen und Kinder in Griechenland um ihr Überleben kämpfen müssen. Dimitris Christopoulos von der International Federation for Human Rights spricht davon, dass damit nunmehr das „Alptraumszenario für Griechenland“ begonnen habe, weil das Land nun auf Grund des Dominoeffekts der europäischen Grenzschließungen vom Transit- zum Rückhaltestaat werde - ohne dass dort eine Infrastruktur bestehe, um die festsitzenden Flüchtlinge und Migranten zu versorgen.

Hotspots und der schmutzige Deal mit der Türkei

Zwei Ansätze - Hotspots in Griechenland/Italien und ein Aktionsplan mit der Türkei - sollen den Zugang von Schutzsuchenden nach Europa nunmehr drastisch reduzieren und den vermeintlichen Kontrollverlust an den EU-Außengrenzen beseitigen:

Sogenannte Hotspots und ein Umverteilungsmechanismus sollen das in der Realität längst gescheiterte Dublin-Verteilungssystem jetzt ergänzen und künstlich am Leben halten. Tatsächlich aber sind diese Konzepte realitätsfern und menschenrechtlich abzulehnen. So wichtig für die EU eine solidarische Regelung ist, die alle Mitgliedstaaten in die Pflicht nimmt: Ungleichgewichte bei der Flüchtlingsaufnahme müssen durch Finanztransfers zwischen den Mitgliedstaaten ausgeglichen werden. Schutzsuchende zwangsweise umzuverteilen ist nicht akzeptabel. Von den veranschlagten 160.000 Plätzen für die Verteilung von syrischen, irakischen und eritreischen Flüchtlingen aus Griechenland und Italien wurden bislang erst 3.216 geschaffen und bis Ende November 2015 lediglich 159 Umverteilungen durchgeführt.

Mit Hochdruck verhandelt die EU – insbesondere die Bundeskanzlerin - mit der türkischen Regierung über ein Abkommen, dass die Türkei verpflichtet, Flüchtlinge vor der Weiterflucht nach Europa abhalten. Der Regierung Erdogan werden im Gegenzug viel Geld sowie Visaerleichterungen für türkische Staatsbürger angeboten. Es gibt für die EU kaum noch Tabus, wenn der Regionalisierung und Abwehr von Flucht- und Migrationsbewegungen gedient ist. 

Nicht mein Europa

Kanzlerin Merkel hat mit ihrer starken und eindeutigen Botschaft - "Wenn wir uns entschuldigen müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land“, Deutschland in die Verantwortung genommen. Diese Verantwortung muss angesichts der eskalierenden Flüchtlingskrise auch für Europa gelten.

Momentan sind die letzten überzeugten „EuropäerInnen“ Flüchtlinge auf der Flucht nach Europa. Sie sind es, die noch die alten Freiheits- und Menschenrechtsversprechungen der EU ernstnehmen und diese einklagen. Die protestierenden Schutzsuchenden, die mit der Europa-Flagge den „Marsch der Hoffnung“ am 4. September von Budapest angetreten haben, haben die Festung Europa gerockt. Nach der erwirkten Ausreise wurden sie in Österreich und Deutschland freudig empfangen, was wiederum ein wichtiges Signal für Aktivistinnen und Aktivisten in anderen Teilen Europas war. Diese Solidaritätsinitiativen von Kos, Lesbos, Idomeni, etc. quer durch Europa, sind nicht nur Heldinnen und Helden, weil sie zum Teil das Überleben der Schutzsuchenden sichern, sondern weil sie auch die Vorstellung von einer anderen, menschlichen und solidarischen Flüchtlingspolitik repräsentieren.

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Krisen und Kriege